Bernard Sumner

New Order, Joy Division und ich


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gab in meiner Jugend einen Moment, der meiner Meinung nach perfekt illustriert, woher die Musik von Joy Division kam. Es war weniger ein besonderer Vorfall, sondern eher ein Schnappschuss, eine Fotografie, ein Bild vor meinem geistigen Auge, das ich nie wieder vergaß. Ich war ungefähr 16 Jahre alt. Es war eine kalte, traurige Winternacht und ich hing mit ein paar Freunden im Salforder Ortsteil Ordsall ab. Wir hatten keine spezielle Beschäftigung, waren zu alt und ruhelos, um zuhause herumzusitzen, aber noch zu jung, um irgendwo etwas trinken zu gehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Peter Hook mit dabei war, genauso wie ein anderer Freund namens Gresty, aber die Kälte hatte jegliche Unterhaltung erstickt. Über Salford hing in dieser Nacht ein dicker Nebel, die Art von gefrierendem, an Zuckerwatte erinnernden Nebel, dessen Kälte einen bis in die Knochen frösteln lässt. Unseren Atem stießen wir in Schwaden aus, unsere Schultern hatten wir hochgezogen und unsere Hände tief in unsere Taschen gegraben. Aber das, woran ich mich am meisten erinnern kann, ist der Blick die Straße rauf und der Nebel, der den orange scheinenden Straßenlaternen dreckige Heiligenscheine zu verleihen schien. Es gab einem ein Gefühl, als hätte man die Grippe. Das Licht, das diese Natriumdampflampen absonderten, war im besten Falle trübe, aber der Nebel – angereichert mit Schmutz und Industrieabgasen – degradierte sie zu einer Reihe von verschwommenen Kügelchen, aufgefädelt entlang des Straßenrands.

      Die Stille wurde plötzlich vom brüllenden Schrei eines Motors sowie dem Quietschen von Autoreifen durchschnitten. Ein Wagen raste um die Kurve. Seine Scheinwerfer blendeten uns für einen Augenblick und ich hörte ein Mädchen, das in dem Wagen saß, wie am Spieß kreischen. Ich konnte keine Insassen erkennen. Da war nur dieser rohe, angsterfüllte Schrei, während das Auto die Straße hinauf jagte und im Nebel verschwand. Rasch wurde es wieder still und ich dachte mir, dass es doch mehr als das hier geben müsse.

      Wenn man von außen keinerlei Impuls erhält, bleibt einem nichts anderes übrig, als die Inspiration in sich selbst zu suchen – und als ich genau das tat, setzte ich damit eine Kreativität in Gang, die mir schon seit jeher innegewohnt hatte. Es passte zu mir und meinem Leben, etwas Greifbares zu erschaffen, etwas, durch das ich mich ausdrücken konnte. Manche Leute können sich durch eine Leinwand ausdrücken, andere schreiben oder finden ihre Erfüllung im Sport. Für mich beziehungsweise die Menschen, mit denen ich gemeinsam Joy Division kreierte, war Musik das geeignete Ventil. Unser Sound war der Klang der Nacht – kalt, düster und industriell – und entstammte unserem Innersten.

      Manchester war kalt und trostlos am Tag meiner Geburt. Es war der 4. Januar 1956, ein Mittwoch, als ich im North Manchester General Hospital in Crumpsall zur Welt kam. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs war gerade einmal ein Jahrzehnt verstrichen und seine Auswirkungen waren immer noch im ganzen Land spürbar. In vielen Städten waren die Einschlagstellen der Bomben noch gut sichtbar. Die Entbehrungen der Nachkriegsjahre – die Fleischrationierung hatte erst 18 Monate vor meiner Geburt geendet – sowie die Erlebnisse der Generationen davor waren noch in allzu lebhafter Erinnerung. Auch das Schreckgespenst des Krieges hatte sich nicht vollkommen vertreiben lassen – die Suez-Krise köchelte vor sich hin und die Spannungen des Kalten Krieges erreichten nach der Gründung des Warschauer Pakts im Jahr zuvor einen ersten Höhepunkt. Und doch war nicht alles nur schlecht. Es gab Anzeichen dafür, dass eine Veränderung bevorstand. Obwohl ich zugegebenermaßen kein großer Fan der Fünfzigerjahre bin, stand am Tag meiner Niederkunft ausgerechnet Bill Haleys „Rock Around The Clock“ – eine der einflussreichsten Singles des Jahrhunderts – an der Spitze der Charts. Und nur sechs Tage später würde sich Elvis in Nashville in die RCA Studios begeben, um „Heartbreak Hotel“ aufzunehmen.

      Ich habe wohl zu Beginn eines enormen kulturellen Umbruchs das Licht der Welt erblickt und meine Geburt selbst war auch alles andere als gewöhnlich. Meine Mutter, Laura Sumner, litt an Zerebralparese. Sie war hundertprozentig gesund auf die Welt gekommen, aber nach ungefähr drei Tagen stellten sich bei ihr Krämpfe ein, die einen Zustand zur Folge hatten, der meine Mutter für ihr restliches Leben an einen Rollstuhl fesseln sollte. Sie würde nie gehen können und immer große Schwierigkeiten dabei haben, ihre Bewegungen zu kontrollieren. Ihre Verfassung wirkte sich zudem auf ihre Fähigkeit zu sprechen aus.

      Meinen Vater lernte ich nie kennen. Er hatte sich vor meiner Geburt aus dem Staub gemacht und ich weiß bis heute nicht, wer er war. Seltsamerweise hat mir das nie etwas ausgemacht. Auf jeden Fall glaube ich nicht, dass es irgendwelche Auswirkungen auf mich gehabt hat. Wahrscheinlich ist er mittlerweile tot. Zumindest habe ich so ein Gefühl. Aber selbst wenn er noch leben würde, hätte ich kein Interesse an einem Treffen. Ich bin der Meinung, dass man etwas, das man ohnehin nie hatte, nicht unbedingt vermisst.

      Die Alfred Street war eine kleine, gepflasterte Straße mit viktorianischen Reihenhäusern. Sie lag nicht weit von einem Gefängnis namens Strangeways Prison entfernt und auch der Irwell floss ganz in der Nähe. Lower Broughton war eine typische Salforder Arbeiterklasse-Gegend, angepasst an die Bedürfnisse der Industrie. Auch die Straße, die Tony Warren zur Fernsehserie Coronation Street inspirierte, befand sich nur einen Katzensprung entfernt. Die Alfred Street und ihre direkte Nachbarschaft stellten die Arbeitskräfte für eine Reihe von örtlichen Fabriken. Innerhalb eines kurzen Spaziergangs konnte man eine Miniaturversion der gesamten Industrie des englischen Nordwesten bestaunen: Da gab es eine Eisenhütte, eine Kupferhütte, eine Textilfabrik, eine Farbenfabrik, einen Chemiebetrieb, eine Baumwollspinnerei, eine Sägemühle und eine Bronzegießerei. Der Song „Dirty Old Town“, diese eindringliche Ode an die Liebe in einer nordenglischen Industrielandschaft, war zum Beispiel über Lower Broughton geschrieben worden. In der Nähe des Strangeways-Gefängnisses zu wohnen, bot einen zusätzlichen ernüchternden Einblick in die Schattenseiten des Lebens: Ich erinnere mich noch, dass ich als Junge meinen Großvater fragte, wer die Männer seien, die in seltsamen Uniformen und in einer Reihe entlang der Straße Löcher gruben. Er erklärte mir, dass sie Gefängnisinsassen seien, die zur Arbeit in einer Sträflingskolonne bestimmt worden sind.

      Das Haus meiner Großeltern hatte die Nummer elf. Als ich geboren wurde, lebte meine Mutter immer noch bei ihnen, weil sie so viel Pflege benötigte. Unser Haus war sowohl für die Gegend als auch für die damalige Zeit in vielerlei Hinsicht typisch: Im Erdgeschoss befand sich eine Küche, ein Wohnzimmer und ein Empfangszimmer für spezielle Anlässe (in unserem Fall war es das Schlafzimmer meiner Mutter, da sie keine Treppen steigen konnte). Die Toilette befand sich außerhalb des Hauses. Badezimmer hatten wir keines. Mein Schlafzimmer lag über dem Wohnzimmer im ersten Stock, das meiner Großeltern war über dem Empfangszimmer. Ebenso im ersten Stock gab es eine kleine Abstellkammer, die mir als Kind echt unheimlich war. Mein Großvater war während des Zweiten Weltkriegs nämlich ein Luftschutzhelfer gewesen und die Kammer war immer noch randvoll mit Gasmasken, Sandsäcken, Verdunkelungsvorhängen und allen anderen Kriegsutensilien. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass ich Geschichten vom Krieg und den schrecklichen Ereignissen gehört hatte, aber an diesem Zimmer war etwas, das mich stets verängstigte. Also mied ich es.

      Mein Großvater, John Sumner, war ein sehr kluger und interessanter Mann. Für mich war er wie ein Vater. Er war in Salford geboren und aufgewachsen und arbeitete als Ingenieur in der Vickers-Fabrik in Trafford Park. Seinen eigenen Vater hatte er verloren, als er zehn Jahre alt war – mein Urgroßvater war als Teil des Manchester-Regiments in den Ersten Weltkrieg gezogen und 1917 in der dritten Flandernschlacht gefallen.

      Mein Großvater hatte eine Gewohnheit, der er zwei Mal am Tag nachging, einmal am Morgen, bevor er in die Arbeit ging, und einmal am Abend, wenn er wieder heimkam: Er kam bei der Eingangstür herein und marschierte geradewegs durchs Haus und verkündete: „Frische Luft! Ich brauche frische Luft!“ Dann ging er in den Hinterhof und genehmigte sich eine Reihe von tiefen Atemzügen. Das Problem dabei war, dass am Ende unserer Straße die Wheathill-Chemiefabrik giftige Abgase absonderte, es war schrecklich. An manchen Tagen durfte man gar nicht vor die Tür gehen, da sie dort irgendetwas verbrannten. Ich habe heute noch beinahe diesen beißenden Geruch in der Nase, wenn ich daran denke. Doch mein Großvater atmete alles unbekümmert ein, während er frohlockend die gesundheitlichen Vorzüge von frischer Luft pries.

      Meine Großmutter Laura war ein herzensguter und sehr fürsorglicher Mensch. Sie stammte aus einer alten Salforder Familie namens Platt. Schon ihre Mutter – meine Urgroßmutter – hatte Laura geheißen. In meiner Familie galt die Tradition, die Mädchen nach ihren Müttern zu nennen. Deswegen wurde meine