Marc Degens

Hier keine Kunst


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Kühlschrank war leerer als die russische Staatskasse, allein eine Sektflasche einsamte im Gemüsefach vor sich hin. Rotkäppchen, wie niedlich. Ich entkorkte die Flasche und nahm einen kräftigen Schluck. Der Kontersekt zeigte umgehend Wirkung, sogleich ging es mir viel, viel besser. Anstatt mir die Zähne zu putzen, rauchte ich eine von Stefans Filterzigaretten. Cabinet würzig, noch nie gehört. Mit jedem Lungenzug wurde mein Kopf klarer. Berlin, Mitte, Roman. Ich bin Schriftsteller, das macht mich interessant.

      Nach dem Sektfrühstück zog ich mich an. Auf dem Sessel lag meine unbefleckte Jeans. Auf einem Haufen daneben türmten sich meine Socken, mein Unterhemd, mein T-Shirt und mein grauer Lieblingspullover. An einem Fenstergriff hing meine karierte, schon zu Schulzeiten getragene Steppjacke. In der Innentasche entdeckte ich ein Emailleschild in der Form und Größe eines Autokennzeichens. Die Aufschrift lautete:

      Hier keine Kunst

      Im selben Augenblick hatte ich ein déjà vu oder eine Vision, irgend etwas in diese Richtung. Ich stehe vor einer Tür, vor einer Eingangstür aus Holz. Die Tür gehört zu einem Haus. Ich kenne das Haus nicht, ich weiß nicht, wer in dem Haus wohnt. In die Tür ist eine Glasscheibe eingelassen, ein schmiedeeisernes Gitter schützt das Sichtfenster. In dem Gitter entdecke ich Ornamente, Verzierungen, Initialen. Ein Y, ein J und ein W vielleicht. Ich kann die Buchstaben nicht eindeutig entziffern. Oben auf dem Holzrahmen, zwischen Zarge und Sichtfenster, ist ein Schild angebracht: Hier keine Kunst. Das Schild ist mit Schrauben an die Tür befestigt, die Schraubenköpfe besitzen Kreuzschlitze. Ich versuche, das Schild abzumontieren. Eine Hand, eine zierliche Frauenhand mit schwarzlackierten Fingernägeln, berührt meine Schultern. Die Hand versucht mich von dem Vorhaben abzubringen. Ich küsse die Hand, jeden einzelnen schwarzlackierten Finger.

      Ich nahm einen letzten Schluck Rotkäppchensekt, dann schlüpfte ich in meine Schuhe, griff meine Jacke und verließ das Quartier. Da ich noch keinen eigenen Wohnungsschlüssel hatte, zog ich die Tür nicht ins Schloß, sondern lehnte sie bloß an. Ich wollte spazierengehen und meinen Verstand abkühlen – dann würde sich die Sache mit dem Schild und der schwarzlackierten Frauenhand bestimmt von alleine klären. Auf der Straße wehte ein eisiger Wind, eine Straßenbahn rasselte vorbei. Ich holte tief Luft. Wenn man wie ich gerade von den Toten auferstanden war, dann gibt es eigentlich nichts Schöneres, als über die Gräber der Toten zu wandeln. Mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen marschierte ich Richtung Friedhof.

      Lustig sein und nicht studieren

       Durch die Gassen kreuz und krumm

       Nach den Mädchen scharmutzieren

       Lustig sein und nicht studieren

       Dieses ist mein Proprium

      Ich überquerte die Straße, ließ die Buchhandlung an der Brecht-Wohnung rechts liegen und betrat durch das weihevolle Staketentor den Begräbnisplatz für die Dorotheenstädtische Gemeinde. Vor mir erstreckte sich ein langer, aufgeweichter, sandiger Pfad, links umrandet von einer hohen Mauer aus Kalkstein. Der Weg führte geradewegs auf ein Standbild zu, daneben rankten mehrere Sträucher und Linden und Ahornbäume. Das marmorne Monument stellte einen feisten Kerl mit mächtigem Wanst dar, sein steinernes Gewand reichte bis zu den Knöcheln. Die verwegene Haartracht kannte ich. Der Stuten gehörte Martin Luther, dem Ketzermönch und Erzflucher. Das also war der Mann, der mir die Sprache dieser Seiten geschenkt hatte und dessen Morgensegen ich im Konfirmandenunterricht nie fehlerfrei aufsagen konnte, beinahe wäre meine Einsegnung daran gescheitert. Ich bog links in den Seitenweg ab, vorbei an einem riesigen Pompgrab mit Pfeilern und Säulen, und stieß in einer aufgemauerten Ecke auf die letzte Ruhestätte des Dichters Bertolt Brecht und seiner Frau Helene Weigel. Das Grab sah aus wie ein riesiges Ehebett. Am Kopfende lagen zwei schlichte urwüchsige Grabsteine, zwei nur mit Vor- und Zunamen bestickte Kissenbrocken, zwei unbehauene Findlinge, an die jeder Hund pinkeln möchte. Natürlich schläft der Mann außen und die Frau innen an der Wand – wenn sie aufs Klo will, muß er aufstehen. Ich erschauderte, als ich den Betonkopf nebenan erblickte. Das Grab Heinrich Manns, auf einer Stele gedenkmalte seine unangenehm dreinblickende Porträtbüste. Im Gegensatz zu der strengen, hochmütigen, deutschprofessoralen Erhabenheit des Steinkopfs lehnte die Gedenktafel einer gewissen Nelly Mann, geborene Kröger, geradezu obszön an seinem Pfeiler. Wie bestellt und dann vergessen. Schnell weiter. Auf dem Monolith nebenan, dem Grabstein Johannes R. Bechers, hätte man einen ganzen Roman veröffentlichen können.

      Vollendung träumend

       Hab ich mich vollendet

       Wenn auch mein Werk

       Nicht als vollendet endet

      Was für ein Edelschmu. Auch die Vögel schien dieser Verskitsch abzuschrecken, zumindest traute sich keiner von ihnen das Luxus-Vogelhäuschen auf Bechers Grab zu benutzen … Das Ding war noch nicht einmal ordentlich beschissen. Ich schlug mich ins Dickicht, folgte einem schmalen Pfad und stieß auf einen gedrungenen, vierseitigen Obelisken aus Muschelkalk. Das Reliefporträt auf dem Stein zeigte Johann Gottlieb Fichte. Fichte? Fichte? Der Name sagte mir etwas, nur was? An Fichtes Seite ruhte seine Gattin Johanna Marie. Ich verewigte ihren Grabspruch in meinem feuerroten Notizbuch. Man weiß nie, ob und wann man für solche Sätze Verwendung hat – die ein oder andere Gelegenheit wird sich bestimmt noch im Verlauf des Buches ergeben. Übrigens ist das kleine, unlinierte, postkartengroße Notizbuch, das mir an jeden Ort folgt und in das ich all meine spontanen Einfälle, Gedanken und Maximen eintrage, schon über fünfzehn Jahre alt. Ich hatte es seinerzeit, als ich gerade schweren Tritts und trüben Herzens durch meine Hermann-Hesse-Phase watete, in einem 99-Pfennig-Laden in der Fußgängerzone geklaut. Auf das Vorsatzblatt des Büchleins schrieb ich eine Art Motto: Schriften alttestamentarischer Endgültigkeit. Der erste Eintrag lautet: Der Steppenwolf bin ich. Auf den nächsten Seiten folgen dann sämtliche von mir im Voraus getippten Fußballergebnisse der Welt- und Europameisterschaften der letzten zehn Jahre. Wären meine Vorhersagen eingetroffen, hätte die deutsche Nationalmannschaft in diesem Zeitraum alle Titel errungen. Doch wenigstens zweimal behielt ich recht, das macht eine Trefferquote von über dreißig Prozent. Wenn alle Stricke reißen, werde ich eines Tages meinen Lebensunterhalt mit Sportwetten verdienen.

      Direkt neben Fichte ruhte der bekannte Denker Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Den kannte ich aus der Philosophie AG, Stichworte: Hebbel und Hebel, Hegel und Schlegel. Einerseits gibt es den realistischen, stark von Hegel beeinflußten Dramatiker Hebbel, andererseits den romantischen, hauptsächlich von Schlegel beeinflußten Schriftsteller Hebel … Doch was nützt einem letzten Endes all die Berühmtheit und das ganze Wissen? Vor dem Tod sind wir alle gleich, wie Pfarrer Greuleneck zu sagen pflegte. Hegels gedrungener Gedenkstein aus rötlichem Granit mochte ja durchaus etwas hermachen – insgesamt wirkte das Grab in seinem zugewucherten, verwachsenen und verwilderten Zustand aber ziemlich heruntergekommen und armselig, dagegen sprießt und blüht es auf dem Grab meines Großvaters wie auf einer Bundesgartenschau. Hegels Verwandte sollten sich wirklich was schämen, der Mann ist doch noch keine zweihundert Jahre tot.

      Eine Reihe weiter entdeckte ich einen Grabstein mit einem Porzellan-Portraitfoto des Verstorbenen. Der Greis auf dem Bild sah ungemein lieb und zutraulich aus, so wie mein alter Chemielehrer Herr Dobermann – der Name paßte überhaupt nicht zu ihm. Ich ließ meine Gedanken schweifen und überlegte, welches Foto ich auf meinem Grabstein anbringen würde … Auf keinen Fall eine Aufnahme, auf der ich alt und gebrechlich wirke, ich möchte ein junges, kraftstrotzendes Motiv. Ein Bild, auf dem ich sportlich und schlank, schön und stark aussehe. Es gibt so ein Foto von mir, allerdings hat es schon einige Jährchen auf dem Buckel. Es stammt aus dem Jahre 1985 oder 1986, ich spielte damals für ein paar Wochen im Verein Fußball – das Trikot auf der Aufnahme müßte man natürlich wegretuschieren. Ich marschierte weiter, fand in der hintersten Ecke des Friedhofs eine Ehrentafel für den Entdecker von sechs chemischen Elementen, darunter Titan, Uran und Strontium, das soll ihm heute erst einmal einer nachmachen. Auf meinem weiteren Rundgang sah ich noch die Grabsteine für einen Vizewachtmeister, für einen Konditormeister und den Erfinder der Ringöfen. Eine andere Begräbnisstätte aber berührte mein Herz zutiefst. Eine kleine, feine, gepflegte Ruhestätte, das Grab eines im Alter von nur siebenunddreißig Jahren verstorbenen Mannes. Auf dem weißgräulichen Gedenkstein stand in kleingeschriebenen Lettern neben dem Namen die Berufsbezeichnung des Verstorbenen:

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