Thomas L. Viernau

Kranichtod


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eine ganz andere Geschichte.

      Immerhin, seine eigene Generation hatte es zu etwas gebracht, ohne dass der alte Adelstitel dafür herhalten musste. Das »von« im Namen ließen daher die Quappendorffs in der neuen Republik weg. Es passte nicht mehr in die Zeit.

      Erst als nach der Wende plötzlich wieder die Möglichkeit auftauchte, die alten Güter im Brandenburgischen zu erwerben besannen sich die Geschwister wieder ihrer blaublütigen Herkunft. Insbesondere Hektor geriet bei der Aussicht auf ein altes Schloss mit Park und Ländereien ins Schwärmen. Er steckte mit seinem Enthusiasmus seine beiden Geschwister und die nachfolgende Generation an. Als Verwaltungsbeamter wusste er natürlich, wie und wo man seine Ansprüche geltend machen konnte.

      Es war ein langwieriger und mühsamer Kampf. Die neugegründeten Behörden in den Neuen Bundesländern, so wurde dieses Stück Deutschland im offiziellen Sprachgebrauch genannt, erwiesen sich als ausgesprochen amateurhaft und unprofessionell.

      Hektor ließ sich also kurzerhand in den Osten versetzen. Amtshilfe wurde das genannt. Viele Beamte aus den Altbundesländern nutzten diese Chance um ihrer Karriere noch einmal etwas Auftrieb zu verleihen. Der »Fahrstuhl« war hier deutlich schneller und meist ging es auf eine »Etage«, die man so in den Altbundesländern nie erreicht hätte.

      Hektor suchte sich also eine Wohnung in einem Dörfchen unweit des Gutes Lankenhorst, fügte wieder das »von« in seinen Namen ein und bewarb sich um den Posten des Landrates im Kreis Gransee, der bald im neuen Landkreis Oberhavel aufgehen sollte.

      Tragisch war nur, dass Hektor, kurz nachdem er Landrat geworden war, an einem Herzinfarkt starb. Das Ganze war doch etwas zu viel für ihn gewesen. Er hinterließ eine gut zwanzig Jahre jüngere Witwe und einen kleinen Sohn. Die junge Witwe sah sich bald nach etwas Trost um und zog dann kurzerhand nach Mallorca. Dort hatte ihr Trost eine niedliche Finca in den Bergen und bot ihr ein Leben in Saus und Braus. Lutger, der kleine Sohn aus ihrer Ehe mit Hektor, kam auf ein Internat in der Schweiz.

      Rochus, der damals noch als Studienrat an einem Gymnasium im Rheinland tätig war, hatte seinem Bruder Hektor auf dem Totenbett versprochen, sich um Lutger zu kümmern und die Lebensaufgabe der jetzigen Quappendorffs zu einem positiven Ende zu bringen. Seine eigenen Pläne konnte er ja dabei geschickt integrieren.

      Die Quappendorffs waren jetzt alle wieder mit einem »von« im Namen ausgestattet und zogen in die Neuen Bundesländer. Anfangs wohnte Rochus, der inzwischen verwitwet war, noch in Biesenthal, unweit des Gutes, in einer Mietwohnung.

      Seine beiden Töchter waren schon flügge, studierten in der weiten Welt und kamen nur noch zu den großen Feiertagen kurzzeitig auf Besuch.

      Auch Lutger, der nach der Matura, dem Schweizer Abitur, eine Karriere beim Militär anstrebte, ließ sich häufiger blicken. Mit seiner Mutter hatte er sich gründlich verkracht. Lutger fühlte sich dem Namen verpflichtet und war oft bei Onkel Rochus zu Gast. Seine militärischen Ambitionen musste er schweren Herzens aufgeben. Das schwache Herz, wahrscheinlich ein Erbe seines zu früh verstorbenen Vaters, machte einen Strich durch die Rechnung. Lutger studierte Betriebswirtschaft und begann in einem renommierten Bankhaus eine Karriere als Controller.

      All das ging dem alten Mann durch den Kopf, als er in seinem Bett lag und die Ereignisse dieser Herbstnacht noch einmal versuchte einzuordnen. Nicht das er abergläubisch war oder an sonstige metaphysische Dinge glaubte, aber der Spuk in dieser Nacht war doch etwas zu viel des Guten gewesen. Entweder versuchte hier jemand, ihn vollkommen zu verunsichern und aus dieser Verunsicherung heraus Kapital zu schlagen oder es erlaubte sich jemand einen geschmacklosen Scherz.

      Beide Varianten waren gleichwohl unangenehm. Mit letzterem jedoch könnte er sich jedenfalls noch eher arrangieren. In Gedanken ging er noch einmal die Personen seines Umfelds durch, die dafür in Frage kämen. Aber keinem war so etwas zuzutrauen.

      II

      Gut Lankenhorst

      Montagmorgen, 23. Oktober 2006

      Der neue Tag schien sich zu verspäten. Dichter Nebel machte sich überall breit. Die Bäume im Park waren nur als dunkle Schemen erkennbar. Ein milchig trübes Licht kämpfte sich durch die letzten Dunkelzonen der Nacht.

      Am Fenster des rechten Seitenflügels stand der alte Baron und schaute in das große Nichts. Dieses Wetter hier in der Mark Brandenburg machte ihm doch merklich mehr zu schaffen, als er sich eingestehen wollte. Den größten Teil seines Lebens hatte er im freundlichen und vom Klima begünstigten Rheinland mit seinen sanften Hügeln und Weinbergen verbracht. Oft waren dort die Winter ausgefallen und der Herbst war nur ein milder Sommerausklang. Man konnte lange draußen bleiben, die Nächte waren sanft. Doch hier war alles etwas rauer.

      Er lebte jetzt schon mehrere Jahre in der Mark. Anfangs hatte er gedacht, dass er sich an das kühlere Klima und die sonnenarmen Tage gewöhnen könnte, aber es fiel ihm zunehmend schwerer, sich mit dem immerwährenden Nebel, dem Regen und den wilden Windböen zu arrangieren. Aus seiner Kindheit hatte er nur sonnige Sommertage in seinem Gedächtnis gespeichert. Die trüben Wintertage und endlosen Herbststürme hatte er ausgeblendet.

      Aber es gab sie. Sie waren präsent und sie wirkten natürlich aufs Gemüt, auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte.

      Eigentlich war der Baron ein Optimist, ein Idealist oder auch ein positiver Träumer, der seine Träume auch in praxi umgesetzt hatte. Aber die Wiederbelebung von Gut Lankenhorst und die Betreuung all der vielen Projekte, die damit zusammenhingen, kostete ihn mehr Kraft als er je zu ahnen gewagt hätte. Sein Optimismus war inzwischen ausgehöhlt. Zur Schau stellte er immer noch seine Zuversicht, dass alles gut werde. Tief im Innern wusste er jedoch, dass es noch viele Jahre brauchte, um dieses Großprojekt endlich zum Laufen zu bringen. Und ob er selbst es noch sein würde, der die Früchte seines Handelns einfahren könnte, war ungewiss.

      Ein Windhauch traf ihn plötzlich. Ihn fröstelte. Er musste an seine beiden Töchter denken, die er heute wieder sehen würde. Sonst freute er sich immer auf diesen Augenblick, aber heute hatte er ein bedrückendes Gefühl. Als ob etwas nicht stimmen würde. Die Ereignisse der letzten Nacht kamen wieder in sein Bewusstsein und er dachte an seinen nächtlichen Spaziergang durch den Park.

      Ihm fiel die unheimliche Begegnung mit dem weißen Schatten wieder ein und auch die grausame Entdeckung der toten Vögel direkt vor der großen Treppe. Ein Gefühl des Ausgeliefertseins an unheimliche Mächte konnte er nicht mehr verdrängen.

      Wie ein Wink aus dem Jenseits standen die unheimlichen Spukbilder seiner Kindheit vor ihm. Er schüttelte kurz den Kopf, zog seine Strickjacke zusammen und wandte sich ab. Zwiebel kam in zwanzig Minuten zum Dienst. Er würde mit ihm über diese grässlichen Vogelkadaver sprechen müssen. Noch mehr Kopfzerbrechen bereitete ihm jedoch im Moment das heutige Treffen des Stiftungsrats.

      Bevor er den gesamten Stiftungsrat treffen würde, hatte er noch vor, mit seinem Vertrauten Hülpenbecker über die Finanzierung seiner Projekte in den nächsten Monaten zu sprechen. Die Kreditlinie, die ihm Hülpenbeckers Bankhaus so großzügig gewährt hatte, war ausgereizt. Die Konten waren allesamt am Rande des gewährten Dispokredits und verharrten da seit ein paar Monaten auch hartnäckig. Hülpenbecker hatte bereits telefonisch angedeutet, dass man eine Lösung finden müsse um weiterhin liquide zu bleiben. Dabei hatte er etwas von EU-Geldern erwähnt und auch irgendwelche Bundeshilfen in Aussicht gestellt.

      Der Baron überließ solche Sachen gern seinem Neffen Lutger. Der hatte beruflich mit so etwas sowieso zu tun, kannte die entsprechenden Gesetze und wusste, wo es was zu beantragen galt. Lutger hatte da eine gewisse Professionalität im Umgang mit den Beamten, die ihm vollkommen fehlte. Er kam sich stets wie ein armer Bittsteller vor, dem es peinlich war, Fördergelder in Anspruch nehmen zu müssen. Hülpenbecker beruhigte ihn da zwar immer. Keine moderne Investition in solch strukturschwachen Gegenden käme heutzutage ohne entsprechende Förderung seitens des Landes, des Bundes oder der EU mehr aus. Und was er da mache, nun ja, es wäre ja zum Wohle der Allgemeinheit und nicht zu seiner privaten Bereicherung. Also brauchte er auch keine Gewissensbisse zu haben, wenn er solche Fördertöpfe anzapfe.