Thomas L. Viernau

Kranichtod


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das Labyrinth der Stadt. Jenseits der Stadtgrenze war dann alles übersichtlicher. Da konnte sie das Navi abschalten. Den Weg kannte sie gut. Oft schon war sie hier auf der Fernverkehrsstraße B 2 Richtung Biesenthal unterwegs.

      Entspannt lehnte sie sich zurück. Der Nebel begann sich auch zu lichten. Die Alleebäume waren inzwischen gut erkennbar. Irmi beschleunigte auf der schnurgeraden Strecke. Hier war immer wenig Verkehr. Weit voraus kam ihr ein Auto entgegen. Sie blendete ab. Der andere Wagen fast zeitgleich mit ihr. Irgendetwas stimmte jedoch nicht. Normalerweise war doch der Gegenverkehr auf der linken Spur unterwegs. Doch dieser Wagen fuhr konstant rechts auf ihrer eigenen Spur. Irmi gab nervös Lichthupensignale. Der andere Wagen ebenfalls.

      Er musste sie gesehen haben, war aber bestimmt einer dieser sturen Raser, die in Brandenburg so häufig anzutreffen waren. Diese Leute machten sich einen Spaß daraus, andere zu ärgern und ihnen zu zeigen, wer die Herren der Landstraße waren. Irmi hatte schon oft rücksichtslose Fahrer erlebt. Lückenspringer, Überholer, Slalomfahrer, Bremser ..., das ganze Spektrum.

      Aber dieser hier schien schon ein sehr hartnäckiger und abgebrühter Typ zu sein. Der Wagen hielt stur auf sie zu. Irmi wurde nervös.

      Was sollte das denn?

      Hatte der im Nebel die Spur verwechselt?

      Aber so dicht war der Nebel nicht mehr. Man konnte die Straße leidlich erkennen. Auch die Alleebäume waren als Schatten gut zu erahnen. Sie schaute kurz auf ihren Tacho. Hundertzehn. Eigentlich keine zu hohe Geschwindigkeit für diese gerade Allee. Es gab hier keine Kurven, nichts, kein Hindernis oder sonst etwas ...

      Im Bruchteil einer Sekunde begriff sie: dieser Wagen, der ihr da auf der rechten Spur entgegenkam, hatte es auf sie abgesehen. Er wollte sie abdrängen von der Straße!

      Irmi reagierte instinktiv. Sie riss das Lenkrad herum und spürte im selben Moment wie das sonst so sichere und zuverlässige Fahrzeug sich wie ein störrisches Lebewesen aufführte. Ungeahnte Kräfte zogen an ihr. Sie sah plötzlich den Baum, der mit einer überirdischen Geschwindigkeit auf sie zuraste.

      Bäume können doch gar nicht rasen!

      Das war der letzte klare Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss. Dann hörte sie nur noch ein ohrenbetäubendes Bersten und spürte einen gewaltigen Schmerz, der alles in ihr zu zermalmen schien. Plötzlich war es still.

      Eine Minute später fuhr ein dunkler Daimler im Schritttempo an der Unfallstelle vorüber. Wahrscheinlich ein neugieriger Gaffer.

      VI

      Gernot Hülpenbecker

      Die Meldung im Verkehrsfunk hatte Hülpenbecker etwas verstört. Er würde zu spät kommen. Das war ihm peinlich. Er kam stets pünktlich, egal ob beruflich oder privat. Pünktlichkeit war für Gernot Hülpenbecker eine Basistugend.

      Weiträumige Umfahrung! Wie sollte man denn hier etwas weiträumig umfahren? So gut kannte er sich nun doch nicht auf den Straßen Brandenburgs aus, um spontan eine weiträumige Umfahrung der B 2 aus dem Ärmel zu schütteln.

      Er äugte etwas angestrengt aus dem Fenster. Draußen nebelte es so vor sich hin, nur schemenhafte Schatten waren zu erkennen. Das konnte ja noch heiter werden!

      Nervös nestelte Hülpenbecker an seinem Jackett herum. Irgendwo musste doch das blöde Handy stecken. Unbedingt sollte er beim alten Quappendorff Bescheid sagen, dass es etwas später werden könnte. Dabei hatten sie extra noch gestern telefoniert, ob er nicht etwas früher ... Der Baron wollte mit ihm noch ein paar grundsätzlich wichtige Dinge besprechen wegen der Kreditlinie und überhaupt, wie es mit der Stiftung finanziell so weitergehen sollte.

      Hülpenbecker wusste um die Sorgen des alten Herrn. Bisher hatte sich dessen Neffe Lutger meist um die Finanzen gekümmert. Lutger war ein seelenloser Technokrat der neuen Schule. Der warf nur so mit Anglizismen um sich, faselte etwas von Break-Even-Points und schneller Kapitalverbrennung, telefonierte dauernd während der Gespräche mit irgendwelchen Leuten und knallte ihm dann solche Sätze um die Ohren wie etwa »Think big!« oder »Future is now!«.

      Die aufbereiteten Zahlen, die Lutger jedoch vorlegte, waren meist jedoch nur sehr stümperhaft zusammengetragen und eine Auswertung fehlte auch. Hülpenbecker musste jedes Mal die lose Blattsammlung noch einmal neu zusammenstellen und in ein brauchbares Tableau verwandeln. Als Stiftungsratsmitglied hatte er natürlich auch ein gewisses Interesse, dass dieses Projekt nicht zu einer lächerlichen Posse verkam. Und als Banker musste er das Ganze auch gegenüber seinen Mitarbeitern vertreten können. Speziell seine drei Stellvertreter, Müller, Schulze und Meier – ja, so hießen die nun mal - blickten immer sehr argwöhnisch auf alle seine Aktivitäten.

      Und jetzt tuckerte er mit Tempo dreißig auf einer einspurigen Straße durch Dörfer, deren Namen er heute das erste Mal las: Rüdnitz, Danewitz, Melchow. Die Ortschaften gehörten nicht mehr zum Kreis Oberhavel, daher kannte er sie auch nicht.

      Nach einer halben Stunde hatte er vollständig die Orientierung verloren. Er bewegte sich durch das tiefste Niemandsland inmitten des Barnim und wusste nicht so recht, wie nun weiter. Entnervt hielt er an einer kleinen Tankstelle.

      Eine etwas mollige Dame hinterm Tresen des Verkaufspavillons half ihm dann: »Na hier sindse gaanz falsch! Da müssense wieda zurück, so wiese jekommen sinn... bis Danewitz… un daaa biegense ab nach Biesenthal. Dann findense aleene weita!«

      Hülpenbecker tuckerte also wieder zurück. Es war inzwischen schon kurz vor Acht. Eigentlich wollte er jetzt schon auf Gut Lankenhorst sein. Er probierte es noch einmal per Telefon. Sein erster Anruf war auf dem Anrufbeantworter gelandet. Vielleicht war ja inzwischen der Baron erreichbar.

      Hülpenbecker sah stets leicht bekümmert aus. Seine Physiognomie schwankte meist zwischen verstört und zerknirscht. Einen optimistischen Blick gab es von dem unscheinbaren Mann, der geschätzt Mitte Vierzig alt zu sein schien, eigentlich gar nicht. Wahrscheinlich waren der dauernde Umgang mit den Zahlen und der permanente Druck, noch mehr Zahlen zu produzieren, Schuld an diesem Zustand.

      Dabei hatte sich Hülpenbecker nichts vorzuwerfen. Er hatte eine mustergültige Karriere durchlaufen. Als kleiner Angestellter der Kreissparkasse Oranienburg hatte er sich durch Fleiß und Akribie bis zum Filialleiter der jetzigen Märkischen Bank Oberhavel hochgearbeitet. Stets hatte er die Auflagen, die von der fernen Zentrale in Potsdam kamen, erfüllen können. Sein Ressort stand nicht schlecht da und auch sein Engagement für regionale Kunden wurde als absolut lobenswert erachtet. Dennoch hatte Hülpenbecker immer so ein Gefühl, als ob man ihn argwöhnisch beobachte und tunlichst auf einen Fehler warte, den er vielleicht gemacht haben könnte.

      Vielleicht waren daran auch seine drei Stellvertreter Müller, Schulze und Meier Schuld. Sie waren eigentlich vollkommen nichtssagende Menschen, sahen alle drei gleich unsympathisch aus, begegneten ihm stets mit einer ausgesprochen unangenehmen Freundlichkeit und machten stets den Eindruck, wieselflink und superschlau zu sein. Obwohl sie alle mindestens zehn Jahre jünger als Hülpenbecker waren, erweckten sie den Anschein, als ob sie schon viel länger in der Bank tätig waren und über alle Vorgänge genauestens Bescheid zu wissen.

      Hülpenbecker seufzte. Nein, immer noch war nur der Anrufbeantworter zu erreichen. Es war inzwischen schon kurz nach Acht und er hatte gerade das Ortseingangsschild von Biesenthal hinter sich gelassen. Erstaunlich viel Polizei und andere Blaulichtfahrzeuge waren unterwegs. Er erinnerte sich an den Grund für die weiträumige Umfahrung. Vollsperrung wegen eines Unfalls. Ja, natürlich, sonst müsste man ja schließlich auch nicht am Montagmorgen eine Fernverkehrsstraße sperren.

      Er lavierte zwischen den vielen Fahrzeugen durch das Städtchen. Biesenthal war eine langgestreckte Siedlung. Viel Grün war zwischen den einzelnen Ortsteilen. Der eigentliche Ortskern mit dem schönen alten Fachwerkrathaus, der Kirche und dem winzig kleinen Marktplatz lag leicht abseits. Obwohl Biesenthal gerade mal fünftausend Einwohner hatte, gab es zwei große Kirchen. Eine barock anmutende Katholische Kirche und eine schlichte, typisch märkische Evangelische Kirche. Von weitem sah das Städtchen daher immer etwas imposanter aus, als es wirklich war.