Bernard Sumner

New Order, Joy Division und ich


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toll wie ein lokaler Park. Ich liebte es jedenfalls, mich dort herumzutreiben. Es wurde sogar ab und zu ein Rummel veranstaltet. In den Siebzigerjahren wurde dort schließlich ein geregelter Abenteuerspielplatz eingerichtet, aber für die dreißig Jahre nach dem Krieg war es einfach nur eine Schutthalde, auf denen kleine Jungs sich austoben und ihre Fantasien ausleben konnten.

      Bonfire Night war jedenfalls die größte Nacht auf dem Gelände und schon in den Wochen davor zogen wir von Haus zu Haus, um nach Holz zu fragen. Dann errichteten wir einen riesigen Scheiterhaufen. Außerdem hatten wir eine Aussichtsplattform, von der aus wir das Holz bewachen konnten, da die Kids aus den benachbarten Vierteln immer versuchten, uns unser Holz für ihre eigenen Feuer zu klauen. Wir postierten also eine Wache in diesem Ausguck und wenn eine solche Gang, die es auf unser Holz abgesehen hatte, im Anmarsch war, alarmierte diese unsere Truppe. Dann kam es zu einer offenen Schlacht, bei der einem aus allen Richtungen Steine um die Ohren flogen. Das hört sich gefährlich an, war aber echt ein großer Spaß. Ich liebte es.

      Ich muss zugeben, dass wir auch Sachen klauten – Dinge wie etwa Drähte von Dächern. Darauf bin ich nicht gerade stolz. Es gab da einen zwielichtigen Altmetallhändler, der in der Gegend als „Keine Namen, keine Fragen“ bekannt war. Alle Kids stahlen also Dinge aus Metall, um sie ihm zu verscherbeln, da er – wie sein Spitzname verriet – sich nicht darum scherte, woher das Zeug stammte. Wir hielten unsere Augen ständig offen nach solchen Sachen und als die Gemeinde in der Nähe ein paar Häuser niederriss, eröffnete sich für uns aufstrebende Unternehmer eine gänzlich neue Erwerbsquelle. Ich erinnere mich da etwa an eine spezielle Bruchbude, in der wir ein altes Klavier fanden. Für einen Musiker ist das eine schlimme Sache, aber ich muss gestehen, dass ich mich stundenlang mit einer Festhaltezange und einer Drahtschere an diesem Musikinstrument verging. Ich schnitt alle Saiten heraus, wobei ich mir mehrmals fast selbst des Augenlichts beraubt hätte. Im Anschluss trug ich sie dann zu unserem dubiosen Geschäftspartner, dem Altmetallhändler. Als wir bei ihm einmarschierten, warf er einen Blick auf unsere Beute und sagte: „Tut mir leid, Jungs, aber das ist bloß Kupferblech. Dafür kann ich euch nichts geben.“

      Zu dieser Zeit hing ich mit einem Typen namens Barrie Benson ab. Er war – und ist es immer noch – mein Kumpel. Seine Großmutter wohnte im Haus nebenan in der Alfred Street. Barrie selbst war in der Victor Street zuhause. Er war so ziemlich der Platzhirsch in unserer Nachbarschaft, aber er schien mich zu mögen, weswegen wir in der Regel gut miteinander auskamen. Einmal hatten wir ein Auge auf eine riesige Rolle mit Telefondraht geworfen. Er war etwa einen Zoll dick und lag vor einem örtlichen Elektrounternehmen. Wir gingen davon aus, dass uns das ein Vermögen einbringen würde. Als sich uns schließlich die passende Gelegenheit bot, schafften Barrie und ich es, das Ding in einen Sack zu bugsieren und auf dem Sattel meines Fahrrads zu balancieren. Wir manövrierten unser Diebesgut durch den Peel Park und waren ziemlich stolz auf uns. Jedoch muss uns irgendjemand beobachtet und die Polizei verständigt haben. Als wir gerade über eine Brücke gingen, blieb auf der anderen Seite ein Polizeiauto mit quietschenden Reifen stehen, um uns mit laufender Sirene und Blaulicht in Empfang zu nehmen. Wir schalteten schnell und entledigten uns des Sacks. Ich sprang hinten auf das Fahrrad auf, Barrie vorne. Wir ergriffen prompt die Flucht und radelten davon. Sobald wir uns sicher waren, dass die Luft rein war, gingen wir zurück und sahen, dass die Polizisten den Draht einfach über einen Zaun geworfen hatten. Also luden wir ihn wieder auf das Rad, um uns davonzumachen. Eifrig waren wir zwar, aber leider alles andere als Experten in Bezug auf Altmetall, denn der Händler hatte auch an diesem Draht kein Interesse, weshalb wir wieder abzogen und die Rolle schließlich in einer Bonfire Night ins Feuer warfen. Neben dem Hauptfeuer hatten wir immer auch kleinere Lagerfeuer, in denen wir Kartoffeln backten, damit wir was zum Essen hatten, während wir das Feuerwerk und die überwältigende Flamme, für die wir in den vorangegangenen Wochen Brennmaterial zusammengetragen und vor Plünderern verteidigt hatten, in vollen Zügen genossen. An diesem speziellen Abend legten wir unsere Kartoffeln in dieses Feuer, in dem auch der Kupferdraht mitsamt der Kunststoffverkleidung verbrannte – das ganze giftige Zeug brutzelte direkt neben unserem Abendessen.

      Als sich die Gemeinde anschickte, die besagten alten Gebäude dem Erdboden gleichzumachen, entwickelte sich noch ein weiteres eigentümliches Geschäft. Hinter den Kaminen waren nämlich mitunter alte Säbel versteckt, die angeblich aus dem Krimkrieg stammten. Die Soldaten, so hieß es, waren aus den Kampfhandlungen zurückgekehrt und hatten ihre Säbel sowie andere Waffen im Rauchfang verborgen, um sie zu schützen. Abgesehen von den Abrisshäusern war es in den Sechzigern auch Mode, die originalen, gefliesten viktorianischen Feuerstellen durch abscheuliche Elektrofeuer mit glühenden Plastikkohlen zu ersetzen. Wenn jemand also die alte Feuerstelle herausriss, fand er mitunter diese Schwerter, Säbel und Dolche – allen nur denkbaren Ramsch – aus den diversen Kriegen des 19. Jahrhunderts. So entstand ein blühender Schwarzmarkt für antike Waffen. Ich erinnere mich noch, dass ich einmal zur falschen Zeit am falschen Ort war und von einer Horde von säbelschwingenden Kids gejagt wurde. Das war natürlich nicht ungefährlich, aber wenn man ein Kind ist, hält man sich für unsterblich. Manche der Dinge, auf die wir uns damals einließen, waren rückblickend ziemlich haarsträubend, aber sie bereiteten uns einfach ein so großes Vergnügen, dass uns die Gefahr gar nicht bewusst war.

      Ich denke, das einzige wirklich Gefährliche an meiner Kindheit waren die Besuche beim Zahnarzt. Ich muss noch sehr jung gewesen sein, weil es – so glaube ich – das erste Mal war, dass ich bei ihm war. Es stellte sich heraus, dass ich ganze sieben Füllungen brauchte. Mein Großvater hatte mir jeden Abend einen Schokoriegel mitgebracht. Schokolade nach Ende der Rationierungsphase so frei zur Verfügung zu haben, muss für diese Generation unbeschreiblich gewesen sein. Mein Großvater kaufte das Zeug jedenfalls haufenweise – und ich half ihm dabei, das Zeug wegzuputzen, wovon mein Zahnschmelz ordentlich in Mitleidenschaft gezogen wurde. Ich verstand nicht genau, was eine Füllung war, also hatte ich keinerlei Bedenken bezüglich dessen, was mir bevorstand, und sah der Behandlung einigermaßen fröhlich entgegen – ich freute mich geradezu darauf. Man betäubte mich mit Gas, und das Nächste, woran ich mich erinnern kann, war, dass ich aufwachte, als der Zahnarzt und seine Assistentin mich mit dem Kopf unter einen Wasserhahn über einem Becken hielten und mich fest ins Gesicht schlugen. Ich sah, dass Blut unter mir in den Abguss floss. Ich verlangte lautstark, dass man mir erkläre, was da vor sich ginge. Sie sagten, dass ich geschrien hätte und sie mich nicht besänftigen hätten können. Irgendetwas musste wohl ordentlich schiefgelaufen sein, da beide bleich und entsetzt aussahen. Sobald ich mich wieder ein wenig eingekriegt hatte, fuhr mich der Zahnarzt nachhause. Ich weiß noch, dass er einen Jaguar E-Type hatte. Die nächsten Tage fühlte ich mich sehr schlecht und ständig rann mir Blut aus dem Mund. Anscheinend hatten sie mir zu viel Gas verabreicht oder die Mischung hatte nicht gestimmt, woraufhin ich beinahe abgekratzt wäre.

      Zu dieser Zeit war ich ein Schüler an der Grundschule St. Clement’s, die nur einen Steinwurf von unserem Haus entfernt war. Dennoch gelang es mir meistens, mit Verspätung zum Unterricht zu erscheinen. Ich bin nämlich einer dieser Menschen, die immer und zu allem zu spät kommen. Einer meiner Lehrer meinte sogar: „Bernard Sumner, du wirst dich sogar zu deiner eigenen Beerdigung verspäten.“ Ich war kein sonderlich guter Schüler, und die Art, wie ich in der Grundschule unterrichtet wurde, hatte daran einen großen Anteil. Zum Beispiel tat ich mir schwer mit Mathe, was zur Folge hatte, dass ich mich auf einen Stuhl stellen musste, wo ich dann mit Fragen bombardiert wurde oder die Neunerreihe oder so aufsagen musste. Wenn man das dann nicht auf die Reihe brachte, machten sich die Lehrer vor der Klasse über einen lustig. Was schulische Motivierungskunst angeht, muss ich sagen, dass ich das für eine ziemlich bizarre Philosophie halte.

      Die Grundschule war auf jeden Fall eine eher schauderhafte Erfahrung. Dort wurde schon früh jegliches Selbstvertrauen, wenn ich es besessen hatte, ausgelöscht. Der Unterricht basierte auf Angst, aber dadurch wurde ich nicht etwa abgehärtet oder zum Lernen bewogen, nein, ich wurde dadurch nur fortlaufend nervöser. Ich verfing mich in einer Abwärtsspirale, aus der ich mich nie mehr richtig befreien konnte. Zumindest nicht während meiner Zeit an der Schule.

      Nur zwei Dinge stachen für mich positiv an der St. Clement’s hervor: Einerseits lernte ich lesen und andererseits liebte ich alles, was mit Kunst zu tun hatte, besonders das Modellieren mit Ton. Die Schule hatte einen eigenen Brennofen und ich war nie glücklicher als bei dieser Arbeit. Wir hatten einen Lehrer namens Mr. Strapps,