Christian Gude

Mosquito


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wie er es seit Jahren getan hatte. Aber bald würde der Punkt kommen, an dem er nicht mehr umkehren konnte. Das limbische System seines Zwischenhirnes setzte unaufhaltsam eine komplexe physiologische Reaktionskette in Gang, sein Sympathikus initiierte die Ausschüttung von Adrenalin. Aufmerksamkeit, Sinnesempfindlichkeit, Muskeltonus, Puls und Herzfrequenz erhöhten sich, er atmete schneller und flacher. Er hatte Angst. Seine Amygdalae befahlen ihm umzukehren, aber er widerstand.

      1

      Rünz stand auf dem Damm am Westufer des Großen Woogs. Es war trotz der frühen Stunde bereits hell, die Sonnenwende lag nicht lange zurück. In der Nacht hatte ein leichter Ostwind Moder und Exkremente der Enten auf der Wasseroberfläche herübergetrieben. Die faulige Mischung dümpelte zwischen den Betonstegen der alten Wettkampfanlage und verbreitete einen unangenehmen Geruch. Der Ermittler beugte den Oberkörper nach vorne, stützte die Unterarme auf das Metallgeländer, das den Dammweg von der Uferböschung trennte. Er zitterte, hatte Schweißperlen auf der Stirn. Die in seinen Blutbahnen zirkulierenden Abbauprodukte des Alkohols bereiteten ihm bei der geringsten Anstrengung pulsierende Kopfschmerzen, die im Rhythmus seines Herzschlages über den Nacken schossen. In Abständen von wenigen Minuten überspülten ihn Wogen der Übelkeit, die er verzweifelt zu glätten versuchte. Sobald er die Vorboten des Brechreizes spürte, den verstärkten Speichelfluss in seinen Wangentaschen und die Spannung der Bauchdecke, richtete er sich auf, hob die Arme und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf, stechend riechende Schweißflecken in seinen Achselhöhlen entblößend. Indem er den Körper streckte und flach atmete, hoffte er, den Druck des Zwerchfells auf seinen Magen zu senken. Er musste um jeden Preis vermeiden, was ihm wie nichts anderes auf der Welt panische Angst bereitete – das Erbrechen.

      Die Pappeln auf der nördlichen Seeseite standen regungslos glitzernd in der Morgensonne, erstarrten Flammenwerfern gleich, die lotrecht in den Himmel fauchen. Aus der Uferböschung am Nordufer stieg ein Graureiher auf und drehte seine Platzrunde über dem See. Am Westufer wendete er seinen Kopf Rünz zu und schien ihn sekundenlang zu beobachten. Bis auf einige neugierige Frühschichtarbeiter waren die Straßen noch leer, die ersten Badegäste erst in zwei bis drei Stunden zu erwarten. Rünz schaute nach links zur frisch sanierten Jugendherberge. Drei oder vier Dutzend Pubertierende drückten sich an den Fenstern ihrer Schlafsäle die Nasen platt, einige Gruppenleiter schienen erfolglos zu versuchen, die Teenager zurück in die Betten zu treiben. Davon abgesehen war die Szenerie auf und um den See bestimmt von der ruhigen und professionellen Aktivität einer Handvoll DLRG-Männer, Feuerwehrleute, Sanitäter und Polizisten. Etwas nördlich der Seemitte waren Taucher im Einsatz, sie wurden von Kollegen in schwarzen Schlauchbooten mit Seilen gesichert.

      Rechter Hand, auf der Betonplatte am Fuß des massiven Sprungturmes, lag einer der Taucher auf der Seite. Sein Oberkörper war frei, der rote Neoprenanzug bis zu den Hüften herabgezogen. Seine Ausrüstung – Maske, Flossen, Atemregler, Flaschen, Ballastgürtel – lagen verteilt entlang einer nassen Spur, die von einer der Trittleitern bis zu seinem Liegeplatz führte, so als hätte er auf der Flucht Ballast abgeworfen. Sein Zustand schien stabil. Er war bei Bewusstsein und sprach mit einigen seiner Kollegen, die neben ihm knieten. Zwei Sanitäter, die ihn untersucht und versorgt hatten, packten ihre Ausrüstung zusammen. Etwas abseits unterhielt sich ein untersetzter Grauhaariger mit Sprechfunkgerät und rotgelber DLRG-Jacke mit einem großen, sportlich wirkenden Zivilisten, um die 30 Jahre alt, der sich auf einem kleinen Block Notizen machte. Der Große beendete das Gespräch, verabschiedete sich, stieg schräg den Damm hinauf und kam auf Rünz zu.

      »Sie sehen schlecht aus, Chef.«

      »Sicher nicht so schlecht, wie ich mich fühle, Herr Wedel.«

      Rünz fehlte die Energie, auf die Respektlosigkeit seines Assistenten angemessen zu reagieren.

      »Hat der ihn gefunden?« Rünz wies mit dem Kopf zum Sprungturm.

      »Ja, hat ihn ganz schön erwischt. Der Junge ist neu in der DLRG-Truppe, die haben hier drüben unter der Kneipe ihr Basislager. Der Dicke unten mit der roten Jacke ist Olaf Deiters, der Leiter der Gruppe. Das hier sollte eine ganz lockere Einstiegsübung für einen Tauchlehrgang werden und dann so was.«

      »Was hat der Junge denn? Schock?«

      »Sein Kollege sagt, dass er fast an seinem Erbrochenen erstickt ist.«

      Rünz zuckte zusammen. Sein Assistent wich einen Schritt zurück, er hatte die Körperausdünstungen seines Vorgesetzten registriert.

      »Er ist am Seegrund entlang getaucht, ist ja nur ein paar Meter tief, aber total trüb. Bei der Sichtweite hat er den Toten wohl erst gesehen, als er ihn 10 oder 20 Zentimeter vor der Nase hatte. Jedenfalls schwört er Stein und Bein, dass da unten einer liegt. Hat natürlich einen Koller gekriegt, konnte aber sein Mundstück nicht ausspucken, weil er so eine Vollmaske getragen hat. Als er endlich wieder oben war, ist er wie ein Verrückter mit kompletter Ausrüstung hier zum Familienbad rübergepaddelt, obwohl es zum Nordufer drüben viel näher gewesen wäre.«

      »Seine Kollegen haben noch nichts gefunden?«

      »Bis jetzt nicht, aber die wissen ja auch nur ungefähr, wo der Junge seinen Schock bekommen hat. Müssen halt jetzt jeden Quadratmeter absuchen. Schlage vor, wir sperren den Woog heute für die Badegäste.«

      »Langsam, wir schauen erst mal, ob da unten nicht nur eine Schaufensterpuppe liegt. Ist ja noch ein bisschen hin, bis die Kassen öffnen.«

      Die beiden Ermittler verfolgten schweigend die Arbeit des Teams auf dem See. Nach einigen Minuten stieg einer der Taucher an die Oberfläche und ließ sich von seinen Kollegen ins Boot ziehen. Er nahm die Maske ab und schien über einen Fund zu berichten, die Entfernung war aber zu groß, um ihn zu verstehen. Mit den Händen gestikulierend, stellte er Größen- und Lageverhältnisse dar. Einer der anderen im Boot nahm über Sprechfunk Kontakt mit seinem Gruppenleiter am Sprungturm auf. Deiters kam nach einem kurzen Wortwechsel zu den Ermittlern auf den Damm hoch.

      »Sie haben ihn, der Junge hat sich nicht getäuscht. Die Leiche steckt im Schlamm fest, sichtbar ist nur ein Teil des Schädels, ein Unterarm mit Hand und die Fußspitzen, alles skelettiert. Ist in Rückenlage, auf der Körpermitte liegt ein schwerer Brocken, könnte Beton sein, den müssen wir erst irgendwie hochziehen, vorher ist an eine Bergung nicht zu denken.«

      »Das riecht nicht nach Badeunfall«, murmelte Rünz. »Können Ihre Leute die Stelle mit einer Boje markieren und sich in Bereitschaft halten?«

      »Kein Problem.«

      »Herr Wedel, kontaktieren Sie bitte Stadtverwaltung und Badeaufsicht, das Familienbad und das Freibad drüben auf der anderen Seite müssen heute und morgen geschlossen bleiben. Und dann versuchen Sie bitte, Sybille Habich vom KTU beim LKA zu erreichen, bitten Sie sie, möglichst sofort mit einem kleinen Team zu kommen. Außerdem hätte ich für die Leichenschau gerne Bartmann hier, ich bin sicher, Sie erreichen ihn jetzt schon in der Kennedyallee.«

      Wedel setzte sich mit seinem Mobiltelefon ab. Die Aktivität hatte Rünz etwas von seinen Beschwerden abgelenkt – er sehnte sich jetzt nach einer Flasche Cola, erfahrungsgemäß der einzige Rettungsanker für seinen ziellos im Bauchraum herumtreibenden Magen – vorausgesetzt, er schüttelte die Kohlensäure vollständig ab und nahm die koffeinierte Plörre langsam und in homöopathischen Dosen zu sich.

      Gut anderthalb Stunden später saß er vor einer Pepsidose in der Jugendherberge bei einer improvisierten Lagebesprechung mit Robert Bartmann vom Rechtsmedizinischen Institut der Goethe-Universität Frankfurt und Sybille Habich vom Kriminaltechnischen Institut des Landeskriminalamtes Wiesbaden. Die zeitgenössische, funktionale Innenarchitektur der Unterkunft hatte wenig mit Rünz’ Klischeevorstellungen von Jugendherbergen zu tun. Einzig die omnipräsenten MP3-Autisten mit ihren Ohrstöpseln verrieten die eigentliche Zielgruppe des Hauses. Die Einrichtung war komplett modernisiert, der DJV hatte mehrere Seminarräume eingerichtet, die er nach den Stadtteilen Darmstadts benannt hatte. Die Dreiergruppe saß standesgemäß im Raum Bessungen mit Blick zum Woog, ein kleines, aber helles und funktional ausgestattetes Arbeitszimmer mit Flipcharts, Beamer, Tafel und Pinnwänden.

      »Puh«, stöhnte Bartmann, die Nase rümpfend. »Hier könnte mal einer