Thomas L. Viernau

Arkadiertod


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Spaziergang fort. Langsam kroch die nasse Dezemberkälte in ihm aufwärts.

      Ja, die Idee mit der Musik, da wollte er unbedingt etwas ausprobieren. Er hatte mit Louise öfters Musik gehört, meist beim Autofahren.

      Sie mochte Jazz, das hatte sie ihm einmal erzählt. Es gab einen Radiosender, der sich dem Jazz verschrieben hatte: Jazzradio. Linthdorf kannte den Sender. Er lag direkt neben seinem Lieblingskanal, Klassik-Radio. Manchmal, wenn zu viel Kommerz zwischen den Musikstücken hervorquoll, schnappte Linthdorf rüber ins Jazzradio. Die sparsame Moderation und die meist zeitlosen Klänge des Free Jazz waren für ihn ein angenehmes Kontrastprogramm zu Beethoven, Dvorak, Strawinsky und Ravel. Er wollte ein paar CDs zusammenstellen mit gutem Jazz und einen Player mit ins Krankenzimmer bringen. Vielleicht kamen die Klänge durch zu ihrem Innersten.

      Linthdorf hatte die alte Matrosenstation Kongsnaes passiert, besser gesagt, die Stelle, an der sie früher mal war. Vor fünf Jahren hatte ein nach der Wende entstandener Förderverein den Torbogen wiedererrichtet. Neben den drei Wohnhäusern der ehemaligen Matrosenmannschaften war der Torbogen im Moment das einzige, was auf die kaiserliche Bootsstation hinwies. Die Gebäude waren allesamt im norwegischen Drachenstil erbaut worden, einer Mischung aus Alpenhütten und Wikingerbauten. Dunkles Holz in Blockbauweise gezimmert, hell abgesetzte Fenster, feine Verzierungen, die an nordische Sagen erinnerten.

      In einem der Heftchen der Arkadischen Gesellschaft hatte Linthdorf gelesen, dass es in diesem Jahr eine erneute Ausschreibung zur Wiederherstellung der Matrosenstation gegeben hatte. Auch die beiden kaiserlichen Salondampfer, die Dampfyacht »Alexandria« und die Minifregatte »Royal Louise« kreuzten als Nachbau wieder auf dem Jungfernsee und dessen Nachbargewässern.

      Irgendwann sollten die große Vente-Halle und der Bootsschuppen wieder erbaut werden. Das ganze Gebäudeensemble gehörte jetzt schon zum UNESCO-Weltkulturerbe der Berlin-Potsdamer Park-und Schlösserlandschaft, ebenso die Villa Schöningen, die am vorderen Ende der Schwanenallee noch im Dornröschenschlaf vor sich hindämmerte und auf ihre Wiedergeburt wartete.

      Linthdorf bog über das kleine Brückchen am Nedlitz-Durchstich in den Neuen Garten ein.

      Das Wetter hatte sich verschlechtert. Nieselregen und heftige Windböen konnten ihm jedoch nichts anhaben. Er stapfte mit dem stoischen Gleichmut einer Maschine durch den Park. Das Laufen half ihm, die weihnachtliche, depressive Phase zu überstehen.

      Glücklicherweise erinnerte im Neuen Garten nicht viel an Weihnachten. Er folgte dem kleinen Pfad, der am Ufer des Heiligen Sees zum Marmorpalais führte. Auf dem Weg sinnierte er vor sich hin. Über Glück und Unglück, speziell die Wechselbäder des sich neigenden Jahres. Das Jahr war eine Achterbahnfahrt für ihn gewesen.

      Im Winter war er mit den ominösen Todesfällen in den großen Flüssen beschäftigt. Die Nixentode, so wurden die toten Frauen in der Presse genannt, verwickelten ihn in seine bisher kompliziertesten Ermittlungen. Wochenlang stocherte er im Nebel um einen Ansatz zu finden. Ohne die Unterstützung von Louise Elferdink und Alfred Stahlmann hätte er den verzwickten Fall nicht gelöst.

      Am Ende war Alfred tot, erschlagen von einem Psychopathen. Er hatte sich schützend vor Louise geworfen und sie damit gerettet.

      Umsonst!

      Louise lag jetzt im Koma. Zwischen Leben und Tod. Nach einem turbulenten Sommer, immerhin war ja auch noch die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland. Vier Wochen lag sich das ganze Volk in den Armen und jubelte den Helden auf dem Rasen zu.

      Linthdorf schaute diesem bunten Sommertreiben seltsam unbeteiligt zu. Er war kein Fußballfan und konnte auch dem Public Viewing nichts abgewinnen. Die Menschenmassen, die vor den Großbildschirmen ihre Feiern zelebrierten, waren für Linthdorf der blanke Stress. Er fuhr raus ins Grüne. Das machte ihm zehnmal mehr Freude als jedes geschossene Tor.

      Seine Kollegen schüttelten den Kopf über den Spielverderber und Spaßverweigerer. Obwohl er überall als ein umgänglicher und freundlicher Mensch bekannt war, wurde es immer einsamer um ihn.

      Die neue Aufgabe als Leiter der SoKo »Kranichtod« war für ihn eine echte Chance, neue soziale Kontakte aufzubauen und aus seiner Rückzugswelt wieder in die normale Großstadtwelt einzutauchen.

      Und dann war da ja auch noch Louise. Endlich, ja endlich, hatte er mal wieder das Gefühl von Zweisamkeit. Es machte ihn glücklich, er begann wieder über seine Zukunft nachzudenken.

      Abrupt wurden diese Träumereien beendet. Linthdorfs Glück dauerte gerade einmal einen Monat.

      Seit Anfang Dezember war er in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen. Zukunft gab es nicht mehr und die Gegenwart entpuppte sich als eine zähe, klebrige Zeitverschwendung, nur unterbrochen von den Spaziergängen an der Havel und den Besuchen in der Charité. Was für ein Jahr!

      Sein Traum von Glück war nur eine Illusion. Vorbei, vorbei … Doch weiter ging es, egal, wie es in seinem Herzen aussah. Er spürte die harten Brüche, die wie ein Fluch das Jahr durchzogen, tief in seinem Innersten. Es waren Erschütterungen, die den in sich ruhenden Mann in einer Art und Weise verstörten, wie er es nicht mehr für möglich gehalten hatte. Als ob er noch einmal in die stürmischen Jugendjahre zurückgefallen war. Himmel hoch jauchzend und zu Tode betrübt.

      Schmerzhaft.

      Es stach manchmal so, dass ihm der Atem stockte.

      Doch die ganze Wehklagerei und das Gejammer nutzten nichts. Linthdorf wusste das. Egal, wie heftig das Pendel auch ausschlug, Linthdorf bewahrte die Fassung. Er ließ nichts nach außen dringen von seinen inneren Seelenzuständen.

      Langsam lenkte er seine Schritte wieder zurück Richtung Glienicker Brücke. Dort wartete sein Wagen. Es war Zeit, nach Berlin zu fahren. Immerhin hatte er heute noch ein Treffen.

      Visionen einer Königin

       Wir sind eingeschlafen auf den Lorbeeren Friedrich des Großen… Es kann nur gut werden in der Welt durch die Guten…, deshalb bin ich der Hoffnung, dass auf die jetzige böse Zeit eine bessere folgen wird.

      

       Luise Auguste Wilhelmine Amalie, Königin von Preußen, Herzogin von Mecklenburg-Strelitz

       in einem Brief an ihren Vater

      

      I

      Osterode bei Königsberg in Ostpreußen

      Sonntagabend, 2. November 1806

      Das kleine Städtchen Osterode im Schnittpunkt der Handelswege zwischen den alten Ordensritterstädten Elbing, Allenstein und Graudenz gelegen, hatte schon viele schreckliche Ereignisse in seiner langen Geschichte über sich ergehen lassen müssen. Feuersbrünste, Überfälle der Litauer, Belagerungen durch die Ordensritter, Pest und Cholera hatten ihre Spuren hinterlassen.

      Doch jetzt bekam das Städtchen plötzlich königlichen Besuch. Friedrich Wilhelm III., seine Gattin, Königin Luise und ihre wichtigsten Minister weilten in der Stadt. Sie waren auf der Flucht vor Napoleons Truppen in die abgelegenen Ostprovinzen des Königreichs geflohen. Hier war noch nichts von dem Weltenbrand zu spüren, den der umtriebige Korse in ganz Europa entfacht hatte. Ein Königreich nach dem anderen fiel dem Franzosenkaiser fast kampflos zu.

      Das einst in ganz Europa gefürchtete Preußen hatte gerade einmal drei Wochen dem Druck der Franzosen standgehalten. Dann fiel es um wie ein Kartenhaus im Wind. Der König war paralysiert. Er wirkte in sich gekehrt, murmelte dauernd etwas vor sich hin, dass er diesen Krieg nicht gewollt habe und dass alles zu spät sei. Seine Gattin, Königin Luise, versuchte zwar, seine Stimmung etwas aufzuhellen, aber vergeblich.

      Während Napoleon sich in Berlin feiern ließ und im Hohenzollernschloss residierte, waren hier im kleinen, stillen Osterrode die letzten Getreuen des Königs versammelt und beratschlagten, was man in dieser ausweglosen Situation noch machen könne.