Neil Strauss

The Long Hard Road Out Of Hell


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Regeln und Ritu­alen ab und beruhte auf der Forderung nach bedingungsloser Konformität. Das fing schon mit dieser merkwürdigen Kleiderordnung an. Montags, mittwochs und freitags mussten wir blaue Hosen, ein weißes Button-Down-Hemd und etwas Rotes anziehen, wenn wir mochten. Dienstags und donnerstags standen dunkelgrüne Hosen und wahlweise ein weißes oder gelbes Hemd auf dem Pro­gramm. Wenn unser Haar so lang geworden war, dass es die Augen berühr­te, mussten wir es abschneiden. Niemandem war es erlaubt, besser oder anders zu sein als die Klassenkameraden. Diese Form der Erziehung war natürlich keine besonders hilfreiche Vorbereitung auf die wirkliche Welt. Jedes Jahr wur­de eine neue Generation von Absolventen mit der Erwartung auf die Welt losgelassen, dass alles im Leben gerecht verteilt und jeder gleich behandelt würde.

      Der Krieg, den ich als Zwölfjähriger begann und der in meiner Jugend immer weiter eskalieren sollte, hatte zunächst das simple Ziel, dass ich von der Schule geworfen werden wollte. Es fing – ziemlich unschuldig – mit Süßig­keiten an. Ich hatte immer eine Art innerer Verwandtschaft mit Willy Wonka verspürt. Schon damals war mir klar, dass er so etwas wie ein Antiheld und ein Symbol des Verbotenen ist. In seinem Fall ging es nur um Schokolade, aber für mich war das eine Metapher für jede Art von Völlerei, für alles, was man nicht machen, besitzen oder zu sich nehmen darf, ob Sex, Drogen, Alkohol oder Pornografie. Jedes Mal, wenn Willy Wonka und die Schokoladenfabrik auf Star Channel oder in unserem heruntergekommen Stadtteilkino lief, schaute ich mir den Film bis zum Abwinken an und schaufelte tütenweise Bon­­bons in mich hinein.

      Auf der Schule waren Bonbons und andere Süßigkeiten – mit Ausnahme der Little-Debbie-Kuchensnacks, die auf der Karte im Speisesaal angeboten wurden – verbotene Schmuggelware. Also machte ich mich regelmäßig zu Ben Franklin’s Five And Ten auf, einem Laden in der Nachbarschaft, der wie ein altes Sodageschäft aussah, und bepackte mich mit Pop Rockz, Zotz, Lik-M-Stix und diesen pillenähnlichen Pastellstreifen, die immer an der Verpackung festkleben und die man deshalb kaum zu sich nehmen kann, ohne nicht auch kleine Papierfetzen mitzuessen. Wenn ich es recht bedenke, fühlte ich mich besonders von Bonbons angezogen, die drogenähnliche Effekte produzierten. Das waren nicht einfach Süßigkeiten, denn sie erzeugten zusätzlich eine che­mi­sche Reaktion, sei es, dass sie im Mund zischten oder deine Zähne schwarz verfärbten.

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      So wurde ich zum Bonbondealer, der seine Ware zur Mittagessenszeit unter die Leute brachte. Ich konnte so viel verlangen, wie ich wollte, denn niemand sonst kam während der Schulstunden an Süßigkeiten heran. Schon im ersten Monat machte ich ein Vermögen und verdiente mindestens fünfzehn Dol­lar in 25-Cent- und 10-Cent-Münzen. Dann hat mich jemand verpfiffen. Ich musste meine ganzen Süßigkeiten und das Geld, das ich verdient hatte, bei der Schulleitung abgeben. Leider wurde ich nicht gefeuert, sondern nur für eine gewisse Zeit vom Unterricht suspendiert.

      Mein zweites Projekt war eine Zeitschrift. Sie trug, ganz im Geist von Mad oder Cracked, den Namen Stupid. Ihr Wahrzeichen war ein Kind mit hervor­stehenden Zähnen, großer Nase, Akne und einer Baseballkappe auf dem Kopf, das mir nicht ganz unähnlich sah. Ich verkaufte jedes Heft für fünfundzwanzig Cents. Da ich die Seiten bei Carpet Barn, dem Teppichgeschäft, in dem mein Vater arbei­tete, kostenlos kopieren durfte, war das alles Reingewinn. Das Gerät, mit dem ich das Heft vervielfältigte, war billig und abgenutzt und strömte einen beißen­den, kohlenstoffartigen Geruch aus, aber wenn es darum ging, alle sechs Seiten mit Druckerschwärze vollzuschmieren, ließ es mich nie im Stich. An einer Schule, in der alle nach Schweinereien und dreckigen Witzen nur so darbten, schlug Stupid sofort wie eine Bombe ein – bis ich wieder aufflog.

      Carolyn Cole, die Schuldirektorin, eine große, nachlässig wirkende Frau mit Brille, gekrümmter Haltung und braunem, gekräuseltem Haar, das sich über ihrem vogelartigen Gesicht in die Höhe türmte, rief mich in ihr Zimmer, wo bereits eine größere Abordnung des Verwaltungspersonals auf mich wartete. Sie drückte mir das Magazin in die Hand und verlangte von mir, dass ich ihnen die Cartoons über Mexikaner, die Kotstudien und ganz besonders die »Kuwatch«-Sex-Spielzeug-Abenteuer-Ausrüstung erklären sollte, die laut einer im Heft abge­druckten Anzeige aus einer Peitsche, zwei XXL-Dildos, einer Angelrute, zwei Brustwarzentroddeln, einer Schweißerbrille, Fischnetzstrümpfen und einer Hals­kette mit einem Hundepenis aus Bronze bestand. Ganz ähnlich, wie es mir als Musiker später immer wieder passieren sollte, wurde ich einem Verhör unter­zogen – ihnen war unklar, ob es sich bei meiner Arbeit um Kunst, Unterhaltung oder Satire handelte – und aufgefordert, meine Persönlichkeit zu erklären. Ich explodierte vor Wut und warf die Seiten in die Luft. Bevor das letzte Stück Papier wieder zu Boden geflattert war, befahl mir Miss Cole mit hochrotem Gesicht, mich an die Knöchel zu fassen. Aus der einen Ecke schnappte sie sich eine Schau­fel, die ein Freund im Heimwerkerunterricht so sadistisch konzipiert hatte, dass sie mit Löchern durchsetzt war, damit sich der Luftwiderstand vermindert. Mir wurden drei harte, christliche Prügel auf den Hintern versetzt.

      Zu jener Zeit war ich für die Menschheit wahrlich verloren. Während der Freitagsseminare legten die Mädchen ihre Geldbörsen unter die Holz­stühle. Sobald sie ihre Köpfe wegbeugten, hangelte ich mich auf den Boden hin­unter und stahl ihnen das Geld für das Mittagessen. Wenn ich Liebesbriefe oder sonstige Notizen entdeckte, ließ ich das auch mitgehen, denn ich hielt es für ein Gebot der Fairness und der freien Meinungsäußerung, diese Zettel den Leuten zugänglich zu machen, um die es darin ging. Mit ein bisschen Glück konnte man so für ein bisschen Streit, Zwietracht und Terror sorgen.

      Ich hörte schon seit Jahren Rockmusik, aber nun wollte ich – und das war mein vorletztes Projekt – damit auch Geld verdienen. Die erste Person, von der ich mir die entsprechenden Platten auslieh, war Keith Cost, ein trotte­liges Riesenbaby, das wie dreißig aussah, aber tatsächlich in die dritte Klasse ging. Nachdem ich zum ersten Mal Love Gun von Kiss gehört und mit dem Kinder­gewehr gespielt hatte, das der Platte beilag, wurde ich ordnungsgemäßes Mit­glied der »Kiss Army« und stolzer Besitzer zahlloser Kiss-Puppen, Comics, ­T-Shirts und Lunchdosen, die ich natürlich nicht mit in die Schule nehmen durfte. Mein Vater nahm mich sogar zu einem – meinem ersten – Konzert im Rahmen der 1979er-Kiss-Tournee mit. Ungefähr zehn Teenager fragten ihn nach einem Autogramm, denn er hatte sich wie Gene Simmons auf dem Album­cover von Dressed To Kill verkleidet – komplett mit grünem Anzug, schwarzer Perücke und weißem Make-up.

      Die Person, die mich dazu brachte, mich unwiderruflich der Rockmusik und dem damit einhergehenden Lebensstil zu verschreiben, war jedoch Neil Ruble. Er rauchte Zigaretten, trug einen richtigen Schnurrbart, und angeblich hatte er bereits seine Jungfräulichkeit verloren. Ich musste ihn einfach ver­ehren. Er war für mich halb Freund, halb Tyrann, und er öffnete bei mir die Schleusentore für Dio, Black Sabbath, Rainbow – also eigentlich für alle Bands, bei denen Ronnie James Dio jemals gesungen hat.

      Meine andere unfehlbare Quelle für Plattenempfehlungen war die Chris­tian School. Zur gleichen Zeit, als Neil mich in die Welt des Heavy Metal einführte, wurden wir mit Seminaren über verschlüsselte Botschaften in der Pop­musik bedacht. Unsere Lehrer brachten Platten von Led Zeppelin, Black Sabbath oder Alice Cooper mit in die Schule und ließen sie über die Ver­stär­keranlage dröhnen. Sie stellten sich abwechselnd vor die Plattenspieler, dreh­ten die Scheiben mit dem Zeigefinger in die umgekehrte Richtung und erklärten uns die auf ihnen verborgenen Botschaften. Die extremste Musik mit der satanischsten Message war gerade gut genug für mich, allein schon deshalb, weil sie verboten war. Wenn sie Fotos der einschlägigen Bands in die Höhe hielten, um uns Angst einzuflößen, erreichten sie damit erst recht das Gegenteil: Ich wollte lange Haare und einen Ohrring tragen, genau wie die Rockmusiker, die auf diesen Bildern zu sehen waren.

      Ganz weit oben auf der Feindesliste meiner christlichen Lehrer standen Queen. Sie mochten ganz besonders »We Are The Champions« nicht, denn das war eine Hymne für Homosexuelle, und wenn man den Song rückwärts laufen ließ, konnte man Freddie Mercury mit der blasphemischen Liebkosung »my sweet satan« (»mein süßer Satan«) hören. Sicher, sie hatten uns schon erzählt, dass Robert Plant in »Stairway To Heaven« das Gleiche tut. Aber als das Gerücht, dass Freddie Mercury diese Worte spricht, in die Welt gesetzt war, mussten wir einfach das Stück immer wieder laufen lassen. In ihrer sata­ni­schen Plattensammlung waren auch das Electric Light Orchestra,