Hanspeter Künzler

Der Thriller um Michael Jackson


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überhaupt noch war. Am 26. Juni, so hieß es, werde das Buch in den Druck gehen. Am Abend des 25. Juni – ich stand vor der Xenix-Bar – kam die Nachricht, dass Jackson im Sterben liege.

      Ich schlief in der Nacht wenig. Es war ein Schock, zu erkennen, dass es bei der Materie, mit der ich mich ein Vierteljahr intensiv, aber doch halt mit der Distanz eines Musikjournalisten auseinandergesetzt hatte, buchstäblich um Leben und Tod gegangen war. Um sechs Uhr piepste zum ersten Mal das Handy. Damit begann der verrückteste Tag meines Berufslebens. Ich wurde von Radiostudio zu Radiostudio gereicht, schrieb dazwischen einen Nachruf für die Neue Zürcher Zeitung und gab Zeitungsinterviews über das Telefon. Schließlich erreichte mich vom Verlag der Bescheid, dass man den Druckstart verschoben habe, ich hätte zwei Tage Zeit, ein neues Vorwort und ein neues Abschlusskapitel zu schreiben, und übrigens werde die Startauflage von 4000 auf 16.000 Exemplare erhöht. Nach all den Antworten, die ich an dem Tag „live“ improvisieren musste, schwirrte es in meinem Kopf nur so von neuen Erkenntnissen und Thesen. Ich bedauerte es regelrecht, dass das Buch schon geschrieben war. Eine Passage nach der anderen fiel mir ein, die nun länger geworden wäre. An dem Freitagabend gab die famose Zürcher Band Radio Osaka im kleinen Rahmen einer Bar ein Konzert. Es war befreiend wie ein Jacuzzi.

      Mit dem Rampenlicht, in welchem ich mich unvermittelt wiederfand, waren am Anfang vor allem unangenehme Gefühle verbunden. Noch während des Schreibens hatte ich zum ersten Mal so richtig die Gewalt des Internets am eigenen Leib zu spüren bekommen. Natürlich war mir das Phänomen „Fan-Forum“ nicht unvertraut. Aber die Foren, in denen ich mich bis dahin manchmal umgesehen hatte, drehten sich um obskure Künstler, solche, die nie der destruktiven Gewalt der Boulevardmedien ausgesetzt waren, weil sie für diese gar nicht existierten. So beschränkten sich die Beiträge zumeist auf die Diskussion von versteckten Pointen in den Texten und auf ironisch angehauchte Klagegesänge darüber, dass das jeweilige Idol seiner Kunst unter Ausschluss der Öffentlichkeit nachging (und dadurch den Fans erst das schöne Gefühl vermittelte, einer Eliteorganisation anzugehören). Bei Michael Jackson war das völlig anders. Das entdeckte ich, als ich im Rahmen meiner Recherchen anfing, die internationalen MJ-Foren zu durchforsten. Die Akribie, mit der nicht nur eine Handvoll, sondern Abertausende von Fans Neuigkeiten breitschlugen, die Passion, mit der sie Reaktionen, Meinungen und Erfahrungen austauschten, wirkten auf einen Außenstehenden zuerst einmal obsessiv, wenn nicht sogar leicht beängstigend. Aber auch dem Außenstehenden fiel auf, dass die Dialoge oft in einem ungewöhnlich herzlichen und vertrauten Ton geführt wurden. Des Weiteren stellte ich fest, dass dem Adlerauge der Fans kein Wort entging, das irgendwo über Michael publiziert worden war. Dass es allerhand „Threads“ gab, die zur Warnung vor sensationalistischen, verzerrten oder gar bösartigen Publikationen dienten. Das Adlerauge hatte auch meinen Blog-Eintrag entdeckt, wo ich meiner Verärgerung über den O2-Event Luft gemacht hatte. Uff! Dabei hatte ich doch weder Lügen verbreitet noch die üblichen MJ-Vorurteile aufgetischt. Hingegen hatte ich leicht sarkastisch meiner Verwunderung darüber Ausdruck gegeben, dass man die große Rückkehr des King of Pop nach so langer Scheinwerferlichtabstinenz mit einem Auftritt eingeläutet hatte, der die Medien gleich wieder vergraulen würde. Wie bestimmt die meisten Kollegen war ich davon ausgegangen, dass Michael Jackson uns, bitteschön, die Hinter- und Beweggründe seines Comebacks erklären würde. Es war mir noch nicht bewusst, dass sich Michael (im Gegensatz wohl zu seinen Geschäftspartnern) nicht unseretwegen in die sibirische Unwirtlichkeit der Docklands hatte chauffieren lassen, sondern wegen der Fans, und dass zumindest in seiner Perspektive unsere Hauptaufgabe darin bestanden hätte, die Reaktion dieser Fans auf seine Präsenz zu dokumentieren. Und ganz im Gegensatz zu den Medien-Crews gerieten diese durch die Warterei erst richtig in Stimmung.

      Sowieso: Die Kunde von meinen „geschmacklosen“ Blog-Zeilen hatte bereits in ganz Europa die Runde gemacht. Auf Deutsch, Englisch, Italienisch, bestimmt auch Albanisch und Esperanto, konnte man nachlesen, dass gerade wieder so ein „Michael Jackson-Hasser“ daran war, Gift, Galle und Verleumdungen in seinen Computer zu spucken. Tage vor dem Erscheinen des Buches tauchten bei amazon.com die ersten Kapitalverrisse auf. Verrisse, die ohne jegliche Kenntnis der Lektüre verfasst worden sein mussten. Es gab Zeitungen, welche diese praktisch wörtlich wiederholten und gern noch die Zusatzinformation nachlieferten, das ganze Buch sei über das Wochenende in zwei Tagen hingeworfen worden. Ich fühlte mich – ach, wie ironisch beim Thema MJ! – missverstanden und schaltete mich zum ersten Mal in meinem Leben in einige Forumsdiskussionen ein. Und siehe da, ich wurde mit einer Freundlichkeit empfangen, die mich geradezu rührte.

      „Black Or White“ kam im Rekordtempo in die Läden. Ich fand mich unversehens in der Rolle eines Bestsellerautors wieder, was mir einige ungewohnte Erfahrungen bescherte. Einen Auftritt im Frühstücksprogramm des Zweiten Deutschen Fernsehens zum Beispiel, an der Seite eines jovialen österreichischen Starkochs und zweier Männer, die einen Flugzeugabsturz überlebt hatten. Bald kam ich zu einer weiteren, vollkommen neuen Erkenntnis: Journalisten können ausnehmend faul sein. Ich hatte bis dahin nicht annähernd das Ausmaß erfasst, in welchem meine Berufskollegen abschreiben, umschreiben und erfinden. Unglaublich wie viele Kritiken – auch die positiven! – haargenau den gleichen Wortlaut aufwiesen. Andere Schreiber bedienten sich der ersten beiden ernst zu nehmenden Rezensionen, die in der Presse erschienen waren, kopierten sie und stellten ein bisschen die Satzordnung um. Oder sie bedienten sich des Synonym-Wörterbuches und spielten quasi eine Coverversion vom Text aus der Verlagsbroschüre ein.

      Noch etwas anderes passierte. Immer mehr Fans kontaktierten mich, weil sie den Austausch suchten. Einige wollten ihre auf die Konzerte hin getätigten Flug- und Hotelbuchungen nicht verfallen lassen, so dass wir uns in London zu Tee und Kuchen hinsetzen konnten. Anderen begegnete ich während des nächsten Aufenthaltes in der Schweiz. Und ich bekam E-Mails wie die folgende, die hier mit einigen Kürzungen wiedergegeben sei:

      Sehr geehrter Herr Künzler,

      Darf ich mich kurz vorstellen? Mein Name ist Carina, ich werde im Februar 38 Jahre alt, bin leidenschaftliche Mutter von vier Kindern und habe vor neun Jahren, als ich mit dem erstgeborenen Sohn schwanger sein durfte, meinen Traumjob als Hausfrau gefunden. Ich bin ein leidenschaftlicher, stiller Fan von Michael Jackson. Herr Künzler, ich bin überzeugt, dass Sie viele solche Briefe bekommen haben. Eines dürfen Sie mir aber glauben. Das, was ich nun schreibe, ist absolut ehrlich.

      Sie haben in Ihrem Buch erwähnt, dass Michael Jackson nach einem Konzert ab und zu ein Mädchen zu sich in die Garderobe holen ließ, damit es ihm einfach nur zuhören würde. Doch die Mädchen interpretierten dies falsch und fingen an, sich auszuziehen. Wie gerne hätte ich dies getan. Nein, nicht das Ausziehen, sondern das Zuhören. ER WOLLTE NUR REDEN!!!! Begriffen das die Mädchen denn nicht!!!???!!! …

      Wissen Sie, was ich zu Michael Jackson sagen würde, wenn er mich zu sich in die Garderobe holen ließe? „Herr Jackson“, würde ich sagen, „es freut mich sehr, und ich fühle mich zutiefst geehrt, dass ich zu Ihnen in die Garderobe kommen darf. Was verleiht mir die Ehre, Ihr Gast sein zu dürfen?“ Genau so würde ich es formulieren in meinem absolut nicht perfekten Englisch, und ich würde mich erst setzen, wenn er es mir erlaubte. Vielleicht käme von ihm die Frage, wie ich meine Teenagerzeit erlebt hätte, und darauf würde ich dies zur Antwort geben: „Herr Jackson, ich bin zwar in Europa aufgewachsen und ich habe eine weiße Haut. Aber uns verbindet etwas. Ich wurde wegen meines Stotterns vom ersten Kindergartentag an bis zum letzten Schultag gehänselt und ausgestoßen. Dann kam die Pubertät und mit ihr die Akne aus voller Kanone auf meinen Rücken geschossen, so dass ich mich zwischenzeitlich nirgends mehr anlehnen konnte, von oben bis unten eine Pustel nach der anderen und von ganz klein bis fast zum Abszess, so entzündet war mein Rücken. Vor und während den Tagen sprossen sie auch auf meinem Gesicht, zum Glück nur dann. Logischerweise fingen auch die Haare an zu wachsen, auch dort, wo man sie als Frau nicht gern haben möchte, an den Beinen. Ich durfte die Haare nicht entfernen, meine Mutter ließ es nicht zu. Dafür schämte ich mich so, wenn wir Turnen oder Schwimmen hatten in der Schule. Ich wehrte mich nicht. Ich tat einfach, was die Mutter sagte. Andererseits hätte ich das Haar auf dem Kopf so gern lang getragen, aber da meine Eltern der Meinung waren, bei kurzen Haaren würde mein schönes Gesicht besser zur Geltung kommen, musste ich es immer schneiden gehen. Während den letzten Schuljahren wurde rundherum gesoffen, gefixt, gekifft und geraucht, was das Zeug hielt. All dies machte ich nicht mit. So wurde meine Ausgrenzung noch schlimmer