man viel mehr von ihnen – außer es endet tragisch. Wie bei dem ertrunkenen Jungen Aylan, der an einen türkischen Strand gespült wurde, weil ein Schlauchboot den Weg nach Griechenland nicht geschafft hatte, und dessen Foto um die Welt ging. Flüchtlinge: Sie alle haben ein Gesicht, einen Namen, eine Familie, eine Hoffnung, eine Geschichte!
Zum Beispiel Gervas aus Nigeria. Er wohnt in einem Asylheim Schleswig-Holsteins. Seit 15 Jahren wartet er nun schon auf eine Entscheidung der Behörden. Seit 15 Jahren! Doch mehr als einige Verlängerungen seiner Duldung waren bisher nicht für ihn drin. Und in den Wohngemeinschaften in diesen Heimen geht es während des Wartens auch nicht immer friedlich zu. Manchmal treffen dort schreckliche Einzelschicksale auf Rassismus und Fanatismus. Gervas ist Christ. Er lebt mittendrin in diesem Status der Unsicherheit seinen Glauben an Jesus. Er redet von Hoffnung, vom Ausharren – und dass Jesus ihn niemals verlässt. Muslime wie Atheisten hören ihm gerne zu, denn er hat einen ausgleichenden Charakter. Manchmal kommen sie sogar zur Bibelstunde, die er in seinem Quartier anbietet. Er ist nicht der einzige Christ in dem Heim, es gibt noch ein paar gläubige Frauen mit Kindern. Sonntags gehen sie gemeinsam in den Gottesdienst einer Gemeinde in ihrer Stadt, um von Gottes Wort gestärkt zu werden und Gemeinschaft unter Christen zu erleben. Nachmittags kehren sie wieder zurück in ihre Bleibe, zurück in den schroffen Alltag, in die provisorische Zwischenlösung in der Massenunterkunft. Zu Menschen, die wir Deutsche oft nur als namenlose »Flüchtlinge« in den Nachrichten wahrnehmen.
Gervas erzählt mir von den vielen Verhandlungen, die er in seinen 15 Jahren in Deutschland bereits hat durchstehen müssen: endloses Warten und Hoffen, und immer wieder die gleichen Fragen. Wie in einem Hamsterrad. Mittendrin bezeugt er mutig und ehrlich seinen Glauben. Weshalb er das Warten geduldig erträgt? »Jesus hat einen Plan für mein Leben, und ihm will ich gehorchen«, sagt er und schaut mir dabei tief in die Augen. Es beeindruckt mich, wie viel Mut und Zuversicht Gervas trotz seiner Situation ausstrahlt. Der Nigerianer ist mir ein Vorbild und Glaubensbruder.
Gott baut seine Gemeinde in den Asylunterkünften mit Leuten wie Gervas. Sie sind lebendige Zeugen für Jesus und ein wirklicher Segen. Sie sind wertvoll – jeder Einzelne. Geliebt und bei Jesus mit Namen und Geschichte bekannt. Viele kommen als Christen nach Europa, weil sie in ihren Heimatländern ihres Glaubens wegen verfolgt worden sind. Andere sind durch Kriege entwurzelt und traumatisiert. Manche sind bereits auf den Transitstrecken Christen und Gemeinden begegnet, die ihnen praktische Hilfe angeboten haben und ihnen für die kurze Zeit der Durchreise offen begegneten, voller Anteilnahme. Hier, in ihrem Zufluchtsland, suchen diese Menschen nach ähnlichen Erfahrungen, an denen sie andocken können. In dieser Atmosphäre finden Menschen neue Hoffnung.
Was für ein Wunder, wenn das passiert. Hoffnung mitten in der Not einer unsicheren Zukunft. Was für eine Chance, dass wir Christen in Deutschland dieses Wunder miterleben dürfen. Gemeinsam sind wir eine laute Stimme für unsere neuen Nachbarn aus allen Teilen der Welt: »Hilf dem, der sich selbst nicht helfen kann; schaffe denen Recht, die für sich alleine dastehen« (Sprüche 31,8). Ich bin so dankbar für die vielen Christen, die gerade jetzt ihren Glauben praktisch leben und diesen Einzelnen nachgehen. Es erstaunt mich immer wieder, wie wenig es braucht, um eine Ermutigung zu sein: ein offenes Ohr, ein gemeinsames Gebet, ein Händedruck und eine Umarmung, die signalisiert: »Du bist wertvoll, und wir gehören zusammen. Ich sehe, dass du ein Mensch bist.«
In der Bibel fordert Gott uns auf, Einwanderer zu lieben und ihnen zu dienen. Jeder, egal welcher Hautfarbe und Religion, ist ein Geschöpf Gottes und von ihm geliebt. Er kennt sie alle beim Namen – auch Gervas. Diese Liebe Gottes zu uns Menschen dürfen wir heute leben, darf ich leben! Gott hat durch meinen Kontakt zu Gervas die Tür in meinem Herzen geöffnet. Wir müssen nicht alles selbst organisieren, sondern können auf bestehende Strukturen aufbauen, uns beispielsweise vorhandenen Initiativen zur Flüchtlings- und Migrantenhilfe anschließen. Das spart Zeit, Geld und bündelt Erfahrungen. Neben der praktischen Hilfe ist Gebet für Flüchtlinge und die Regierung ein zentraler Beitrag, den wir als Christen einbringen können. Es tut gut, mit diesem großen Thema nicht alleine zu sein.
Gott sei Dank für alle Christen, die sich für ihre Stadt, ihr Viertel und die Menschen öffnen und bereit sind, neue Wege zu gehen. Durch sie wird Gottes neue Welt in ihrer ganzen Vielfalt sichtbar und erlebbar. So erreicht seine Liebe die Menschen, denn er kennt die Flüchtlinge alle beim Namen.
Hilf dem, der sich selbst nicht helfen kann; schaffe denen Recht, die für sich alleine dastehen. Ja, hilf den Armen und Elenden und sorge dafür, dass sie zu ihrem Recht kommen.
Sprüche 31,8-9
Ein ganz normaler Tag
Regensburg
Sehr genieße ich die Stille Zeit früh am Morgen, bevor der Tag über uns hereinbricht – ein neuer Tag für uns hauptamtliche Mitarbeiter in der Flüchtlings- und Migrantenhilfe in unserem Heimatort in der Nähe von Regensburg. Wir sitzen in unserer kleinen Küche zusammen, der Wasserkocher dampft. Meine Frau und ich frühstücken gemeinsam, und wir beten. Jetzt noch nicht ans Telefon zu gehen, ist alles andere als einfach. Doch uns ist die Begegnung miteinander und im Gebet mit Jesus morgens wichtiger. Diese Minuten sind mitunter die einzigen am Tag, die wirklich nur uns gehören …
Heute ist Mittwoch. Mittwochs steht in unserer Arbeit immer Deutschunterricht mit Einwanderern auf dem Programm. Vorher drucke ich noch schnell die Faltblätter fürs Bibelstudium am Abend aus, dazu wird später kaum mehr die Zeit sein. Meine Frau macht sich derweil bereits in die Asylunterkunft auf, um mit einer jungen Frau aus Syrien Deutsch zu lernen. Das klappt heute leider nicht, weil deren Tochter sich in der Krabbelgruppe erst noch eingewöhnen muss und nicht mitmacht. Die Mama findet nicht die nötige Ruhe für den Unterricht. Trotzdem kommen sie gut miteinander ins Gespräch, und M. lernt zumindest auf diesem Weg ein paar Brocken Deutsch.
Meine Deutschstunde verläuft ähnlich am eigentlichen Plan vorbei. Wir sitzen in großer Runde im Gemeinschaftsraum. Schon während des Unterrichts halten mir viele der Teilnehmer amtliche Schreiben hin. Klar, das ist ihre erste Not: Wie sollen sie dieses Amtsdeutsch auch entschlüsseln? Ich verweise sie erst einmal auf die anschließende Sprechstunde und wir lernen fleißig weiter Vokabeln miteinander.
Bei der Sprechstunde ist meine Frau wieder dabei. Gemeinsam erklären wir dem Araber Faruk, dass er noch zu jung ist, um ein eigenes Bankkonto zu eröffnen. Eigentlich wäre sein Schwager dafür zuständig, doch der will sich gerade von seiner Frau, der Schwester von Faruk, scheiden lassen – eine komplizierte Situation. Wenn Faruks Schwager die Vollmacht über dessen Bankkonto hätte, könnte es passieren, dass er Faruks Geld einfach für sich behält. Nicht gut. Wie könnte man das verhindern? Ein Anruf beim Landratsamt bringt Klärung: Faruk darf auch in Zukunft sein Taschengeld in bar dort abholen, damit es ihm vom Schwager nicht gegen seinen Willen wieder abgenommen wird. Für den Moment zumindest ist das Problem gelöst. Die normale Sprechstunde nimmt ihren Lauf. Ein halbes Dutzend Behördentermine stehen an, bevor ein Asylsuchender in Deutschland ordnungsgemäß registriert ist. Ohne Deutschkenntnisse sind sie dabei dringend auf unsere Hilfe angewiesen. Und manchmal fällt es selbst uns als Deutschen nicht leicht, die verschiedenen Dokumente zu verstehen.
M. ist besorgt, weil er vom Landratsamt kein Geld mehr und vom Jobcenter noch kein Geld bekommt. Er bittet uns um Rat. Gut, dass es in unserem Ort eine Tafel mit kostenlosem Essen gibt. So ist er wenigstens versorgt, bis wir in zwei, drei Tagen der Sache auf den Grund gegangen sind. Ich habe für jeden Asylsuchenden, den wir betreuen, einen Ordner. Nichts ist peinlicher, als mit Plastiktüten voller Briefe bei den Behörden zu erscheinen und dort erst das jeweilige Dokument suchen zu müssen. Wir kommen vorbereitet – das ist immer ein guter erster Schritt. Die Gespräche heute mit den Behörden verlaufen positiv, wir können manches klären.
Mit einer Viertelstunde Verspätung schaffe ich es gerade noch so zum Mittagessen nach Hause. Halbzeit! Danach, am frühen Nachmittag, gehe ich mit Hussein ins Seniorenzentrum, wo er ein Praktikum machen will. Daraufhin lade ich mit Tarek eine Waschmaschine und einen Trockner auf meinen Anhänger; eine Garderobe, zwei ältere Computer und