Bernard Sumner

New Order, Joy Division und ich


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Ganzes geschehen war. Sobald die letzten Bewohner umgezogen waren und all die Historie, die Menschen, die Familien und ihre Eigenheime, der Stolz und die Würde – einfach alles – verschwunden waren, übernahmen die Mäuse das Kommando.

      Ich war gerade einmal 18 Jahre alt und alles, was ich gekannt hatte, war vernichtet worden. Dies miterleben zu müssen, hatte große psychologische Auswirkungen auf mich. Es machte mich emotional ein wenig härter. Anders hätte ich mit der Situation nicht umgehen können. Ich stelle mir das ein wenig so vor, als wäre man ein Arzt – die müssen sich auch ein dickes Fell zulegen, weil sie so viele schreckliche Dinge sehen und den Menschen oft schlimme Nachrichten mitteilen müssen. Bekommt man das nicht auf die Reihe, wird man untergehen. Dieser Entscheidung musste auch ich mich stellen, während ich dabei zusehen musste, wie unsere Welt zerbröselte.

      Alles war verschwunden. Sogar die Schule war abgerissen worden. Es war fast so, als würde jemand alles daran setzen, meine Erinnerungen auszulöschen. Alles Greifbare, all die Dinge, die man berühren, fühlen, sogar riechen konnte – sie waren weg und würden nie mehr zurückkommen.

      Mein Übergang ins Erwachsenenalter war nicht gerade sanft. Ich wurde aus der Kindheit gerissen, noch bevor ich dazu bereit war. Das gefiel mir ganz und gar nicht. Plötzlich war alles so unglaublich ernst und ich musste schnell erwachsen werden. Es war wohl kein Zufall, dass ich mich noch mehr in die Musik vertiefte. Was sich zu jener Zeit abspielte, hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die Musik, die ich machen sollte. Ich denke, dass man den Untergang einer Gemeinde und das Ende meiner Adoleszenz in meinen Beiträgen zur Musik von Joy Division deutlich heraushören kann.

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      Ich schloss die Schule 1972 mit meinen O-Levels ab. Im Abschlusszeugnis hatte ich ein Sehr gut in Kunsterziehung. Ich hätte im Anschluss auch gerne irgendetwas mit bildender Kunst gemacht, weil mir das von allem am besten gefiel. Natürlich war ich ein Musikfreak, aber ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht begonnen, selbst welche zu machen. Zusätzlich zu meinem Schallplattenspieler hatte mir meine Mutter noch eine E-Gitarre gekauft. Ich weiß gar nicht, warum ich mir eine gewünscht hatte, vermutlich, weil ich den Sound einer Gitarre schon immer geliebt hatte und der nächste logische Schritt einfach darin bestand, sich selbst eine zuzulegen. Infolgedessen unternahm ich ein paar obligatorische Versuche, sie zu spielen. Um ehrlich zu sein, fand ich es einigermaßen sinnlos. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Deswegen verstaubte das Ding bald in einer Ecke meines Zimmers. Das war Sackgasse Nummer eins.

      Nachdem ich mit 16 mit der Schule fertig war, sollte also Kunst die Richtung sein, in die ich gehen wollte. Der Besuch beim Karriereberater an der Salford Grammar School war ein Fehlschlag. Ich suchte ihn auf und erklärte, dass ich etwas mit Kunst machen wolle. Er dachte einen Moment nach und teilte mir dann mit, dass es zwei Jobs für mich geben würde. Der eine wäre bei einem Frisör, beim anderen würde ich die weißen Ränder von Fotos wegschneiden. Und das war Sackgasse Nummer zwei.

      Es sah so aus, als würde eine Laufbahn in einem kreativen Beruf nicht zur Debatte stehen. Ich stand nämlich bereits unter Druck vonseiten meiner Mutter, einen Job zu finden, damit ich etwas Geld zum Haushalt beitragen könnte. Nach meinem Schulabschluss hatte ich mich beim Bolton College of Art beworben, da es einen guten Ruf genoss, und war daher absolut begeistert, als mir dort ein Studienplatz angeboten wurde. Als ich jedoch meiner Mutter davon berichtete, war sie nicht gerade enthusiastisch. Bevor ich mich versah, tauchte ein Onkel von Jimmys Seite der Familie auf, um sich mit mir zu unterhalten. Er erklärte mir, dass es sich die Familie nicht leisten könne, mich an eine Kunstschule zu schicken. Ich sollte mir das aus dem Kopf schlagen und mich stattdessen darauf konzentrieren, eine feste Anstellung zu finden. Zwar verstand ich die Situation, weil wir ja in der Tat nicht viel Geld hatten, doch war ich auch ziemlich aufgebracht. Womöglich hatte Mr. Strapps letzten Endes doch Recht gehabt. Und somit war ich am Ende von Sackgasse Nummer drei angelangt.

      Meine Mutter kannte ein Mitglied der örtlichen Verwaltung. Er vermittelte mir ein Vorstellungsgespräch im Ratshaus von Salford, welches mir letztlich einen fixen Job einbrachte. Anfangs wusste ich noch nicht, was meine Aufgabe sein würde, aber immerhin war es eine Anstellung – und die gab es in den Mittsiebzigern nicht gerade im Überfluss. Ich kam schließlich in der Finanzabteilung unter. Meine Aufgabe bestand darin, Kommunalsteuerbescheide zu verschicken. Ich faltete den Bescheid, gab ihn in einen Umschlag, feuchtete ihn an und klebte ihn zu. Einen nach dem anderen. Tausende Male pro Woche. Unser Büro befand sich direkt im Rathaus. Es hatte ein Fenster für Anfragen, wo man sich anstellen konnte, um über die Rechnungen, die man zugeschickt bekam, zu jammern. Niemand setzte sich gerne mit ihnen auseinander, weshalb ich es tun musste. Ein weiterer Teil meines Jobs war es, dem Stadtkämmerer am Morgen seinen Kaffee zu bringen. Da gab es eine Kanne mit heißem Kaffee und einen mit heißer Milch. Ich trug beide in sein Büro und schenkte ihm ein.

      Viele unserer Büroangestellten gingen seit 40 Jahren derselben Beschäftigung nach und langweilten sich zu Tode. Es war tatsächlich wie ein schleichender Tod. Da gab es einen Typen, der nach dem Mittagessen immer auf seinem Schreibtisch einpennte. Eines Tages drehte ein wacher Geist die Uhr auf 5.30 vor. Dann machten wir alle einen Heidenlärm, zogen unsere Mäntel an und taten so, als würden wir uns auf den Heimweg machen. Durch dieses Treiben erwachte der Typ. Er schoss hoch, rannte zur Tür und eilte heimwärts.

      Ich hatte noch nicht sehr lange dort gearbeitet, als ein eigenartiger Kauz beim Anfragenfenster aufkreuzte. Er trug altmodische Klamotten im Stile der viktorianischen Epoche, von Kopf bis Fuß in Schwarz. Außerdem war er sternhagelvoll. Alle in der Nähe des Fensters gingen in Deckung. Im Büro gab es da diesen Kerl, der eigentlich in Ordnung war. Er erinnerte mich mit seinem gewachsten Schnauzer an den englischen Komiker und Schauspieler Terry-Thomas und trotz der Langeweile des Jobs strahlte er Tatkraft aus. Nun rief er mich zu sich und flüsterte: „Du wirst dich mit ihm herumschlagen müssen. Das ist der städtische Gerichtsmediziner. Er bringt die Liste von Körpern, die er sich angesehen hat. Wir bezahlen ihn in bar und er gibt alles für Schnaps aus.“ Er lehnte sich halb gegen das Fenster, dieser Gerichtsmediziner, fluchte heftig vor sich hin und schrie: „Hier, ich habe diese Woche sechs Leichen aufgeschnitten. Jetzt will ich mein Geld. Wenn du es mir nicht gibst, bist du der nächste!“ Jeder hatte eine Scheißangst vor dem Kerl, weshalb man mich vorgeschoben hatte. Ich gab ihm seine Kohle und sagte ihm, dass er die Schnauze halten solle – nachdem er hinter sich die Türe zugezogen hätte. Nun ja, immerhin war ich erst sechzehneinhalb.

      Ich kann mich zwar nicht mehr an den Namen des Terry-Thomas-Typen erinnern, aber er war ein sehr netter Mann. Er hatte einen VW-Bus, einen dieser coolen alten, und zur Mittagszeit machten sich gelegentlich fünf von uns auf den Weg, um in der Pause in den Bädern von Broughton schwimmen zu gehen. Er war der einzige Kerl in der Arbeit, in dem ein wenig Leben steckte. Er war witzig – tatsächlich glaube ich, dass er es war, der die Uhr damals vorgestellt hatte.

      Nachdem ich den Job schließlich hinter mir gelassen hatte, hatte ich mal einen sehr seltsamen Traum von ihm. Darin saß ich wieder im Büro und schaute ihn durch das Empfangsfenster an. Er stand mit dem Rücken zu mir und ich klopfte gegen die Fensterscheibe und rief seinen Namen. Allerdings drehte er sich nicht um. Ich schrie weiter, bis er mich endlich ansah – und alle Venen und Sehnen in seinem Gesicht verliefen auf der Außenseite. Es sah schrecklich aus. Ich wachte auf und wunderte mich über diesen horrenden Albtraum. Kurze Zeit später war ich in einem Nachtclub in Manchester und traf ein paar Typen, die immer noch dort arbeiteten. Sie erzählten mir, dass er bei einem Unfall mit seinem VW-Bus ums Leben gekommen sei. Das waren erschütternde Neuigkeiten, die meinen Traum in einem seltsamen Licht erscheinen ließen.

      Es war ein echt sonderbarer Arbeitsplatz. Hier arbeiteten Menschen, die von der Autobahn des Lebens abgefahren waren, um sich in dieser friedlichen, unaufgeregten Sackgasse von Existenz niederzulassen und die Jahre bis zur Pensionierung abzustottern. Da gab es diesen Typen in der Abteilung für Stadtplanung – wahrscheinlich war er mitverantwortlich für den Abriss des Hauses meiner Großmutter. Hin und wieder kam er ganz verstohlen zu mir und sagte: „Ich habe da einen Brief, kannst du ihn bitte durch deine Frankiermaschine laufen lassen?“ Wenn ich das dann getan hatte, meinte er: „Guter Junge, hier hast du eine Süßigkeit.“ Das war meine Belohnung. Korruption