Philipp Hacker-Walton

Das halbe Grundeinkommen


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       Systemkrise – jetzt aber wirklich

       Der Regen des Strukturwandels gehört seit jeher zum Wetter wie die Wartung des Daches zu den Aufgaben des Hausbesitzers. Im Wolkenbruch der Corona-Krise strömt das Wasser jetzt über viele Traufen. Das Dach bedarf einer Neukonstruktion.

      Unsere Arbeitsmarktpolitik stammt „aus dem Land, das lange zögert, eh es untergeht“.

      Das österreichische Arbeitslosenversicherungsgesetz trat im Jahr 1920 in Kraft und wurde 1949 neu erlassen. Trotz unzähliger Novellen sind die grundlegenden Elemente seit 101 Jahren unverändert. Das Arbeitsmarktservicegesetz ist seit 1994 in Kraft. Es enthält viele Elemente der aktiven Arbeitsmarktpolitik, die im Arbeitsmarktförderungsgesetz des Jahres 1968 grundgelegt sind. Das „Fördern“ wurde 1968 politisch-ethisch in den Blick genommen und mit konkreten Instrumenten versehen. Das Prinzip des „Forderns“ gilt seit 1920.

      Die lange Geschichte zeigt: Es ist ein gutes Land und es zögert aus guten Gründen. Aber die Zeit will, dass es langsam untergeht, indem es sich wandelt.

      Seit mehr als zehn Jahren bestimmen die immergleichen Sorgen den gesellschaftlichen Gedankenaustausch über den Arbeitsmarkt: Das lebenslange Normalarbeitsverhältnis ist zur Ausnahme von der einst selbstverständlichen Regel geworden. Befristete Beschäftigung, Zeitarbeit, unfreiwillige Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigung, Scheinselbstständigkeit, Zero-hour-contracts35 und Gig-Economy, in der kleine Aufträge kurzfristig in Mini-Werkverträgen vergeben werden, führen zur Zerfransung der Lebenswelten und zur Erschütterung der sozialen Sicherheit von immer mehr Arbeitskräften.

      Reform der Arbeitsmarktpolitik? Fehlanzeige.

      Auch wo die Höherqualifizierung der Arbeitskräfte, ihre zunehmende Selbstorganisation und Selbstverantwortung – als „Unternehmer ihrer eigenen Arbeitskraft“ – oder die wachsenden Chancen und Notwendigkeiten, in der Erwerbsarbeit kreativ zu sein, als positive Zukunftsbilder „gehypt“ werden,36 flackert die Flamme der Aufbruchsstimmung recht unsicher. Denn die Propheten einer schönen neuen Arbeitswelt wissen selber, dass die Wirklichkeit auf sehr vielen „hochmodernen“ Arbeitsplätzen eher von Gegentendenzen geprägt ist: Standardisierung, Vereinfachung oder Fremdsteuerung durch digitale Maschinen.37 Geht es insgesamt nicht eher in die Richtung einer Zunahme innovationsgetriebener Ausbeutung und Entfremdung?

      Das gilt nicht nur für angelernte Arbeiten. Selbst Absolventen von technischen Fachhochschulstudien, die in Betrieben arbeiten, in denen Hightechprodukte entstehen, erleben immer öfter eine Fallhöhe zwischen ihrem erworbenen Wissen und der Wissensanwendung in der täglichen Praxis, die die berufliche Motivation zu zerschmettern droht. Sie gehören zwar vermutlich zu den ganz wenigen, die annähernd verstehen, wie die Elektronen zielgerichtet zum Tanzen gebracht werden können. Und doch besteht ihre Arbeit über weite Strecken in nicht viel mehr, als den selbstlernenden Steuerungseinheiten regelmäßig per Signaleingabe zu beteuern, dass alles in Ordnung ist, und so zu zeigen, dass der Mensch auch noch da und noch zu etwas da ist.

      Reform der Arbeitsmarktpolitik? Nein, wir wüssten nicht, wo man sonst noch ansetzen könnte als bei der allein rettenden Qualifizierung, vor allem im endlos zukunftsträchtigen IT-Bereich.

      In der Zeit zwischen 2010 und 2019, an deren Ende es auch eine längere Phase hoher Konjunktur gab, ist der Anteil der Langzeitbeschäftigungslosen38 an allen durchschnittlich arbeitslos Vorgemerkten in Österreich von 18 auf knapp 33 Prozent gestiegen.

      Der Wert liegt Ende Februar 2021 bei 34,4 Prozent. Die Zahl der Langzeitbeschäftigungslosen in Österreich, mittlerweile fast 175.000 Menschen, ist jedoch heute um 50.000 höher als vor dem Beginn der Corona-Geschehnisse im März 2020.

      Reform der Arbeitsmarktpolitik? Nein. Es gibt neben der Qualifizierung keine Ideen, außer noch mehr temporäre Lohnsubventionen für Betriebe oder Programme zur Förderung von befristeten – und nur selten zusätzlichen – Beschäftigungsverhältnissen in den Gemeinden.

      Es gehört schon zu den Gemeinplätzen: Nach der industriellen Produktion erfasst die Automatisierung nun zusehends den Bereich der Dienstleistungen und der Kommunikation. Bankangestellte und Versicherungsberater – also Menschen in besonders „kommunikativen“ Berufen – reden nur mehr selten mit ihren Kunden, seit es Online-Formulare zur Beantragung und Software zur Erstellung von Kreditverträgen und Polizzen gibt. Brillante Roboter stehen ante portas und werden von Medizin bis Recht auch schon herzlich willkommen geheißen, weil sie eine bisher undenkbare, kostenpulverisierende Taktung heilsamer Diagnosen und präziser Vertragsentwürfe mitbringen. Damit zerplatzt im Nu die lange gepflegte Hoffnung auf die „Dienstleistungsgesellschaft“ als Job-Ersatzmaschine insbesondere für die oberen Qualifikationsbereiche. Bald drohen bis zu 50 Prozent aller derzeitigen Jobs, zumindest in Teilprozessen, automatisiert zu werden.

      Das alles reichte aber bislang nicht für einen Paradigmenwechsel im System der sozialen Sicherung bei Arbeitslosigkeit. Ist das jetzt mit „Corona“ anders?

      In den ersten zwölf Monaten der Krise ist die Corona-Arbeitsmarktpolitik, abgesehen von der Kurzarbeit, ein großes, aber auch recht schlichtes Mehr-vom-Selben geblieben: Es gibt mehr Geld für die Betroffenen; so erhalten auch die Bezieher der Notstandshilfe befristet Leistungen in der Höhe ihres vorherigen Arbeitslosengelds, und für Arbeitslose gab es im Jahr 2020 zwei sogenannte „Einmalzahlungen“ von jeweils 450 Euro.39

      Zusätzlich gibt es noch viel mehr Qualifizierung und etwas mehr Beschäftigungsförderung: Unter dem Titel einer „Corona-Joboffensive“ werden die Förderbudgets auf einen Schlag um 60 Prozent erhöht, was dazu führt, dass die konventionellen Programme der aktiven Arbeitsmarktpolitik hastig aufgestockt werden. Für fundierte Überlegungen oder gar für innovative Ideenschöpfungen gewährten die Regierenden weder Spielraum noch Zeit.

      Gut möglich also, dass wir gerade erleben, dass sich infolge der Corona-Krise die Sonne der konventionellen Arbeitsmarktpolitik zu einem Roten Riesen aufbläht, noch eine Zeitlang heller strahlt als je zuvor, aber bereits an Masse, sprich an innerer Stimmigkeit und objektiver Wirksamkeit, verliert.

      Abgesehen von den strukturellen Verwerfungen im letzten Jahrzehnt und abgesehen von der diffusen Grundstimmung, dass die Corona-Krise, die noch in die feinsten politischen, ökonomischen und psychologischen Ritzen der Gesellschaft vordringt, wohl oder übel einen „Systemwandel“ erzwingen wird, sehen wir am Arbeitsmarkt insbesondere drei konkrete Herausforderungen, mit denen auch die Systemfrage gestellt ist:

      Haben wir eine Antwort auf den immer absurder werdenden Arbeitskräftemangel in vielen gewerblichen Berufen, die als Erwerbsarbeit gemieden, als Eigenarbeit jedoch mit Stolz ausgeübt werden? Während immer weniger Menschen als Tischler, Maler oder Fliesenleger arbeiten wollen, sind die Baumärkte voll von Hobby-Heimwerkern, die nach Feierabend und am Wochenende ihre Werte schöpfen und ihren Sinn stiften.

      Können wir den vielen jetzt und in den kommenden Jahren arbeitslosen Babyboomern, die zwar aus einer rebellischen Jugendkultur kommen, sich aber als die meritokratischste, auf sozialen und wirtschaftlichen Erfolg geradezu programmierte Generation bislang entpuppt haben, eine Zukunftsperspektive bieten, mit der sie im Hinblick auf ihre soziale Position und ihre Selbstentfaltung – im Großen und Ganzen – einverstanden sind?40

      Gelingt uns hundert Jahre nach Beschluss des Arbeitslosenversicherungsgesetzes in Österreich eine Systemreform, die auf institutionell demütigende und bürokratisch aufwendige Sanktionen verzichtet, ohne tief verankerte und weiterhin lebendige Gerechtigkeitsvorstellungen auszuhebeln?

      Die Anerkennungsbilanz sehr vieler Menschen stimmt nicht mehr. Das ist die dramatische Konstellation. Die Einführung eines „halben“ bedingungslosen Grundeinkommens, eingebettet in die bestehenden Institutionen, könnte Antworten auf unsere drei Fragen – und mehr – in Gang setzen.

      35Verträge zur Arbeit auf Abruf, ohne Regelungen der Arbeitszeit, wie sie insbesondere in Großbritannien grassieren.

      36So der Soziologe und Univ.-Prof. Dr. Jörg Flecker in einem