Thomas L. Viernau

Arkadiertod


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Temperaturen und der veränderten Gasanteile der Umgebungsluft sei es wohl sehr schwierig, einen exakten Todeszeitpunkt anzusetzen. Eine mikrobiologische Untersuchung wäre hier wohl unerlässlich. Aber das würde doch etwas länger dauern. Eine erste vorsichtige Schätzung ging von einem Todeszeitpunkt vor fünf bis acht Wochen aus. Linthdorf atmete tief durch. Wieso hatte keiner bemerkt, dass da ein Mensch einfach spurlos verschwunden war?

      Die Spurensicherung hatte ebenfalls ihren Bericht angehängt. In den Taschen des Mannes habe man nichts gefunden außer ein paar Tabakkrümeln und ein unbenutztes Papiertaschentuch. Weder Papiere noch eine Brieftasche oder ein Portemonnaie hatte der Mann bei sich. Die Abgleichung der biometrischen Daten mit den diversen Datenbanken der Polizei hatte auch nichts gebracht. Auch die am Fundort vorgenommene Untersuchung der direkten Umgebung war ergebnislos.

      Inwieweit der Mann durch die auf ihm lagernden Apfelmengen bereits bewusstlos war oder noch lebte, konnte bisher nur vermutet werden. Linthdorf musste an die beigefügten Fotos denken. Der Gesichtsausdruck hatte da schon eine gewisse Aussagekraft.

      Linthdorf arbeitete sich systematisch durch das gesamte Material, las auch noch einmal die gestrigen Protokolle.

      Ein Blick auf die Uhr, es war kurz nach Eins. Ein Magenknurren meldete den Hunger an. Heute hatte die Kantine ein schmales Angebot. Nur wenige Mitarbeiter waren über die Weihnachtsfeiertage im Dienst. Etwas enttäuscht packte sich Linthdorf ein paar belegte Brötchen auf sein Tablett, dazu eine Apfelsine und ein paar Kiwis.

      Weihnachten hatte hier in der Kantine vollends seinen romantischen Reiz verloren. Obwohl ein künstlicher Tannenbaum festlich geschmückt auf einem kleinen Tischchen direkt neben der Kasse aufgebaut worden war und auf jedem der quadratischen Tische kleine Vasen mit Tannengrün und einer Kerze standen, verbreitete die Kantine die anheimelnde Atmosphäre einer Bahnhofswartehalle.

      Linthdorf war es ganz recht so. Er schälte sorgfältig seine Apfelsine und verspeiste sie dann mit großem Appetit. Vitamine konnte man in der dunklen Jahreszeit gut gebrauchen.

       Fette Krebse, volle Gläser,

       wenn du nicht trinkst, ist die beste Zeit dahin.

      

       Qi Bai Xi 1924

      VI

      Potsdam, Havelufer der Berliner Vorstadt

      Dienstag, 26. Dezember 2006

      Auch am zweiten Weihnachtsfeiertag war das Wetter trübe. Ein fahlgrauer Himmel erzeugte die Illusion von Taghelligkeit. Die Temperaturen schlichen wie schon an den Vortagen zwischen Null und Sieben Grad herum. Am Havelufer fütterte ein großer Mann mit schwarzem Hut und Mantel eine große Schar von Blesshühnchen, Stockenten und Schwänen, die allesamt im Uferbereich aufgeregt hin und her schwammen.

      Linthdorf, niemand anderes war dieser ominöse Entenfütterer, hatte den Tagesrhythmus wiederaufgenommen, den er seit drei Wochen kultivierte. Jeden Tag machte er seinen Morgenspaziergang entlang der Havel auf der Schwanenallee, beginnend an der Glienicker Brücke, vorbei an der im Winterschlaf vor sich hindämmernden Villa Schöningen, den Resten der kaiserlichen Matrosenstation Kongsnaes bis hin zum Nedlitz-Durchstich in den Neuen Garten. Dabei beobachtete er das Wasser.

      Die Havel hatte sich hier an der Grenze zur Millionenstadt Berlin zu einem kleinen See verbreitert, dem der schöne Name Jungfernsee verliehen worden war. Direkt gegenüber konnte er die Bauten von Park Glienicke beobachten. Das Casino, die Große Neugierde und das Hofgärtnerhaus leuchteten aus dem dunklen Park hervor. Dort war er ebenfalls oft unterwegs.

      Schaute er schräg nach vorn, sah er den Campanile der Sacrower Heilandskirche. Jetzt im Winter konnte man sogar das Gutshaus erkennen, das im Sommer immer hinter dem Blattwerk der Parkbäume verborgen blieb.

      Direkt vor ihm hatte er einen Blick auf die Alte Meierei. Da gab es inzwischen wieder eine vorzügliche Gaststätte mit Seeterrasse und Bootsanleger. Weiter entfernt am Horizont ragte der Fernsehturm vom Schäferberg in den grauen Himmel.

      Blickte er zurück zur Glienicker Brücke, konnte er Schloss Babelsberg auf einer kleinen Anhöhe erkennen. Kurz vor dem Nedlitz-Durchstich tauchte auch die Pfaueninsel am Horizont auf. Das kleine Schlösschen auf der Insel strahlte reinweiß über den See. Linthdorf musste jedes Mal lächeln, wenn er es sah. Es war ein potemkinsches Vehikel. Die imposante Fassade war eine Verblendung aus Holz. Das eigentliche Gebäude war nur ein kleiner, einfacher Bau.

      Er liebte diese Gegend mit den vielen Prachtbauten, die wie an einer Perlenkette das Havelufer säumten. Zumal ihm hier kaum Leute begegneten. Nur die Flattertiere, so nannte er die Wasservögel, waren seine treuen Begleiter. Beim Laufen am Ufer konnte er seinen Gedanken nachhängen.

      Die letzte Großaktion, die er mit der SoKo »Kranichtod« anleitete, hatte tiefe Spuren in seiner Seele hinterlassen. Da war vor allem die Jagd nach den drei Drahtziehern des ausgefeilten Betrugsnetzwerks in den verlassenen Bauten von Bogensee, die mit dem Auffinden seiner leblosen Kollegin Louise Elverdink in den Kellergewölben endete. Sie lag da unten schon wer weiß wie lange ohne Bewusstsein.

      Keiner konnte ihm sagen, was genau passiert war. Die drei Hauptschuldigen schwiegen. Linthdorf spürte längst schon mehr als nur kollegiale Freundschaftsgefühle für die Kriminalistin. Sie waren sich näher gekommen bei der Suche nach den verschwundenen Steuergeldern und der Jagd auf die Mörder im Hause Lankenhorst.

      Louise lag seit diesen Vorgängen im Nebel von Bogensee in einem hoffnungslosen Komazustand.

      Endlich entdeckte Linthdorf eine größere Ansammlung von gefiederten Wasserbewohnern. Sein Baumwollbeutel war prall gefüllt mit Brotresten aus der Kantine, die er dort von der Köchin bekommen hatte. Sie war gestern seine einzige Gesprächspartnerin. Er hatte sich mit ihr fast anderthalb Stunden angeregt bei mehreren Gläsern Glühwein unterhalten. Sie war überrascht über die Vorliebe des stets freundlichen Kriminalisten für einsame Havelspaziergänge. Linthdorf war froh, mit jemanden über die inzwischen schon ein paar Wochen zurückliegenden Ereignisse sprechen zu können.

      Die Köchin war eine lebenskluge Frau. Sie spürte, dass sich ihr Gesprächspartner in einem trostlosen Dilemma befand. Linthdorfs aufkeimende Liebe zu der Kollegin aus dem fernen Brandenburg/Havel hatte wenige Zukunftschancen. Sie ahnte es.

      Er verdrängte den Gedanken.

      Was wäre, wenn Louise nicht mehr aufwachen würde? Oder wenn sie aufwachen würde und ihn nicht mehr erkannte?

      Oftmals war ein solcher Komazustand mit Gedächtnisverlust verbunden. Manchmal verfielen Komapatienten nach ihrem Aufwachen in einen traumatischen Seelenzustand, vergleichbar einer großen Depression.

      Linthdorf wusste um diese ganzen Unwägbarkeiten. Wie an einem seidenen Faden hing seit Wochen nun schon sein kleines, privates Glück. Der Faden zum Zerreißen gespannt, und er, Linthdorf, konnte diese Spannung kaum noch ertragen. Das bisschen Glück, das er zum Greifen nahe spürte, entschwand, löste sich auf in einem diffusen Nebel.

      Der Köchin, die er nur von seinen Kantinenbesuchen oberflächlich kannte, schüttete er jetzt an diesem tristen Weihnachtsfeiertag sein Herz aus. Es war eine Zentnerlast, die ihm wenigstens für kurze Zeit von der Seele fiel.

      Zum Abschluss gab sie ihm noch den Tipp, seiner Louise doch mal etwas Musik vorzuspielen. Wenn schon keine direkte Verbindung zu ihr möglich sei, über Melodien würde das Unterbewusstsein vielleicht angeregt … Man habe ja schon von kleinen Wundern gehört.

      Linthdorf musste lächeln, wenn er an diesen Ratschlag dachte. Ja, darauf hätte er auch selber schon kommen können.

      Der Brotbeutel war fast leer. Seine Flattertiere waren erstaunlicherweise immer noch hungrig. So viel Hingabe hatte er nicht erwartet. Sie schauten ihn aus ihren kleinen runden Knöpfchenaugen fragend an. War das etwa schon alles?

      »Jungs, das war’s. Morgen komm‘ ich wieder. Dann gibt’s mehr. So, nun flattert mal wieder los.«

      Die