der Mensch sich gelöst. Zwar geht auch Frevert von einem angeborenen Grundvertrauen des Menschen aus, aber erst seit die Rechte und Interessen der Menschen durch Gesetz, Polizei und den Staat geschützt sind, wurde es leichter, auch Fremden zu vertrauen.6 Erst der moderne Mensch konnte es sich erlauben, Vertrauen auch Unbekannten zu gewähren, ohne ökonomische Risiko‐Nutzen‐Abwägung.7 Das Vertrauen in hochkomplexe Institutionen, das sich in der beginnenden modernen Gesellschaft nicht auf Tradition, sondern auf Funktion stützt, wird zur Pflicht oder genauer: zur Voraussetzung einer modernen Gesellschaft. Dieses Vertrauen ist kein Vertrauen von Mensch zu Mensch, sondern ein Vertrauen in das Funktionieren von Systemen. Was es bedeutet, in einer modernen Gesellschaft Vertrauen zu verlieren, haben wir in dramatischer Weise erlebt, als die Finanzkrise 2008 über uns hereinbrach. Als Erstes ging die Investmentbank Lehman Brothers pleite. Das hatte niemand für möglich gehalten. Ein gewaltiger Dominoeffekt war die Folge. Plötzlich wollten sich die strauchelnden Banken untereinander kein Geld mehr leihen, tiefes Misstrauen machte sich in der Branche wie ein bösartig wucherndes Krebsgeschwür breit, der Geldfluss kam ins Stocken. Genau wie die Banken entzogen auch die Verbraucher ihren Hausbanken das Vertrauen. Politiker verloren ihr Vertrauen in die Seriosität und das Verantwortungsbewusstsein der Bankvorstände. Der damalige Wirtschaftsminister Peer Steinbrück fühlte sich nach eigenen Angaben bei den Verhandlungen mit den Banken oft so, als ob er »hinter die Fichte geführt werden sollte«.8 Das Vertrauen in das Finanzsystem war komplett zusammengebrochen. Eine tiefgehende Vertrauenskrise. In einer modernen Gesellschaft bedeutet das: eine existenzielle Krise. Wer Vertrauen zerstört, zerstört die Hauptschlagader der modernen Gesellschaft. Es kostete vor allem den Steuerzahler Milliarden, inklusive größter Verluste bei Renten und Lebensversicherungen, diesen Vertrauensverlust einigermaßen wieder ins Lot zu bringen und damit den totalen Kollaps zu verhindern. Genau darauf, »too big to fail zu sein«, hatten die Finanzakrobaten gesetzt. Es hatte funktioniert. Bis heute mussten die Banken das geliehene Geld nicht zurückzahlen, wohingegen es für die Bankkunden nach wie vor selbstverständlich ist, ihre Kredite abzubezahlen. Kein Wunder also, dass auf Seiten des Verbrauchers bis heute das Misstrauen geblieben ist, zumal die Krise nach wie vor nicht behoben ist, solange die faulen Kredite im Markt sind. Und das sind sie noch immer.9 So dramatisch die Finanzkrise auch von allen empfunden wurde, so war sie trotz allem nur der Beinahezusammenbruch eines Teilsystems der Gesellschaft, des Finanzsektors, wenn auch mit heftigsten Auswirkungen auf die Wirtschaft. Doch dieses Erlebnis führte eindringlich vor Augen, wie essenziell das Vertrauen in einer modernen Gesellschaft ist, vor allem in der Wirtschaft. Vertrauen ist das Schmiermittel, das dafür sorgt, dass das Getriebe einer Gesellschaft reibungslos funktioniert, vergleichbar mit dem Motorenöl, das den Automotor am Laufen hält.
Die Geburt des Bitcoins
Krisenerfahrungen machen Menschen kreativ und so erhob sich aus den Trümmern der Finanzkrise die erste virtuelle Währung mit dem Namen Bitcoin, was so viel bedeutet wie digitale Münze. Unter dem geheimnisvollen Pseudonym Satoshi Nakamoto, bei dem bis heute nicht entschlüsselt werden konnte, wer dahintersteckt, ob es sich dabei um eine Person oder eine Gruppe handelt, wurde 2008, genau zu Halloween, ein White Paper mit dem Titel »Bitcoin: A Peer‐to‐Peer Electronic Cash System« ins Netz gestellt.10 Ein Zahlungsmittel, das von Computer zu Computer transferiert werden kann, ohne Zwischenschaltung von Banken. Zunächst blieb das brisante Papier unbemerkt. Schließlich waren alle mit der Pleite von Lehman und deren Verwerfungen beschäftigt. Zwei Monate später folgte nach der Bitcoin‐Ankündigung die Software. Wahrscheinlich wäre das Ganze in der breiten Bevölkerung unbemerkt geblieben, wären da nicht die Notenbanken gewesen, die eine Liquidität in den Markt pumpten, bei der nicht nur Laien schwindelig wurde. Die Summen, die täglich, manchmal stündlich, transferiert wurden, hatten derart viele Nullen, dass das Vorstellungsvermögen schlicht überfordert wurde. Ganz offensichtlich handelte es sich um eine Mund‐zu‐Mund‐Beatmung für einen schwer komatösen Patienten. Das sollte die Banken retten und das Finanzsystem irgendwie am Leben halten. Damals wusste keiner, ob das funktioniert. Zweifel gibt es bis heute. Selbst acht Jahre nach der Finanzkrise wurden 2015 von EZB‐Chef Mario Draghi immer noch 60 Milliarden Euro pro Monat in den europäischen Finanzmarkt eingeschleust.11 Bis zum Ende seiner Amtszeit 2019 nahm Draghi den Fuß nicht runter vom Pedal der Niedrigzinsen und veranlasste, dass diese Politik auch nach seinem Abgang unter Christine Lagarde weiterläuft.12 Die Corona‐Krise hat das Problem weiter verschärft. Ein Ende der Niedrigzinspolitik ist in weite Ferne gerückt. Doch Finanzexperten warnen, dass neben den Risiken, die eine solche Politik der Europäischen Zentralbank unter anderem für Sparer, Unternehmer und die staatliche Ausgabenpolitik mit sich bringt,13 auch die faulen Kredite von einst in Höhe von rund 759 Milliarden Euro nach wie vor im Markt sind.14
Renten werden gekürzt
Am amerikanischen Markt lief die Sache nicht anders. Auch dort wurde der Finanzmarkt mit billigem Geld geflutet.15 Einer aber muss die Rechnung am Ende bezahlen. Das ist meistens der Steuerzahler. Genau so kam es. Die Rentenprognosen wurden drastisch zurückgefahren, allein im Jahr 2008 verloren die privaten Pensionsfonds weltweit im Schnitt 28 Prozent an Wert.16 Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wies 2009 eindringlich darauf hin, dass die öffentlichen Rentensysteme das gleiche Los ereilen würde.17 Das ist in der Zwischenzeit geschehen. Das Max‐Planck‐Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik schlussfolgerte aus den Zahlen von 2008‐2017 ein stark erhöhtes Risiko für Altersarmut.18 Doch nicht nur die Rentenprognosen wurden herabgesetzt. Am 4. Juli 2014 beschloss der Bundestag, vermutlich nicht ganz zufällig im Schatten der Fußballweltmeisterschaft, die vom Geschehen ablenkte, dass die Renditen der Lebensversicherungen der Situation auf dem Zinsmarkt ›angepasst‘ werden sollten.19 Im Klartext: Die Kunden der Lebensversicherer bekamen von nun an erheblich weniger Geld, als sie bei Vertragsschluss annehmen durften. Fortan wurden sie nicht mehr zur Hälfte an den Bewertungsreserven bei festverzinslichen Wertpapieren beteiligt.20 Stille Reserven sollen nur noch in dem Maße ausgeschüttet werden, wenn die Garantiezusagen für die restlichen Versicherten ebenfalls gesichert sind.21 Das führte dazu, dass beispielsweise ein Versicherungsnehmer, der dagegen klagte und vor Gericht verlor, am Ende statt 2800 Euro aus den Bewertungsreserven nur noch 150 Euro ausgezahlt bekam.22 Kein Wunder, dass Finanzexperten diese Vorgänge rund um Renten und Lebensversicherungen zugunsten der Verursacher der Finanzkrise als den »größten Raubzug in der Geschichte« bezeichneten.23
Plötzlich wird Bitcoin interessant
Diese Entwicklungen machte das White Paper von Nakamoto hochinteressant. Die Idee, virtuelles Geld zu entwickeln, das von Banken unabhängig ist, nahm Fahrt auf und ließ die Gemeinde der Bitcoin‐Jünger