Nö. Und du? Wo ist denn dein Augenpflaster?
– Weg.
– Und die Brille?
– Geheilt.
– Ach schade.
Alles war wie früher. Die Großstadt hatte den langen Stefan zwar alt und klein gemacht, doch seinen trockenen Humor und seine spröde Herzlichkeit hatte ich mir immer so vorgestellt.
– Ich kann es kaum glauben. Komm doch rein, Junge.
– Gern.
Drinnen war es kälter als draußen.
– Mensch, Stefan, wie schön, dich wiederzusehen.
– Ja, find ich auch. Und bis auf den Kopf hast du dich gar nicht verändert. Hier lang, Junge.
Der Flur war ein endlos langer Schlauch und ungefähr doppelt so groß wie die Wohnschlafküche, die sich daran anschloß. Das also war meine neue Heimat. Zwei Dinge vermißte ich auf Anhieb.
– Stefan, wo ist denn das Klo?
– Im Hausflur, Treppe runter. Aber ich hab den Schlüssel verloren. Wenn du mußt, gehst du am besten zu Uschi. Das ist die Kneipe an der Ecke. Die hat bis zwei Uhr offen.
– Und wo ist deine bessere Hälfte?
– Meinst du Bert? Der hat sich schon lange verpißt. Er ist eine Ratte. Und außerdem hat er eine Sextanerblase.
Man soll keinen Deut auf Gerüchte geben. Mir war es einerlei, meinetwegen hätte der lange Stefan auch mit einem Schaf verheiratet sein können. Ich war froh, in Berlin zu sein – und wollte bei ihm ja auch nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag bleiben. Ich stellte meinen Koffer neben dem brummenden Kühlschrank namens »Mockba« ab. Die Hälfte des Zimmers nahm ein mit rosa Samt bezogenes französisches Bett mit einem goldenen Radiowecker am Kopfende ein.
– Soll ich da schlafen, Stefan?
– Wo sonst?
Die morschen Holzdielen knarrten unter meinen Schritten. Neben dem viel zu kleinen Kachelofen standen ein Tisch und ein abgeschabter Sessel, darin wird man den langen Stefan in vierzig Jahren tot auffinden. Die Wände waren weißgekalkt, an ihnen hingen Konzertplakate von Musikgruppen, deren Namen mir unbekannt waren. Lift, Porto, Ina Morgenweck und die Gruppe Charlie. An den Fensterrahmen blätterte die Farbe ab, man hörte den Wind durch die Ritzen pfeifen, in den Scheiben blühte ein Meer aus Eiskristallen.
– Stefan, das ist ja eine tolle Aussicht.
Ich schaute auf das Friedhofgelände auf der anderen Straßenseite.
– Finde ich auch. Da liegen nur berühmte Künstler, das ist unser Pärlaschäß. Du, Junge, tschuldige, aber ich hab gleich ne Verabredung mit nem richtig süßen Kerl. Kommst du erst mal ohne mich klar?
– Kein Problem, Stefan. Ich bin sowieso müde von der Fahrt und würde mich gern hinlegen. Das war ne lange Reise. Wir können ja später noch reden.
– Prima, dann mach ich mich mal auf den Weg. Machs gut, Junge. Und fühl dich ganz wie Zuhause.
– Tschüß, Stefan. Und danke.
Ich konnte kaum abwarten, bis Stefan die Wohnung verlassen hatte … Bier treibt ja so gewaltig. Noch bevor die Tür ins Schloß gefallen war, stand ich vor der Spüle und schlug mein Wasser ins Waschbecken ab. Sodann inspizierte ich den Raum. Ich kontrollierte das Küchenschränkchen, durchsuchte die Kommode, schaute im Bettkasten nach, nichts, nada, nothing. Stefan besaß weder ein Tagebuch noch irgendwelche Pornohefte. Egal. Ich zog mich aus, schlüpfte in Stefans Schlafanzug und legte mich hin. Ich schlief sofort ein und träumte einen süßen Traum.
An einem warmen und schönen Wochentag im August begegne ich einem aus dem Fernsehen bekannten Literaturkritiker in der Bahnhofsbuchhandlung unserer Landeshauptstadt. Ich gehe auf den Kritiker zu, stelle mich vor, der Kritiker lächelt und schüttelt meine Hand. Der Kritiker erzählt, daß er auf dem Weg zu einem Jungdramatikertreffen in einer nahen Universitätsstadt sei und fragt mich, ob ich nicht Lust hätte, ihn dorthin zu begleiten. Vor dem Treffen hätten wir dann auch noch ausreichend Gelegenheit, durch die Innenstadt zu schlendern und uns jeder auf seine Kosten ein Paar italienische Herrenschuhe zu kaufen. Das Angebot ist reizvoll, allerdings befinde ich mich gerade auf dem Weg zu einer Zusammenkunft mit der Verlegerin meines ersten Romans … Ein Stelldichein, das ich nicht absagen kann und will. Der Kritiker beruhigt mich und sagt, daß der Zug erst in zwei Stunden abfahren werde, und mir also noch genügend Zeit für das Treffen bliebe. Wie wunderbar! Der Kritiker und ich vereinbaren einen Treffpunkt, dann begebe ich mich in ein nahgelegenes Café. Dort erwartet mich bereits meine Verlegerin, und rasch verfangen wir uns in einer amourösen Unterhaltung. Erst als meine Verlegerin unsere Rechnung begleicht und sich von mir verabschiedet, schaue ich auf die Uhr und erkenne, daß ich die Verabredung mit dem Kritiker glatt vergessen habe. Es ist höchste Eisenbahn, mir bleiben nur noch wenige Minuten. Ich renne so schnell ich kann zum Hauptbahnhof, doch als ich den Bahnsteig erreiche, sind der Zug und der Kritiker bereits abgefahren. Aus dem Lautsprecher ertönt eine Ansage: Es ist das Kleine, das zum Großen fehlt. Herzlich Willkommen! Ihre Jugend ohne Plot.
So weit die Träume, die Komposthaufen der Seele, zurück zum wirklichen Leben. Wohl mehrere Stunden schlummerte ich vor mich hin, friedlich, mollig und in Embryostellung, wie ein Angestellter im öffentlichen Dienst kurz vor dem Wochenende oder wie damals im Religionsunterricht bei Fräulein Klappenbach … Bis sich plötzlich fremde Finger in meine Schultern krallten, au! Ich riß die Augen auf. Die Matratze schwankte, das Bettgestell ächzte. Schutzsuchend rollte ich mich zur Seite, entzog mich der Klaue – doch da war nichts, nur ein Abgrund! Ich fiel aus dem Bett, plumpste auf den Fußboden und saß auf meinen fünf Buchstaben. Ein häßliches, übergeschnapptes Lachen dröhnte durch meinen Schädel. Ich schaute hoch. Zwei Augenpaare glotzten mich an, das eine gehörte in das Gesicht des langen Stefans.
– Tschuldige, Junge, wir wollten dich nicht aufwecken. Darf ich vorstellen? Das ist Bert.
Bert winkte. Ich richtete mich auf und besann mich.
– Komm ruhig wieder ins Bettchen, Junge. Es ist genug Platz hier für uns drei.
Bert lachte. Stefan lupfte die Decke und präsentierte stolz sein kampfbereites Gemächt.
– Wow, vielen Dank für die Einladung, Stefan, echt. Das ist wirklich sehr nett von euch. Aber nein. Ich bin doch gerade erst angekommen und will was von der Stadt sehen.
– Berlin rennt nicht weg, Junge, aber Bert. Wenn du nur wüßtest, was du verpaßt, Kleiner.
Stefan drehte sich um und nahm sich wieder Bert zur Brust, die beiden versanken im Daunenlager. Leise und unauffällig stieg ich in die Jeans, zog meinen Pullover über, schlüpfte in Socken und Turnschuhe, nahm meine Jacke in die Hand und verabschiedete mich von den zweien.
– Viel Spaß noch. In ein paar Stunden bin ich wieder da.
Ich erhielt keine Antwort, die beiden waren ganz woanders.
Ich wußte nicht, wie spät es war. Früher Abend, Morgen oder Mitternacht. Die Kälte schnitt in mein Fleisch, meine Zähne klapperten. Erst vor der Haustür bemerkte ich, wie sehr die Jeans im Schritt kniff – versehentlich hatte ich wohl die Hose von Bert erwischt.
Das Himmelszelt beherbergte keinen einzigen Stern, nur eine blasse, milchige Mondsichel. Früher glaubte man, daß die Seelen der frisch Verstorbenen zunächst mit von Gott erbauten Schiffen auf den Mond gebracht und dort dann den Sonnenstrahlen zur Reinigung und geistigen Desinfektion ausgesetzt werden, um anschließend vom Allmächtigen höchstpersönlich abgeholt und in das Reich des Lichts verschickt zu werden. So erklärte man sich die wechselnden Gestalten des Mondes. Der Mond nimmt zu, je mehr Seelen dort zwischengelagert werden … Er nimmt ab, je mehr Seelen in die Herrlichkeit entlassen werden. Zur Zeit herrschte oben gähnende Leere. Zum Zweck der Wärmeerzeugung lief ich ein paar Schritte. Es herrschte kein Verkehr auf der Straße, ich begegnete auch keinen Passanten. Wäre ich auf dem Glatteis ausgerutscht und hätte mir das Genick gebrochen, hätte es bestimmt Tage