ihr Heiko bei.
»Lasst uns das Nachtlager errichten, tapfere Krieger!« Lachend schnappte er sich Lukas und trug ihn hinüber ins Wohnzimmer.
»Guten Morgen, mein Spatz!« Annika strich ihrem Sohn sacht übers Haar. »Komm, du musst aufstehen. Der Papa ist schon längst bei der Arbeit.«
Nur widerwillig öffnete Lukas die Augen.
»Auf geht´s! Die Sonne scheint«, versuchte Annika, gute Laune zu verbreiten, während Lukas noch immer durch die halb geschlossenen Lider blinzelte.
»Hast du denn etwas Schönes geträumt?« Mehrfach hatte sie in der Nacht bemerkt, wie sich Lukas auf seinem Campingbett hin und her wälzte. Jetzt setzte er sich endlich auf.
»Mama, ich habe von einem Geist geträumt.«
Annika schmunzelte. »Aha. Musstest du ihn bekämpfen, mein mutiger Ritter?« Mit Lukas ging die Fantasie manchmal durch. Aber er war immer der Sieger in jedem Kampf. Sie dachte an die Ritterrüstung aus Plastik, die Lukas zum letzten Geburtstag bekommen hatte und die auch noch in einer der Kisten auf das Auspacken wartete.
»Nein«, antwortete Lukas, nun hellwach. »Der Geist ist einfach wieder verschwunden. Er hat mir zugewinkt.«
»Dann war es bestimmt der gute Hausgeist«, beendete Annika das Gespräch. »Und nun los, ab ins Bad, anziehen und frühstücken. Die Schule fängt bald an.«
Eine halbe Stunde später verließen die beiden das Haus. Da der Schulweg für Lukas völlig neu war, wollte ihn Annika an den ersten Tagen lieber begleiten. Später konnte er mit den älteren Kindern der Siedlung alleine mitgehen, wenn sie nicht zur selben Zeit los musste. Ihre Dienstzeiten in der Sparkasse wechselten zwischen früh und nachmittags. Deshalb hatten sie Lukas auch im Hort angemeldet. Nur in dieser Woche durfte er nach der Schule heimkommen. Für ihn war das Haus ja auch neu, er sollte seine Zeit haben, um sich einzuleben.
Nachdem sie Lukas in der Schule abgeliefert hatte, lief Annika zum Rathaus. Ein paar Minuten musste sie allerdings warten, bis die Behörde öffnete. Dann meldete sie sich und Lukas auf ihre neue Anschrift um. Heiko würde das im Laufe der Woche sicherlich auch noch einrichten können. Denn wenn die Dachdecker kamen, wollte er noch ein paar Tage frei nehmen.
Anschließend kaufte sie noch ein paar Kleinigkeiten im Drogeriemarkt ein und begab sich auf den Heimweg. Obwohl der Weg nicht lang war, musste sie sich wohl erst daran gewöhnen. Die kleine Wohnsiedlung lag oberhalb des Stadtzentrums und daher führte die Straße stetig bergauf. Für größere Einkäufe würde sie doch eher das Auto bevorzugen, überlegte Annika.
Ehe sie es sich versah, war der Vormittag vergangen und es wurde Zeit, Lukas von der Schule abzuholen.
»Mama, was gibt es zu essen?«, sprang er ihr entgegen. Nun bemerkte auch Annika, dass sie seit dem Toast mit Marmelade am Morgen nichts mehr zu sich genommen hatte. Gekocht hatte sie nichts. Sie zwinkerte Lukas zu.
»Bratwurst?«
Der Junge grinste sie nur an und zeigte: Daumen hoch! Nichts liebte er so sehr, wie Röster vom Grill. Am nahen Supermarkt gab es einen Grillstand. Sie wandten sich nach links und liefen los.
»Mama, waren da mal Türen dran?« Lukas war ein Stück voraus gelaufen und stand nun direkt im Durchgang des Saigertors, dem mittelalterlichen Stadttor.
»Ganz bestimmt waren da früher Tore dran«, mutmaßte Annika. »Abends wurden die geschlossen, damit keine Räuber in die Stadt konnten.« So weit zurück hatte sie sich noch nie darüber Gedanken gemacht. Sie konnte sich nicht einmal an die Zeit erinnern, als der Straßenverkehr noch durch das Tor musste. Für sie stand es schon immer in der Fußgängerzone als Wahrzeichen und Sehenswürdigkeit.
Lukas sprang mit einem Satz nach vorne. »Jetzt bin ich draußen!«
Annika lachte und folgte ihm zum Bratwurststand – draußen vor der Stadt.
Als Heiko am Abend von der Baustelle kam, stand trotz der noch nicht komplett eingerichteten Wohnung ein warmes Essen auf dem Tisch. Das Kochen brachte für Annika so etwas wie Normalität in den Umzugsstress, der ja noch längst nicht vorüber war.
»Wann kommen denn die Dachdecker?«, fragte sie deshalb ihren Mann.
Heiko verzog das Gesicht. »Morgen noch nicht. Es hat wohl bei den anderen Leuten nicht so geklappt, wie geplant. Nun müssen wir uns noch einen Tag länger gedulden. Aber der Meister hat mir versprochen, dass am Mittwoch wenigstens das Gerüst aufgestellt wird.« Er sah zu Annika. »Da bist ja du noch zuhause. Am Donnerstag und Freitag hüte ich das Haus.«
»Na gut, auf einen Tag mehr oder weniger kommt es nun wirklich nicht an«, reagierte Annika eher gelassen. »Und wenigstens sind die Wetteraussichten noch ganz passabel.«
Heiko nickte. Regen konnten sie wahrhaftig nicht brauchen.
»Super!«, ließ sich nun auch Lukas vernehmen. »Dann kann ich morgen nach der Schule wieder im Garten spielen.«
»Das kannst du«, erwiderte Annika und strich ihrem Sohn übers Haar. »Aber jetzt Abmarsch in die Badewanne, sonst haben wir die Gartenerde auch noch im Bett.« Als Lukas um die Ecke ins Bad verschwunden war, erhob sich auch Annika, um ihm zu folgen. »Fährst du morgen mal nach der Arbeit zu Real«, wandte sie sich im Gehen an Heiko.
»Kein Thema, was brauchen wir?«
»Unser Sohn braucht eine Schaukel«, erklärte Annika.
»Er wollte sich heute schon aus einem Ast und meiner Wäscheleine eine bauen.«
Heiko lachte. »Einfälle hat er ja. wird erledigt!«
6
Glücklicherweise hatten die beiden ärztlichen Untersuchungen bei Michael nichts Dramatisches zu Tage gefördert. Für sein Alter konnte er durchaus mit sich und seinem Gesundheitszustand zufrieden sein. Manchmal sagte er ironisch, dass sein Beruf zwar überwiegend darin bestand, vor dem Bett zu sitzen und aus dem Fenster zu schauen, doch gelegentlich wurde auch glatt ein Besuch im Fitnessstudio ersetzt. Während er seine Muskeln mit dem Festzurren von Gurten und dem hoch und runter klettern von der Ladefläche in Bewegung hielt, mussten andere für die Hantelbank oder Stepper bezahlen.
Trotzdem lag sportliche Betätigung eher nicht in seinem Interesse und auch Franziskas Ambitionen, im Urlaub zu wandern, trafen nicht unbedingt seinen Nerv. In Franzis Familie gehörte das zum Urlaub schon immer dazu, es war wie ein Gen, für das man nichts konnte. Trotzdem hoffte er, dass sein Schwager das ähnlich wie er sah und keine derartigen Aktivitäten von ihm erwartet wurden.
»Wann wollten wir morgen losfahren?«, fragte Michael und schaute um die Ecke zu seiner Frau, die mit dem Packen der Sachen im Schlafzimmer beschäftigt war.
»Schatz, nicht vor dem Frühstück«, beruhigte ihn Franziska. »So, wie Alex am Telefon meinte, ist Heidrun zwar ab Mittag zuhause, aber wir müssen sie nicht überfallen. Wenn wir zum Kaffee dort sind, reicht es aus. Essen können wir auch unterwegs.«
»Das passt«, stimmt Michael Franziska zu. »Und so weit ist es ja auch gar nicht bis Korbach.« Irgendwann nach dem Mauerfall hatte es Alexander nach Hessen verschlagen. Dort hatte er seine Frau kennengelernt und lebte seit dem in der Kreisstadt am östlichen Rand des Sauerlands. So hatte auch Alexander die schöne Landschaft vor der Haustür. Er hatte bestimmt schon eine Idee, was sie am Freitag gemeinsam unternehmen wollten.
Ein warmer, freundlicher Herbsttag, der fast noch an den Sommer erinnerte, begrüßte die beiden am nächsten Morgen. Da die Zeit nicht drängte und sie ihren Urlaubstag genießen wollten, stand die Sonne schon hoch am Himmel, als sie sich zum Frühstück niederließen.
»Also, die Sachen sind gepackt, von mir aus kann es losgehen«, ließ sich Franziska vernehmen, als sie den Tisch wieder abräumte.
Michael