traf und bedrückte uns alle, doch die Familie Moore wollte nach außen nicht viel Aufhebens darum machen.
Die Yorkshire Post, die Leeds Mercury und die Keighley News publizierten warmherzige Gedenkartikel, wobei Billys Karriere als Motorradfahrer im Fokus stand, bevor sie über die öffentliche Untersuchung berichteten, die laut Gesetz vorgeschrieben war. Ich ging nicht dorthin, sah aber die Berichte, in denen man den Leichenbeschauer (Pathologen gab es ja noch nicht als solche) und die Polizei in vollem Umgang zitierte. Meinem Vater blieb von behördlicher Seite eine Zeugenaussage erspart, vermutlich wegen seiner Taubheit. Basierend auf Aussagen von Elsie und dem zufällig vorbeigekommenen Mann, der als Erster den Schauplatz des tragischen Ereignisses betrat, schätzte der Mediziner, dass Billy schon drei Stunden lang tot gewesen war, als Elsie ihn entdeckte. Nachdem er sich die ganzen Berichte angehört hatte und da kein Abschiedsbrief zu finden war, schickte der Leichenbeschauer uns einen Abschlussbericht, in dem er Billys Ableben als Unfalltod aufgrund einer Kohlenmonoxidvergiftung angab. Er stellte fest, dass Billy zum Todeszeitpunkt eine Reparatur an seinem Wagen durchgeführt und nicht erkannt habe, dass er in dem engen Raum an den Abgasen sterben konnte. Wir waren alle dankbar über dieses Urteil, auch wenn wir es besser wussten. Billy war kein Idiot gewesen.
Elsie erholte sich nie wieder von der Tragödie. Sie schottete sich von uns und der Welt ab, verkaufte das Haus ein Jahr später und lebte zuerst in einem kleineren Heim einige Straßen weit weg. Dann – nach ein paar Jahren – zog sie noch weiter weg. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals wiedergesehen zu haben. Sie erlaubte mir nicht, etwas von Billys Habseligkeiten als Andenken aufzubewahren oder den Keller nach Ersatzteilen zu durchstöbern. Ich bin mir sicher, dass er es gewollt hätte. Ich durfte auch nicht die Motorradmagazine haben, denn Elsie beauftragte ein Entsorgungsunternehmen, das alles wegwarf. Es schien so, als habe Billy niemals existiert. Doch für mich war er da und lebte fortan in meinem Herzen weiter.
5
„Man muss nichts im Leben fürchten, sondern es nur verstehen.
Und nun ist die Zeit zu verstehen, damit wir uns weniger fürchten.“
Marie Curie (1867–1934)
Kurze Zeit nach Billys Tod schlugen meine Eltern vor, dass ich mit einigen Schulfreunden an einem Zeltlager für Jungs auf der Isle of Man teilnehmen sollte. Sie dachten wohl, es würde meine Stimmung aufhellen, da ich meinen Onkel schmerzlichst vermisste. Und schon ging es los. Ich packte den Koffer, nahm meine Kamera mit und verbrachte mit zwei anderen Jungs eine Woche in einer Holzhütte. Der eine war Stanley Shackleton, und den anderen kannte ich nur unter dem Namen Pickles.
Wir bereisten die ganze Insel, wo ich viele Fotos machte, die ich später mit Dad entwickelte. Auf eins bin ich immer noch ganz stolz. Es zeigt das berühmte Laxey Wheel, das größte funktionstüchtige Wasserrad der Welt. Es wurde ursprünglich 1854 entworfen, um Wasser aus einer Mine zu befördern, in der man Blei, Kupfer und Zink abbaute. Reisen ermöglichten mir eine Perspektive, die über meine eigene Welt hinausging, und in diesen Jahren wurde ich mir meiner glücklichen Situation bewusst. Ich war fit und gesund, hatte eine liebende Familie, ein Dach über dem Kopf und Essen auf dem Tisch. Man musste damals nicht weit schauen, um die Auswirkungen der Großen Depression zu sehen, der Weltwirtschaftskrise, die mit Massenarbeitslosigkeit einherging, in einer allgemeinen Nachkriegsrezession, die durch den Aktien-Crash 1929 noch verschlimmert wurde. In Keighley herrschte große Armut, und wenn die Fabriken betroffen waren, wirkte sich das blitzschnell bei den Arbeitern aus. Einige setzten sich nach Spanien ab, um sich den 4000 britischen Freiwilligen anzuschließen, die dort „das Virus des Faschismus“ in einem erbitterten dreijährigen Bürgerkrieg bekämpften, den sie möglicherweise kaum verstanden. Manche haben sich wahrscheinlich durch das Angebot eines kleinen Solds verführen lassen. In Großbritannien gab es einige Hungermärsche, bei denen Männer und Frauen – vielen von ihnen aus dem Norden und somit den Gegenden der hohen Arbeitslosigkeit kommend – bis vor das Parlament zogen, um zu protestieren. In London fanden zahlreiche tumultartige Auseinandersetzungen statt und große Demonstrationen, die sich oft in regelrechte Schlachten verwandelten, während Premierminister Ramsay MacDonald eine dringliche Überprüfung der Arbeitslosenpolitik der Regierung anordnete. In den USA erfreute sich Franklin D. Roosevelt eines erdrutschartigen Siegs über seinen Kontrahenten, den vorherigen Präsidenten Herbert Hoover. Er hatte einen „new deal“ in Aussicht gestellt, darunter eine Arbeitslosenversicherung für die Bevölkerungsschichten, die keine Lobby hatten. Und in Deutschland war Adolf Hitler von der NSDAP nun schon drei Jahre lang Reichskanzler und mit ähnlichen Versprechen an die Macht gekommen. Er wollte die eingeschränkten Möglichkeiten des Landes nach dem Großen Krieg wieder verbessern und ausweiten.
Ich wusste, dass sich die Leute Sorgen wegen Hitler machten und sich vor dem zunehmenden Nationalismus in Deutschland fürchteten, doch das schien alles so weit entfernt zu sein – bis ich die erste Begegnung mit den Deutschen hatte, und das in meiner unmittelbaren Nähe. Im Mai 1936 tauchte die berühmte „Hindenburg“ plötzlich am sonnigen Abendhimmel in Keighley auf und schwebte dort beinahe bewegungslos zwischen den Wolken. Wir rannten alle aus den Häusern, um uns das gigantische silberne Luftschiff anzusehen, während Vater von seinem Zimmer aus ein seltenes Foto schoss. Mit einer Länge von über 246 Metern war die LZ 129 Hindenburg, die im März des Jahres ihren Jungfernflug gemacht hatte, der größte kommerziell genutzte Zeppelin der Welt. Sie flog mit circa 100 Passagieren und einer Crew nach und von Amerika und Brasilien. Auf dem Weg von Deutschland in die USA – es war eine geradezu epische dreitägige Reise – machte das Luftschiff, auf dessen Endflügeln Hakenkreuze prangten, einen Abstecher nach Keighley, einzig und allein, damit ein an Bord befindlicher Bote ein kleines Päckchen und Blumen zu Ehren seines Bruders Franz abwerfen konnte, der an der Spanischen Grippe verstorben war, mit der er sich 17 Jahre zuvor im Kriegsgefangenenlager von Skipton angesteckt hatte.
Zwei Jungen aus dem Ort – völlig verblüfft von dem riesigen Zeppelin, der wie ein Raumschiff über ihnen schwebte – hoben das Päckchen nahe des Devonshire Arms Inn auf und rannten nach Hause, um ihren Eltern davon zu berichten. Abgesehen von den Nelken hatten sie ein kleines Kreuz aus Jet gefunden und einen Brief mit dem folgenden Inhalt.
An den Finder dieses Briefes: Bitte legen Sie die Blumen und die Karten auf das Grab meines geliebten Bruders Leutnant Franz Schulte, 1. Garderegiment zu Fuß, Kriegsgefangener und bestattet auf dem Friedhof in Keighley, nahe Leeds. John P. Schulte, der erste fliegende Priester, Aachen, Deutschland. P.S. Bitte behalten Sie die Briefmarken und die Bilder als kleines Souvenir von mir. Gott schütze Sie! Ich hielt die erste Heilige Messe auf der Hindenburg am 9. Mai 1936.
Die Jungen befolgten die Bitte, und das Gedenkschreiben vom Himmel erregte landesweites Aufsehen. Die beiden schafften es sogar in die British Movietone News, woraufhin die Leute das Grab in Scharen aufsuchten. Es stellte sich heraus, dass Leutnant Schulte, 26, zur deutschen Luftwaffe gehörte und Bomben über London abgeworfen hatte, bevor man ihn in Kent abschoss. In den Houses of Parliament wurden plötzlich Fragen über die tatsächlichen Beweggründe der Stippvisite gestellt. Da die politische Lage in Europa Anlass zur Sorge gab, regten sich Befürchtungen, dass der Abwurf des Päckchens eine Finte gewesen sein konnten, um strategisch relevante Fotos der Gegend zur Vorbereitung möglicher Bombardierungen zu machen. Niemand hätte zu der Zeit ahnen können, dass die mit Wasserstoff befüllte Hindenburg ein Jahr später bei der Landung auf dem Flughafen des Stützpunkts der US-Marine in New Jersey, USA, lichterloh in Flammen aufgehen würde. 36 Menschen kamen ums Leben, doch der „fliegende Priester“ gehörte nicht zu den Opfern der Tragödie.
Ein anderes Ereignis lenkte in dem Sommer unsere Aufmerksamkeit auf Deutschland, denn man richtete die Olympischen Spiele in Berlin aus. Es waren die ersten, die übertragen wurden. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich mir einige der Wochenschauen im Lichtspielhaus ansah und dem amerikanischen Leichtathleten Jesse Owens applaudierte. Er gewann nicht weniger als vier Goldmedaillen, was den rassistischen Hitler zur Weißglut brachte, der seine besten Athleten aufgestellt hatte. Er weigerte sich, Owens die Hand zu geben.
Wie die meisten Teenager – und obwohl sich meine Eltern beide in der Conservative Association engagierten – hatte ich keine Ahnung, was Hitlers Politik für die Welt bedeutete. Ich konnte auch nicht einschätzen, welche umfangreichen sozialen Umbrüche die Weltwirtschaftskrise,