hängten. Sie bewegten sich wie Männer, lachten und sprachen wie Männer, vermieden es, mit ihren femininen Seiten Angriffsflächen zu bieten. Aber die Zeiten wurden hart für Dinosaurier wie Brecker. Junge Frauen mit schwachem Selbstbewusstsein wie die Anwärterin am Nebentisch waren inzwischen seltene Pflanzen, über die sich Brecker mit umso größerem Hunger hermachte. Heute waren die Standardreaktionen auf sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz entweder massive dienstrechtliche Probleme oder ein Tritt in die Weichteile. Rünz hatte Mitleid mit der jungen Frau. Andererseits beneidete er Fossile wie seinen Schwager um die Gewissenlosigkeit, mit der sie sich über das Frischfleisch hermachten. Die einzige Frau, die Rünz so respektlos behandelte, war seine eigene – Breckers Schwester.
Der Stiernacken drehte sich um und zwinkerte ihm zu.
»Servus Karl. Süß, die Kleine, oder?«
»Zu alt für dich.«
»Nur kein Neid! Kommst du morgen Abend auf den Schießstand, Karl? Ich habe eine kleine Überraschung!«
»Denke schon.«
»Wie gehts meinem Schwesterchen?«
»Heute Morgen noch gut …«
»Bist immer schön lieb zu ihr, gelle?«
Rünz lächelte gequält, Brecker wendete sich wieder seiner Gruppe zu.
Er hatte gerade begonnen, wieder in seinen Beilagen herumzustochern, als ihm gegenüber jemand sein Tablett auf den Tisch schob.
»Ich grüße Sie, Herr Rünz. Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
Es war Hoven. Diese joviale, energische Begrüßung hatte er sich von den externen Consultants abgeschaut, die mit PowerPoint-Präsentationen und Flipcharts einen großen Teil seiner Arbeitszeit gestalteten.
»Selbstverständlich, nehmen Sie Platz«, antwortete Rünz. Freundlichkeit kostete den immer noch angeschlagenen Polizeihauptkommissar große Überwindung.
»Das sieht ja recht übersichtlich aus«, sagte Hoven mit Blick auf seinen Teller. »Machen Sie Diät?«
»Nein, ich habe eine Fastenwoche hinter mir und muss jetzt langsam wieder anfangen«, fabulierte Rünz.
Einige Sekunden sagte keiner von beiden etwas, eine unangenehme Situation, aber Rünz fehlten Energie und Inspiration für eine ordentliche Konversation.
»Wie ist der Stand bei der Woogsleiche?«
Hoven hatte auf Arbeitsgespräch umgeschaltet. Rünz gab ihm eine kurze Zusammenfassung.
»Presse?«, fragte Hoven.
»Keiner vor Ort. War wohl ein bisschen zu früh.«
»Ich werde trotzdem mit dem Herausgeber der ›Allgemeinen‹ sprechen«, sagte Hoven. Mit einem einfachen Chefredakteur mochte er sich offensichtlich nicht abgeben.
»Vorausgesetzt natürlich, Bartmann schließt auf ein Gewaltverbrechen, aber davon ist ja auszugehen. Wenn Dreyfuss uns vier Wochen ungestört arbeiten lässt, geben wir ihm Exklusivinformationen. Er wird drauf eingehen. Wir werden für das issue eine ordentliche awareness bekommen, wenns tatsächlich ein Mord war. Und wenns ein Badeunfall ist, interessiert das ja sowieso keinen. Fahren Sie, so lange wir von Bartmann nichts Näheres erfahren, das Standardprogramm – ohne publicity.«
Hoven machte eine Pause, steckte sich ein Stück Cordon bleu in den Mund und kaute entspannt. Er hatte sich um Mund und Kinnpartie herum einen präzise getrimmten Henriquatre wachsen lassen, der ihm zugleich die Aura intellektueller Brillanz und verwegenen Freibeutertums verlieh. Sein Schuhwerk bezog er aus exklusiven englischen Manufakturen, am Handgelenk trug er eine mächtige Luminor Sealand von Panerai, der perfekte Zeitgeber für Menschen, die die Symbiose aus Sportlichkeit, Exklusivität und Nonkonformismus suchten. In Besprechungen klappte er gerne demonstrativ das Saphirglas des Automaten auf, so als bediente er eine alte Taschenuhr mit undurchsichtigem Deckel. Sein Auftreten und seine Erscheinung waren sozusagen die Antithese zu Rünz’ Präsenz. Er war der Archetyp einer neuen Spezies in der Führungsebene der hessischen Polizei, ein narzisstischer und eloquenter Kosmopolit, für den Strafverfolgung letztlich nach den gleichen ökonomischen Prinzipien optimiert werden konnte wie die Umsatzrendite einer Aktiengesellschaft. Er war um die 40 und hatte einige ältere Semester wie Rünz längst in der Innenkurve überholt. In unzähligen Managementseminaren hatte er seinen aktiven Wortschatz um zahlreiche sinnfreie Business-Anglizismen erweitert – er liebte es, bei festlichen Anlässen im Präsidium keynote speeches zu halten, in denen er von visions, missions, top-down- und bottom-up-approaches referierte. Die hessische Polizei war in seiner Vorstellung auf dem Weg zu einem Dienstleistungsunternehmen, das am Markt gut aufgestellt werden musste, um das Produkt Sicherheit lukrativ zu vertreiben. Hoven saugte wie ein trockener Schwamm alle Methoden der perfektionierten Selbst- und Fremdausbeutung auf, die aus der Grauzone zwischen Wirtschaftspsychologie und missverstandener fernöstlicher Philosophie heraus in die Arbeitswelt drängten. Als Quereinsteiger hatte er vor zwei Jahren die Einsatzgruppe im Präsidium Südhessen übernommen und war direkt dem Polizeipräsidenten unterstellt. Rünz musste als Leiter der Ermittlungsgruppe Darmstadt City an ihn berichten, aber Hoven war ein Vorgesetzter auf Durchreise. Die Tätigkeit in Darmstadt war für ihn nichts weiter als eine Zwischenstufe auf einer Karrieretreppe, die ihn in einigen Jahren ins Innenministerium, in die Interpolzentrale nach Lyon oder als Sicherheitsberater zu DaimlerChrysler bringen würde. Hoven war sozusagen perfekt, bis auf einen einzigen Schwachpunkt, der ihn erträglich und oft zum Spott des Kollegiums machte – er war mit einer Frau verheiratet, die ein heterosexueller Mann nur nach langer sexueller Abstinenz und starkem Alkoholkonsum als attraktiv empfinden konnte. Er hatte wohl aus irgendeinem unerklärlichen Standesdünkel heraus den Drang verspürt, seine Oberschichtherkunft noch zu vergolden, indem er in eine blaublütige Dynastie einheiratete, und dort schien die Auswahl nicht sehr groß gewesen zu sein. Hoven tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab.
»Wer vom Schottener Weg ist denn zuständig?«
»Staatsanwältin Simone Behrens.«
»Habe ich noch nicht kennengelernt. Stimmt da die Chemie oder nimmt die Dame gern mal selbst die Ruderpinne in die Hand?«
»Bis jetzt haben wir ausgezeichnet zusammengearbeitet. Sie will kontinuierlich und ausführlich informiert werden, ansonsten vertraut sie unseren Fähigkeiten.«
»Sehr gut. Sagen Sie Bescheid. Wenn es Probleme mit ihr gibt, werde ich mit dem Leitenden mal abendessen gehen.«
Rünz spürte eine neue Übelkeitswelle, diesmal psychisch induziert.
»Würden Sie mir bis heute Abend Ihre roadmap und Ihren actionplan für den Fall vorlegen? Und halten Sie mich konstant auf dem Laufenden, am besten per Mail, Sie kennen meinen schedule«, sagte Hoven.
Rünz zuckte zusammen. Er hätte nicht weniger verstanden, wenn sein Vorgesetzter Altgriechisch gesprochen hätte. Vielleicht wäre ein Besuch eines der Schulungsprogramme, die Hoven in den letzten Monaten initiiert hatte, doch sinnvoll gewesen. Aber Wedel würde ihm sicher weiterhelfen.
»Kein Problem, Herr Hoven.«
Sein Vorgesetzter musterte ihn einige Sekunden.
»Herr Rünz, ich glaube an Sie, Sie sind eigentlich ein guter Mann.«
Das klang ungefähr wie »Nichts gegen Ausländer, aber …«
Darüber hinaus gehörte Lob von einem fünf Jahre jüngeren Vorgesetzten ganz sicher zu den perfiden Formen der Erniedrigung. Hoven schien tatsächlich anzunehmen, dass er mit dieser Einführungsübung aus dem Volkshochschulkurs Personalführung Rünz’ Motivation steigern konnte.
»Aber ich glaube, Sie müssen Ihre skills einfach besser nutzen. Ich zum Beispiel mache vor dem launch jeder Arbeitswoche erstmal eine SWOT-Analyse.«
Rünz suchte panisch nach einer Ausrede, um das Gespräch abzubrechen. Er konnte Brechreiz vortäuschen, genau genommen hätte er damit nicht einmal gelogen.
Hoven zog einen Montblanc-Füllfederhalter aus dem Jackett und skizzierte auf der Rückseite eines Briefumschlages eine