Bernard Sumner

New Order, Joy Division und ich


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und wir hörten zu. Ich verstand zwar nicht wirklich, aber ich denke oft darüber nach, ob sich das unterbewusst auf mich auswirkte. Jedoch war die klassische Musik damals zu raffiniert, zu erwachsen für einen Salforder Jungen von der Straße. Ich sage nicht, dass es schlecht war, dass ich es nicht gemocht hätte, aber ich wollte etwas Gefährlicheres hören, etwa die Stones. Zuerst hörst du die Stones, dann landest du bei etwas anderem und schließlich führt dich dein Weg zurück zur klassischen Musik. Aber in diesem Alter waren wir einfach noch zu jung, um sie schätzen zu wissen.

      Dem North Salford Youth Club habe ich ebenfalls große musikalische Einflüsse zu verdanken. Die Jugendclubs der damaligen Zeit waren ziemlich gut und die Leute waren cool. Klarerweise bestand die Hauptattraktion darin, dass man dort Mädchen treffen und abhängen konnte. Es gab auch eine Disco, wo im Keller Motown, Soul und Ska für all die Skinheads, Suedeheads und Scooter Boys, zu denen auch ich zählte, gespielt wurde. (Ich hatte einen Motorroller, seit ich 16 war. Es war eine GP225 Lambretta, ein richtig cooler Flitzer. Ich trug auch einen Crombie-Mantel, ein rotes Seidenhalstuch mit einem Rautenmuster, Arbeitshosen, das ganze Zeug eben.) Von der Disco begab man sich im Anschluss die Treppe hoch, wo sich Leute mit langen Haaren versammelt hatten, um Led Zeppelin, Santana, die Stones und vielleicht auch Black Sabbath zu hören. Sie hatten dort einen Schallplattenspieler mit Stereo-Lautsprechern, was uns schwer beeindruckte. „Verdammte Scheiße“, riefen wir, „der Sound beginnt hier drüben und bewegt sich dann hinüber zur anderen Lautsprecherbox!“ Man durfte seine eigenen Platten mitnehmen und alle saßen dann herum und hörten zu – eine Gruppe von Gleichgesinnten, die eine ähnliche Musik bevorzugten. Ich lernte dort viel über Musik. Als Motorroller-Jungs hätten wir vorrangig Soul hören müssen, uns gefiel aber auch Rockmusik. Den halben Abend verbrachten wir in der Disco und dann gingen wir nach oben, wo wir komplett andere Musik zu hören bekamen.

      Als ich ungefähr 15 war, hörte ich „Ride a White Swan“ von T. Rex im Radio. Ich machte mich dann sofort auf, die Platte zu kaufen. Der Gitarrensound, die Melodie, alles – ich liebte diesen Track. Als ich wieder zuhause war, legte ich die Scheibe auf den Schallplattenspieler, den ich zu Weihnachten bekommen hatte, und es klang umwerfend. Nach drei Minuten war alles vorbei. Ich dachte mir: „Was tue ich jetzt? Okay, höre ich mir eben die B-Seite an.“ Die gefiel mir aber nicht so, weswegen ich mir immer wieder „Ride a White Swan“ reinzog. Nach einer Weile reichte mir das aber nicht mehr aus und ich begab mich auf die Suche nach dem Album, das jene Musik enthielt, die meinen Geschmack zum ersten Mal genau treffen sollte.

      Es mag vielleicht eine Überraschung für euch sein, aber das erste Musikstück, das mich richtig aus den Schuhen warf, jenes, das mich vielleicht am meisten beeinflusste, den Weg zu wählen, den ich gegangen bin, war keiner der Songs, die ich in der Disco unten im Jugendclub beziehungsweise oben bei den Rockfans hörte. Es lief auch nicht in einer unserer Musiksessions mit dem Schallplattenspieler des Geografielehrers und auch nicht im Radio. Ich war im Kino, als ich es zum ersten Mal hörte.

      Ich hatte gerade den Spaghetti-Western Zwei glorreiche Halunken gesehen. Oder gehört. Ich war von klein auf ein visueller Typ gewesen und liebte es, wie dieser Film rüberkam: Er war auf eine besondere Weise gefilmt worden, mit kolossalen Großaufnahmen. Ich liebte es auch, dass nicht ganz klar war, wer nun gut und wer böse war, weil, nun ja, jeder böse war. Da gab es keinen Helden – nur Halunken. Bis dahin hatte es nur abgeschmackte John-Wayne-Filme gegeben, in denen man die Bösewichte an der Farbe ihrer Hüte erkennen konnte. Dann tauchte plötzlich Sergio Leone auf und machte subversive Filme, die alle Regeln brachen. Sie waren düsterer als alles Dagewesene. Man konnte den Schweiß und den Schmutz sehen, ja, beinahe die sengende Sonne spüren. Die Dialoge waren eher spärlich und über weite Strecken wurde geschwiegen. Leones Western waren auch auf seltsame Weise komisch. Aber was mich wirklich begeisterte, war die Filmmusik von Ennio Morricone. Dieses einfache, gepfiffene Thema, dieser scharfe Gitarrensound, diese Coyoten-Schreie, die Echo-Effekte, die großen Abstände zwischen den Noten – dies alles passte perfekt zu den kargen Drehorten des Films. Es war einfach unglaublich atmosphärisch, und ich liebte das. Ich kam aus dem Kino und machte mich umgehend auf die Jagd nach dem Soundtrack-Album. Natürlich gab es damals kein Internet, weshalb es eine Weile dauerte, es aufzutreiben, aber als ich es schließlich – so vermute ich – im HMV in Manchester fand, hörte ich es mir wieder und wieder an. Ich besorgte mir außerdem die Soundtracks zu Für eine Handvoll Dollar beziehungsweise Für ein paar Dollar mehr. Es handelte sich dabei um eine einzige LP, deren beiden Seiten jeweils einen Film abdeckten. Ich konnte gar nicht genug kriegen von dieser unglaublichen Musik. Es war, als wäre bei mir ein Schalter umgelegt worden. Zuerst war ich noch nicht sonderlich von Musik angetan gewesen – und auf einmal war ich massiv daran interessiert.

      Es sollte sich herausstellen, dass Hooky ebenso musikbegeistert war. Üblicherweise hielten wir uns bei mir oder bei ihm zuhause auf, um Platten zu hören. Auch Grestys Haus war ein beliebter Treffpunkt, da sein Dad beim Süßwarenhersteller Cadbury’s angestellt war und wir bei ihm Kuchen in rauen Mengen naschen konnten. Wir fingen außerdem an, gemeinsam auf meinem Scooter in den Jugendclub zu fahren – ich am Steuer und Hooky hinten. Ich weiß noch, wie wir einmal versuchten, Mädchen, die vor dem Club standen und darauf hofften, eingelassen zu werden, zu beeindrucken. Hooky kletterte wie immer auf den Sozius. Ich ließ wie sonst auch den Motor aufheulen – wir hatten vor, wie Peter Fonda und Dennis Hopper in Easy Rider den grünen Hügel vor dem Club hinaufzujagen. Aber das Hinterrad begann sich zu drehen und der Scooter schoss unter uns hindurch, und wir landeten schließlich in einer großen Schlammpfütze. Genau vor diesen Mädchen. Autsch.

      Ich schäme mich dafür, dass ein paar von uns auch hin und wieder nach Manchester fuhren, um Ladendiebstähle zu begehen, und zwar in erster Linie aus Langeweile und hauptsächlich wegen der Jeans. Wir konnten uns weder Levi’s noch Wranglers leisten, wollten aber dennoch cool aussehen, wenn wir im Jugendclub einliefen. Deshalb klauten wir sie gelegentlich. Die Herausforderung an sich spielte ebenso eine Rolle. Lange sollte das aber nicht anhalten. Einmal beteiligte ich mich bei einem Wettkampf, bei dem es darum ging, Kugelschreiber mitgehen zu lassen, und wurde prompt von einem Typen erwischt, der meinte, dass er die Geschäftsführung verständigen würde, wenn ich den Stift nicht zurücklegte. Danach klaute ich nie wieder. Meine Mutter hätte mich wohl gekillt. Die möglichen Konsequenzen wären das Risiko nicht wert gewesen.

      Abgesehen von Girls und Klamotten drehte sich in meinen mittleren Teenagerjahren aber alles um Musik. Es war, als wäre eine Box geöffnet worden, aus der nun dieses sehr starke Licht entwich. Hooky und ich waren geradezu fanatisch. Ich weiß nicht, ob es damit zu tun hatte, dass uns in der Schule alles langweilte. Oder ob der Grund darin lag, dass es zu dieser speziellen Zeit gerade besonders viel gute Musik gab. Egal, unsere Faszination grenzte schon an Besessenheit.

      Ein großes Ereignis während meiner Schulzeit war der Tod von Jimi Hendrix im Jahr 1970. Ich mochte Gitarrenmusik, konnte aber in Jimis Material nur wenige Melodien finden. Mein Banknachbar war ein eher stiller Typ. Ich sagte zu ihm: „Du magst doch Jimi Hendrix, oder? Er ist gerade gestorben, ja?“ Er antwortete: „Ja, das stimmt.“ Ich meinte darauf: „Ich habe versucht, mich in sein Zeug einzuhören, aber ich finde keine Melodien. Was ist so besonders an ihm?“ Er drehte sich zu mir um und sah mir in die Augen. Dann sagte er ganz ruhig: „Ich mag ihn einfach. Okay?“ Ich hielt das für eine sonderbare Reaktion und sie machte mich nur noch neugieriger. Polydor hatte nach seinem Tod eine EP mit „Voodoo Chile“, „All Along the Watchtower“ und „Hey Joe“ veröffentlicht. Ich legte die Scheibe auf den Plattenteller, hörte zu und die ersten paar Male kam es mir wie Krach vor. Zuerst konnte ich mir einfach keinen Reim darauf machen, was die Leute darin hörten. Doch dann, ganz plötzlich und mit einem Schlag, erschloss es sich mir. Es hatte ein Weilchen gedauert. Ich bin dem Jungen, der mir damals in der Schule keine Erklärung geben wollte, heute dankbar, weil ich mich stattdessen selbst dahinterklemmte, bis es schließlich „klick“ bei mir machte.

      Die frühen Fleetwood Mac, vor allem Peter Greens Songwriting und sein Gitarrenspiel, mochte ich ebenfalls. Weniger das bluesige Zeug. Es verwirrte mich immer, wenn britische Bands sich endlos über den Blues ausließen. Ich mochte keine Nummern, die nach Blues klangen – ich mochte es, wenn sie nach einer Band aus England klangen und nicht versuchten, eine Blues-Combo aus Amerika zu sein. So wie ein Album der Rolling Stones mit einem achteckigen Plattencover. Es hieß Through the Past, Darkly und