Isolde Kakoschky

Papakind


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Mädchen stürzten ins Treppenhaus und rannten, bis sie auf der Straße waren. Außer Atem setzten sie sich auf den Bordstein.

      »Wie kann er nur sein Kind so verhauen?« fand Franzi langsam wieder Worte.

      »Na, weil sie nicht sein Kind ist«, klärte Heidi die anderen auf. »Der Kerl ist ihr Stiefvater.«

      »Aber ihre Mutti muss doch was sagen, sie ist doch ihr Kind?«, stellte sich Franzi die Frage.

      »Vielleicht weiß sie es ja gar nicht«, mutmaßte Maria.

      In dem Moment waren alle drei froh, liebevolle Eltern zu haben.

      Am Abend lag Franziska im Bett und dachte über das Erlebte nach. Waren alle Stiefväter so? Im Märchen gab es meistens böse Stiefmütter. Die waren auch nicht nett. Sie kannte sonst keinen mit einem Stiefvater oder einer Stiefmutter. Im Nebenraum hörte sie das tiefe gleichmäßige Atmen ihres schlafenden kleinen Bruders. Sie lächelte bei dem Gedanken an den lebhaften Jungen, der schon oft etwas angestellt hatte. Hatte der ein Glück, nicht bei Reginas Stiefvater zu leben.

      Und sie überlegte, wie man dem Mädchen helfen konnte. In ihrer alten Schule war Franziska im Schülerrat gewesen. Aber damals hatte sie ja noch nichts von Reginas Sorgen gewusst. Jetzt müsste sie wieder gewählt werden, dann könnte sie zum Lehrer gehen, ohne als Petze angesehen zu werden. Frau Breitling hätte gewusst, was zu tun war. Und Herr Kollberg würde es auch wissen.

      Schon bald darauf sollten die Schüler bestimmen, wer von ihrer Klasse sie im Schülerrat vertreten sollte. Eine Liste mit Namen wurde aufgestellt, auch Franzi war dabei, und die Diskussion begann. Obwohl sie neu war, hatte Franzi schon bald einige Befürworter auf ihrer Seite. Herr Kollberg ließ die Kinder abstimmen.

      »Also, wie ich sehe, sind die meisten für Franziska Zandler«, fasste er das Ergebnis zusammen. Da erhob sich Karli.

      »Nee, ich würde die Neue nicht wählen. Wir wissen doch noch gar nicht, wie die beschaffen ist!« Selbst Herr Kollberg musste lachen.

      »Na ja, Karl, so unrecht hast du nicht. Aber sieh mal, ein Teil von eurer Klasse kennt die Franziska schon viele Jahre und die haben alle für sie gestimmt. Sie hat das ja schon vorher an ihrer alten Schule gemacht und da sollten wir ihr hier doch auch eine Chance geben. Die meisten deiner Mitschüler sehen das genauso.«

      Karl sah seinen Lehrer an und nickte. »Na gut, dann versuchen wir es mit ihr.« Diesmal lachte keiner.

      Nun kam so viel Interessantes auf Franziska zu, das ihre Freizeit in Anspruch nahm. Sie ging noch immer zum Zeichenunterricht. Einmal in der Woche war Schwimmen. Zusätzlich zum Unterricht hatte sie noch einen extra Deutschkurs, wo sie kleine Geschichten und Gedichte schrieben und rezitieren übten. Damit wollten sie irgendwann bei Veranstaltungen auftreten. Und dann noch die Arbeit im Schülerrat, da trat die zerbrochene Freundschaft zu Verena immer mehr in den Hintergrund. Nur ab und zu wurde sie traurig bei dem Gedanken. Sie wusste nicht, dass es Verena genauso erging.

      Inzwischen war Franziska 13 geworden. »Jetzt bist du ein richtiger Teenager, wie das heutzutage heißt«, hatte der Vati zu ihr gesagt und ihr den ersten BH geschenkt. Seit dem Sommer hatte sie deutlich an Oberweite zugelegt. Sie war zwar immer noch recht klein, aber langsam wurde aus dem Kind ein junges Mädchen.

      Wenn ihr Bruder sie einmal nackt sah, ärgerte er sie oft: »Franzi hat Busen!«

      Franziska war sauer, aber was sollte sie auch von einem zehnjährigen erwarten! »Und Alex ist ein Blödmann«, gab sie Sticheleien zurück.

      Es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht stritten. Das gute Geschwisterverhältnis war fürs Erste vorbei. Aber das Schlimmste für Franzi war, dass bei jedem Streit die Mutter für Alex Partei ergriff, selbst wenn sie gar nicht wusste, wie der Streit entstanden war. Und beim Vati konnte sich Franzi nicht ausheulen, weil der gerade über die Woche auf einer entfernten Baustelle als Bauleiter arbeitete und nur am Wochenende heim kam. Dann aber wollte ihn Franzi nicht mit dieser Kinderkacke nerven. Sie kam schon alleine klar. Im schlimmsten Fall war da ja noch Oma Klara, die sich gerne ihrer Enkelin annahm. Dann saß sie bei der Oma in der Stube und erzählte von ihren Erlebnissen oder die Oma berichtete was von früher. Manchmal sahen sie auch Bilder an, von Oma und Vati von früher und je älter Franzi wurde, um so mehr entdeckte sie kleine Ähnlichkeiten zu sich. Es gab Momente, da wollte Franziska schon die Oma fragen, ob sie was von dieser Helene wusste, aber sie traute sich dann doch nicht, es schien ein Tabu in der Familie zu sein.

      »Du, Oma, ich muss dir was erzählen«, begann Franzi eines Tages zu berichten. Am Abend zuvor hatten sie mit dem Deutschkurs einen Auftritt vor Frauen zum Frauentag gehabt. Ihre Rezitationen kamen sehr gut an. Und bei Einem kam Franziska besonders gut an.

      »Oma, er heißt Heiner und ist eine Klasse über mir. Wir haben immer zusammen geübt. Und gestern hat er mir erst den Stuhl weg gezogen, so dass ich mich daneben gesetzt habe, und dann hat er mir beim Aufstehen geholfen«, fasste Franzi den Abend kurz zusammen. Wie sehr ihr Herz geklopft hatte, als der Junge sie festgehalten hatte, verschwieg sie lieber. Aber die Oma merkte trotzdem, dass da etwas anders war, als wenn die Enkelin sonst von Schulkameraden erzählte. Und mit ein bisschen

      Wehmut dachte sie, nun wird das kleine Mädchen schon langsam erwachsen.

      Von nun an verbrachte Franziska viel Zeit mit Heiner. Sie waren gemeinsam beim Deutschkurs, gingen zusammen zum Schwimmen, Heiner wartete vor dem Klubhaus, wenn Franzi Zeichenunterricht hatte und selbst auf dem Schulhof sprachen sie immer öfter zusammen, allen albernen Sprüchen der Mitschüler zum Trotz. Seit dem schien sich aber das Band zwischen Franzi und Verena immer mehr zu lösen. Hatten sie sich zwischenzeitlich auch wieder zusammengerauft, den Heiner mochte Verena gar nicht und je öfter sie das deutlich sagte, um so mehr stellte sich Franzi auf Heiners Seite und gegen Verena.

      Das Schuljahr ging dem Ende zu, als die Klasse zu einem Ausflug mit dem Bus aufbrechen wollte. Franziska, Maria und Heidi, die alle irgendwie in der Nähe wohnten, saßen zusammen auf einer Bank beim Busbahnhof. Sie waren etwas zu früh da und beobachteten die Busse, die zu den Haltestellen fuhren. Ein Bus fuhr eben los. In dem Moment rannte eine Frau darauf zu. Der Fahrer versuchte noch zu bremsen, doch es war zu spät. Der Bus hatte die Frau überrollt. Sie lag nun unter dem Bus zwischen den Rädern. Blut floss aus einer großen Wunde, die Frau war ohne Besinnung.

      Die Mädchen sahen mit aufgerissenen Augen minutenlang auf die Szenerie und wollten kaum glauben, was sie gerade mit angesehen hatten. Mit Notsignal bogen Polizei, Notarzt und Krankenwagen auf dem Platz ein. Dann war es unnatürlich ruhig. Plötzlich durchdrang ein markerschütternder Schrei die lähmende Stille. Franzis Stimme klang so verzerrt und schrill, dass sich sofort alle Augen ihr zuwendeten. Maria und Heidi sahen ihre Mitschülerin erschrocken an. Sie war totenblass, fühlte sich eiskalt an und begann trotz der sommerlichen Wärme fürchterlich zu zittern. Die beiden versuchten, auf Franzi einzureden, doch die registrierte sie gar nicht. Seit dem Schrei hatte sie keinen Ton mehr von sich gegeben.

      Eine Menschentraube hatte sich auf dem Platz gebildet und stand um den Unfallort herum. Nur die Mädchen hockten hilflos auf der Bank. Mit einem Mal sprang Franzi auf und noch ehe jemand zufassen konnte, war sie schon vor der Bank zusammengebrochen.

      »Hilfe!«, riefen Heidi und Maria wie aus einem Mund.

      Im Krankenwagen hatten sie begonnen, die schwer verletzte Frau zu behandeln. Doch einer der Sanitäter war auf die Mädchen aufmerksam geworden, er kam hinzu und sah sich die am Boden liegende Franzi an. »Sie hat einen Schock«, vermutete er. »Ich glaube, es wird besser sein, wir nehmen sie mit ins Krankenhaus.« Er legte ihr vorsichtig die Beine hoch und langsam kam das Mädchen wieder zu sich. Über Funk wurde noch ein Krankenwagen angefordert und Franzi ins Krankenhaus transportiert.

      »Frau Zandler, Ihre Tochter liegt hier bei uns auf der Station, es wäre schön, wenn Sie bald kommen könnten.« Der Stationsarzt hatte Gudrun im Büro der Stadtverwaltung, wo sie stundenweise arbeitete, angerufen.

      »Um Himmels Willen, was ist passiert?« Der Schreck fuhr ihr gewaltig in die Glieder.

      »Das würde ich gerne mit Ihnen persönlich besprechen.«