Bernard Sumner

New Order, Joy Division und ich


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Minute – das war zwar unkonventionell, allerdings war das in Ordnung für mich.

      Der Nachteil an Mr. Strapps war, dass er ein absolut schrecklicher Mann war. Sein Name allein klang schon nach Charles Dickens und er hätte definitiv aus den Buchseiten von Harte Zeiten entsprungen sein können. Er unterrichtete die ältesten Kinder an der Grundschule, also wuchs man im Wissen heran, dass es unmöglich sein würde, Mr. Strapps zu entgehen. Einmal züchtigte er mich mit dem Rohrstock: Draußen hatte es geregnet, weswegen wir in der Pause drinnen bleiben mussten. Dort stieß ich versehentlich eine Flasche Milch um. Obwohl es sich ganz klar um einen Unfall handelte, rief er mich ohne Umschweife ans Lehrerpult, wo er mir so hart er konnte mit seinem Stock auf die Hand schlug. Das ist aber nicht die bleibendste Erinnerung, die ich an Mr. Strapps habe, nein, es gab etwas viel Grausameres. Während der Pause regnete es wieder, weshalb wir drinnen gehalten wurden und versuchten, uns so gut wie möglich zu unterhalten. Ich hatte mir einen Gedichtband aus der Schulbibliothek ausgeliehen und las ganz still darin, als ich spürte, wie sich Mr. Strapps von hinten annäherte. Er spähte über meine Schulter. Als er sah, was ich las, sagte er mit knurrender, vor Verachtung nahezu triefender Stimme: „Warum liest du das?“ Ich sah auf und antwortete: „Was meinen Sie damit, Mr. Strapps?“ Er verschränkte seine Arme hinter seinem Rücken, beugte sich vor, damit er mit dem Mund ganz nahe an meinem Ohr sein würde, und höhnte: „Hör zu, da, wo du herkommst, wirst du ohnehin nur als Fabrikarbeiter enden, also macht es überhaupt keinen Sinn für dich, so etwas zu lesen. Also bring das wieder zurück. Sofort.“ Ich war von meiner Mutter, meiner Großmutter und meinem Großvater dazu erzogen worden, Autoritäten Respekt entgegenzubringen. Also dachte ich mir, dass Mr. Strapps als mein Lehrer wohl wüsste, wovon er sprach. Ich brachte das Buch also tatsächlich zurück und hörte auf zu lesen. Was für eine schreckliche Sache, so etwas zu einem Kind zu sagen – vor allem für einen Lehrer.

      Trotz aller entgegengesetzter Bemühungen von Mr. Strapps bestand ich mein „Eleven Plus Exam“, eine Art Abschlussprüfung im letzten Jahr an der Grundschule. Mein Großvater hatte mir als Motivationshilfe ein Fahrrad versprochen, aber der Hauptantrieb war für mich die Angst – und zur Abwechslung mal nicht die vor Mr. Strapps. Nach der Prüfung warteten zwei Optionen auf einen: Wenn man bestand, durfte man an die Salford Grammar School – und wenn man es vergeigte, wurde man an die Lower Broughton Modern geschickt. Einer meiner Cousins hatte mich vor letzterer gewarnt. Wer dorthin musste, so erzählte er mir, würde das erste Jahr ununterbrochen Prügel beziehen. In Wirklichkeit war es vermutlich nicht schlimmer als in der Grundschule, wo wir auch genügend Kids aus üblen Familien hatten. Trotzdem wollte ich alles daran setzen, um auf die Salford Grammar School zu dürfen. Ich büffelte also wie besessen und betete vor den Teilprüfungen, dass ich doch bestehen möge. Allerdings verpasste ich eine dieser Prüfungen, da ich die Masern hatte. Als ich wieder gesund war, musste ich sie alleine nachholen. Ich saß dafür in einem eiskalten Klassenzimmer, während meine Kameraden draußen spielten. Zwar vergingen erst noch ein paar spannungsgeladene Wochen, bis wir die Resultate erfuhren, doch als der Schuldirektor schließlich die Namen derjenigen, die bestanden hatten, vorlas und auch ich dabei war, verspürte ich eine umwerfende Mischung aus Erleichterung und unverfälschter Glückseligkeit. Schon die Prüfung allein fühlte sich wie eine echte Leistung an, da ich überhaupt kein Selbstvertrauen hatte – meine Lehrer hatten ganze Arbeit geleistet. In dem Moment, als mein Name vorgelesen wurde, erhielt ich jedoch einen richtigen Schub. Abgesehen davon hatte ich mir ein neues Fahrrad verdient und würde den ganzen Sommer lang die Straßen rauf und runter schießen, während die Schatten länger wurden und ich mich auf Salford Grammar School freute.

      Ich wusste, dass sich die Dinge nun ändern würden. Allerdings hatte ich absolut keine Ahnung, wie sehr das der Fall sein würde.

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      Komm her und nimm Platz, Bernard. Da gibt es etwas, worüber wir mit dir sprechen möchten.“ Mein Mund wurde trocken. Was hatte ich dieses Mal wieder angestellt?

      Ich hatte das Gefühl, dass da etwas nicht stimmte. In den letzten paar Wochen war es öfters einmal vorgekommen, dass ich ins Wohnzimmer kam und die Menschen darin plötzlich verstummten. Oder ich war in meinem Schlafzimmer und hörte Gemurmel von unten zu mir nach oben dringen. Da waren Großmutter, Großvater, Mum und Jimmy, die sich im Flüsterton miteinander unterhielten. Ich hatte mir deswegen das Gehirn zermartert, konnte mir aber beim besten Willen nicht ausmalen, was ich denn ausgefressen hatte. Es war ganz offensichtlich etwas Ernstes, da es zuvor noch nie so eine lange, dramatische Phase der Ungewissheit gegeben hatte. Ich setzte mich also hin, zupfte nervös an der Naht des Sitzkissens und blickte abwechselnd meine Mutter und Jimmy an. In meinem Magen hatte sich eine vertraute Angst eingenistet. Meine Mutter hielt einen kurzen Augenblick lang inne.

      „Wir werden hier ausziehen, Bernard“, sagte sie. „Du, ich und Jimmy. Wir übersiedeln in eine neue Wohnung in Greengate.“

      Es dauerte einen Moment, bevor ich verstand. Zuerst verspürte ich Erleichterung, da ich wohl doch nicht in Schwierigkeiten steckte, aber schon bald erfasste mich eine Welle massiver Verwirrung. Ich hatte mich bereits auf eine Bestrafung eingestellt, aber das war nun etwas komplett Unvorhergesehenes, und ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte.

      „Es ist eine nette Wohnung“, fuhr sie fort, „in einem der neuen Blocks. Sie hat ein Badezimmer und alles. Es ist gar nicht weit weg. Wir können also jederzeit auf Besuch hierherkommen.“

      Ich sah sie bloß an und wusste nicht, was ich davon halten beziehungsweise dazu sagen sollte.

      „Außerdem …“, sie stockte kurz und sah Jimmy an. „Außerdem wird Jimmy jetzt dein Vater sein. Es ist nun offiziell. Jimmy adoptiert dich. Von jetzt an ist dein Name nicht mehr Bernard Sumner, sondern Bernard Dickin.“

      Ich wusste immer noch nicht, was ich sagen sollte, aber es war klar, dass die Sache nicht zur Diskussion stand. Sie ließen mich im Zimmer zurück und ich ging alles noch einmal durch, um aus dem, was meine Mutter gesagt hatte, schlau zu werden. In eine Wohnung zu ziehen – gut, das war ziemlich aufregend. Ich erinnerte mich daran, wie sehr ich den Ausblick von der Wohnung meiner Urgroßmutter aus genossen hatte. Außerdem würden wir ja wirklich nicht allzu weit von der Alfred Street wohnen. So weit klang es nach einem Abenteuer. Die Ankündigung, dass Jimmy von nun an mein Dad sein und ich seinen Nachnamen annehmen würde, war da schon etwas ganz anderes und schwerer zu begreifen. Immerhin war ich seit dem Tag meiner Geburt ein Sumner gewesen. Es war der Name meiner Mutter. Es war der Name meiner Großeltern, die ich liebte und in deren Haus ich aufgewachsen war. Es war mein Familienname, ein Teil von mir. Es war im Grunde der konkreteste Ausdruck meiner Identität, den ich vorzuweisen hatte. Und trotzdem war ich jetzt – ohne dazu befragt worden zu sein – ein Dickin, und nicht länger ein Sumner. Was Jimmy als neuen Vater betraf, so war ich die elf Jahre zuvor ausgezeichnet ohne einen ausgekommen. Nun wurde mir mehr oder weniger einer aufgedrängt. Ich dachte an Großvater, jenen Mann, der für mich immer wie ein Vater gewesen war. Nicht nur wurde er nun seiner bisherigen Rolle beraubt, auch sein Name wurde ausgelöscht.

      Ich war entschlossen, dies nicht zuzulassen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr verabscheute ich es, vor solch vollendete Tatsachen gestellt worden zu sein. Ich gab Jimmy keine Schuld daran. Er konnte ja nichts dafür. Mein Verhältnis zu ihm war in Ordnung. Aber er war zu spät in mein Leben getreten, um irgendeine Vaterrolle für mich übernehmen zu können. Als Mensch war er okay. Er war still. Die Dinge, die mir an ihm am besten in Erinnerung geblieben sind, waren, dass er einerseits eine sehr kräftige rechte Hand hatte und dass er andererseits ein sehr guter Schachspieler war. Auch sein Leben war sehr hart. Obwohl er selbst mit einem ziemlich schweren Handicap zurechtkommen musste, arbeitete er als Reinigungskraft in einer Baumwollspinnerei, was einigermaßen beschissen gewesen sein muss. Ich respektierte Jimmy, aber ich fühlte keinerlei emotionale Verbindung zu ihm, nicht einmal irgendeine Verbindung. Wir unterhielten uns nicht mal besonders häufig.

      Ich muss Jimmy allerdings zugutehalten, dass er sich echt gut um meine Mutter kümmerte, obwohl ich mich auch an lautstarke Auseinandersetzungen erinnere, nachdem sie erst einmal verheiratet waren. Meine Mutter sprang mit Jimmy um, wie sie das auch mit mir tat – auch ihn ließ sie nicht gerne vor die Türe. Wenn