dass das Meer da ist, aber man sieht es nicht.
Nun saß sie auf dem Teppich und breitete den Inhalt der Schachtel um sich herum aus. Ihr Blick fiel auf ein kleines Foto, das ganz offensichtlich ihre Mutter zeigte. Sie stand vor einem verschneiten Lattenzaun, im Arm ein winziges Baby, dem sie einen innigen Blick schenkte. Ja, das musste sie selbst sein! Schließlich war sie im Januar auf die Welt gekommen. Ein liebevolles Wort drang in ihr Bewusstsein, ihre Mutter hatte es einst zu ihr gesagt, wenn sie als kleines Mädchen gefroren hatte: »Meine kleine Eisblume«. Zärtlich strich sie über das Foto. Die nächsten Bilder, möglicherweise am gleichen Tag aufgenommen, zeigten verschneite Häuser, eine Straße, eine Kirche. Dann Fotos vom Sommer, ihre Mutter im Kleid, daneben ein Junge, vielleicht 5 oder 6 Jahre alt, der stolz einen Kinderwagen schob. Ihren Kinderwagen? Einige Kinderbilder erregten ihr Interesse, von denen sie aber nicht sagen konnte, ob es sich darauf um sie oder ihre Mutter handelte. Irgendwie hatte sie gehofft, vielleicht ein Klassenbild zu finden, was die Mutter aufbewahrt hatte, doch es gab nichts dergleichen. Zu guter Letzt waren da noch ein paar alte Passbilder ihrer Mutter und eines von einem Mann. Auf der Rückseite nur ein Wort: Krzysztof. Kristinas Herz schlug plötzlich schneller. Wer war das? War das vielleicht ihr Vater? Ähnlich sah sie ihm dann wohl nicht sehr. Was aber kein Wunder war, sie war schon immer das Ebenbild ihrer Mutter gewesen. Der Vater, wer auch immer es war, hatte da den geringeren Teil hinterlassen.
Kristina seufzte. Statt etwas zu erfahren, taten sich in dieser Schachtel nur neue Fragen auf. Nachdenklich ließ sie die zerrissene Kette in ihre Hand gleiten. Der Anhänger war ein Herz, darauf zwei Symbole, ein Kreuz und ein Anker. Glaube, Hoffnung, Liebe. Wieviel Glauben, wieviel Hoffnung würde sie brauchen, eine Antwort auf alle diese Fragen zu finden?
Der Kühlschrank hatte auch heute nicht viel mehr zu bieten als Pizza. Wenn sie etwas anderes essen wollte, musste sie wohl noch einmal los. Kristina schlüpfte in ihre Schuhe, zog sich die Jacke über und lief die Treppe hinunter. Der örtliche Supermarkt war nicht weit entfernt, sodass sie das Auto stehen lassen konnte. Im Sommer war der Markt immer gut besucht. Vor allem die Campingurlauber deckten sich hier mit frischen Lebensmitteln ein. Doch jetzt war die Saison vorüber, der Laden fast menschenleer. Schnell hatte sie alle Lebensmittel gefunden und machte sich wieder auf den Heimweg.
Nachdem sie sich einen Tee aufgebrüht und das Abendbrot zubereitet hatte, glitt ihr Blick wieder über die Fotos. Hätte sie doch nur eher mit der Mutter über die Vergangenheit gesprochen! Sie hätte nicht locker lassen sollen. Ach, hätte… Jetzt musste ihr eben die moderne Technik helfen. Kristina zog sich den Laptop heran und startete das Suchprogramm. Das erste, was sie erblickte, als sie den Namen der Stadt eingegeben hatte, war ein altes Tor. Ja, das kannte sie! Doch die von Wikipedia gezeigten Stadtansichten schienen ihr fremd. Wahrscheinlich hatte sich auch viel verändert, sie war immerhin seit über 40 Jahren weg aus der Stadt. Schade, sie hatte gehofft, hier einige Erinnerungen zu finden.
Pünktlich erschien sie am nächsten Morgen im Büro. Kristina hatte die Fotos am Abend wieder zurück in die Schachtel gelegt. Es gab schließlich Wichtigeres. Ihr Leben war gut, so wie es war. Und nun wollte sie sich wieder dem Arbeitsalltag widmen. In Marks Büro saßen sie gemeinsam vor dem Rechner. Weil sich sein Aufgabengebiet, die Lagerung, und ihr Aufgabenge-
biet, der Transport, gelegentlich überschnitten, stimmten sie die Zahlen ab. Mark hatte überlegt, ob er seine Kollegin noch einmal ansprechen sollte, was denn gestern gewesen sei, hatte es dann aber doch gelassen. Nun wirkte sie eigentlich wie früher. Anscheinend hatte ihr der frühe Feierabend geholfen, ihr Problem zu lösen.
Auch Kristina hatte das gemeinsame Arbeiten mit Mark Freude bereitet und sich wieder ausgeglichener gefühlt. Als sie jedoch zurück in ihr Büro kam und auf den Monitor sah, sank ihre Laune rapide ab. Seit sie über Satellit per PC oder sogar Smartphone erfuhr, wo sich ihre Lastzüge gerade befanden, und auch die Frachtaufträge über Internet übermittelt wurden, telefonierte sie nur noch selten mit den Fahrern. Doch als sie jetzt sah, dass sich ein LKW seit fast 3 Stunden nicht bewegt hatte, griff sie doch zum Telefon.
»Na sag mal, Frank, was ist denn los bei dir? Du stehst ja immer noch in der Mühle!«, knurrte sie den Fahrer am anderen Ende an. »Ja, natürlich weiß ich, dass du nichts dafür kannst«, lenkte sie aber gleich darauf ein. Es war schließlich Freitag und Frank wollte das Wochenende auch nicht irgendwo auf der Autobahn verbringen.
»Na, dann ist es ja gut«, erwiderte sie auf Franks Antwort, dass er als nächster abkippen könne und dann direkt zur letzten Ladestelle fahren würde. »Ich werde zur Sicherheit da anrufen, dass du etwas später kommst, nicht dass da Mittag Feierabend ist.« Sie beendete das Gespräch und gab die Nummer der Ladestelle ins Telefon ein.
Kurz und knapp schilderte sie den Sachverhalt und stellte die Frage nach der Beladezeit. Und während sie der Stimme aus dem Telefon lauschte, die was von »Ach wo, käen Probläm… bis um viere…« sagte, fühlte sich ihre Kehle wie zugeschnürt an. Auf den Bildern hatte sie nach einer Erinnerung gesucht, hier kam eine durch das Telefon. Sie kannte diesen Klang der Worte, der so anders war als das biedere Norddeutsche. Dieser Dialekt, der war noch in ihr, den hörte sie heraus. Kristina sah auf die Karte. Der Punkt, der den LKW markierte und der sich gerade in Bewegung setzte, war kaum einen Fingerbreit von ihrer alten Heimat entfernt. Von dort, wo Frank in einer halben Stunde laden würde, waren es nur noch zehn Kilometer.
»Ja, ich fahre!« Jetzt stand ihr Entschluss fest.
»Wohin fährst du?« Mark war unbemerkt herein gekommen und sah sie verwundert an.
»Dort hin!« Kristina stupste mit dem Finger auf den Monitor. »Zum Klassentreffen.«
Zwei Stunden später stand dem Wochenende nichts mehr im Wege. Frank war der Letzte ihrer Truppe gewesen, nun war auch er auf dem Heimweg. Zwar würde er erst am Samstagmorgen daheim sein und am Montag abkippen, doch das war egal.
Als sich Kristina von Mark verabschiedete, sah sie wiederum in das fragende Gesicht ihres Kollegen.
»Nun guck nicht so!«, versuchte sie, ihn mit einem Schmollmund zum Lachen zu bringen. »Ich werde es dir erklären«, versprach sie. »Aber nicht mehr heute. Wenn du magst, können wir nächste Woche mal wieder gemeinsam essen gehen.« Mark nickte ihr zu, aber er blieb nachdenklich. Welches Geheimnis trug Kristina mit sich herum?
In ihrer Wohnung angekommen, setzte sich Kristina gleich an den Laptop. Berit hatte ihr eine EmailAdresse mitgeschickt, an die wollte sie nun schreiben, ihre Entscheidung war gefallen.
Nachdem sie das erledigt hatte, schien es ihr, als sei eine große Last von ihr gefallen. Sie holte die Leiter aus dem Abstellraum und begann, die Gardinen abzuhängen und in die Waschmaschine zu befördern. Eigentlich hatte sie gar keine Gardinen haben wollen, bei der Mutter waren die ihr immer total spießig erschienen. In ihrer eigenen Wohnung waren dann auch erst einmal keine vorgesehen. Doch es hatte nicht lange gedauert, da fehlte ihr der zarte Stoff vor dem Fenster. Nun zierten bodenlange, transparente Stores ihre Fenster. Die hingen allerdings nicht mehr an alten Gardinenleisten, wie sie es von Mutter kannte, sondern an modernen Haltesystemen aus Drahtseilen.
Während die Gardinen in der Waschmaschine vor sich hin drehten, bereitete Kristina sich etwas zum Abendessen zu und Toni nutzte die noch im Zimmer stehende Leiter als Ausguck. Ach ja, Kater, sinnierte Kristina, wenn du reden könntest, hättest du einen guten Rat für mich? Denn das Jahrgangstreffen war das Eine, die Frage nach ihrem Vater war etwas ganz anderes. Würde sie den wohl auch im Mansfeldischen finden?
Als Kristina am nächsten Morgen erwachte, war es bereits hell. Sie hatte es sich am Abend noch mit einem Glas Wein in einer Badewanne voll mit warmen, duftenden Schaumbad gemütlich gemacht. Danach hatte sie geschlafen wie ein Murmeltier. Als sie sich jetzt streckte, fühlte sie am Fußende des Bettes, die dort zusammengerollten Katze.
»Na Toni, was meinst du, stehen wir auf?« Als hätte er ihre Worte verstanden, sprang der Kater aus dem Bett und trabte in Richtung Küche. Sein Knurrlaut, den er von sich gab, bedeutete wohl, dass es Frühstück geben sollte.
Kristina setzte die Kaffeemaschine in Gang und legte zwei Scheiben Weißbrot in den Toaster. Im Bad sah sie in den Spiegel und fragte sich selber: »Na, was machen wir denn heute Schönes?«