zieht einen Papierfetzen aus seiner Hosentasche und buchstabiert. »H y p o t h a l a s m u s.«
»Hypotho was?«
»Wie bitte, Babsi, wie!«
Barbara schüttelt den Kopf. »Irgendwie habt ihr beide einen an der Klatsche, Winnie.«
»Ich habe dich wie ein Gentleman verteidigt«, erklärt mein Mann stolz, als er ins Wohnzimmer zurückkommt.
Ich krabbele unter dem Esszimmertisch und zupfe die Krümel aus dem Langflorteppich.
»So, wie sich das gehört, wenn es dem Partner nicht gut geht.« Er begibt sich auf Augenhöhe, krabbelt neben mir und sammelt ebenfalls Krümelchen auf. Unsere Köpfe rumsen aneinander.
»Aua«, brülle ich auf. Er sieht mir in die Augen. »In guten wie in schlechten Zeiten, Frau!«
»In guten Zeiten brauche ich niemanden, der mich verteidigt. Da geht es mir gut, Winfried. Und schlechte Zeiten habe ich nur, weil du mich tagtäglich aus der Fassung bringst, Winfried. Mit den Zigarettenstummeln im Blumenkasten vor dem Haus, wenn du eine Zigarette nach der anderen rauchst, dabei die Freundinnen unserer Nachbartochter begaffst. Wenn du vorgibst, Unkraut zu jäten und meine Stecklinge herausreißt. Wenn du mit spermatischem Blick den Rasen mähst und über den Nachbarzaun schielst, Winfried.«
»Aber Margitchen.«
»Obwohl der Rasen streichholzkurz ist. Die Mädels haben gerade mal ihr Abitur in der Tasche, Winfried. Schämst du dich denn nicht?«
»Das Kellergeschoss in deinem Zwischengehirn, Margit …«
Am selben Abend noch fand zwischen meinem Mann und meiner Freundin Barbara eine Krisensitzung in unserem Wohnzimmer statt.
Vom Schlafzimmerfenster aus sehe ich, wie Barbara meinem Mann eine Kusshand zuwirft, bevor sie in ihr Auto steigt, sehe zu, wie sie den Zündschlüssel nach rechts dreht und durchstartet. Sie hupt drei Mal, wie immer, wenn sie vom Parkplatz in die Straße einbiegt, dabei weiß sie ganz genau, dass ich das wegen der Nachbarn überhaupt nicht leiden kann. Wieder einmal fährt sie mit erhöhter Geschwindigkeit aus unserer Spielstraße und wieder einmal ärgere ich mich sehr darüber. Meine Freundin ist wie mein Mann. Es interessiert nicht, was ich mag und was ich nicht mag. Ich könnte es genauso gut meinem Kühlschrank oder meiner Schrankwand erzählen. Missmutig laufe ich über den Flur ins Badezimmer. Das Telefon läutet, aber bevor ich im unteren Stockwerk ankomme, hat mein Mann das Gespräch schon entgegengenommen.
»Mensch Siggi, alter Knabe«, freut er sich. Das ist ja ein Ding! Du, darauf müssen wir unbedingt anstoßen. Selbstverständlich kannst du bei uns nächtigen, mein Freund. Bis heute Abend dann.«
Er lacht hell auf. »Nein, das Margitchen ist nicht da, Siggi. Die hat heute Nachtschicht.«
Ich lege die Bäckertüte am Küchentisch ab, schalte die Kaffeemaschine ein, setzte mich an den Tisch, verschränke meine Arme, lege meinen Kopf darauf und lasse die Nachtschicht an mir vorüberziehen wie einen Film im Schnelldurchlauf. Die arme Frau Meier …
Das Geräusch einer Sägemaschine klingt an mein Ohr. Eigenartig! Um diese Uhrzeit? Schlaftrunken schaue ich auf meine Armbanduhr. »Hm.«
Ich gieße meine Kaffeetasse randvoll, schmiere hauchdünn die Halbfettbutter auf die handwarme Brezel. Ich esse gierig, hatte die ganze Nacht wieder einmal keine Zeit, etwas zu mir zu nehmen, außer ein paar Rippchen Schokolade und die Apfelschnitze, die ich in einem Gefrierbeutel in meinem Schwesternkittel verstaut hatte.
Ich ziehe die Rollos des Küchenfensters nach oben, öffne das Fenster sperrangelweit und strecke meinen Kopf in die Morgenluft. Die Sägemaschine ist verstummt. Ich fülle meine Tasse nochmals randvoll und trinke den Kaffee im Stehen. Gedankenverloren schaue ich zum Wipfel des Walnussbaumes unserer Nachbarn. Der ist mächtig gewachsen, stelle ich fest.
Ich esse eine Banane zu dem Kaffee, stecke die Schale in meine Handtasche, weil sonst die ganze Küche danach stinkt, wie mein Mann meint. Und wenn ich Diskussionen vermeiden kann, dann tue ich das.
Ich entledige mich meiner Schuhe, stelle sie in den Schuhschrank im Flur. Die Sägemaschine hat ihre Arbeit wieder aufgenommen, höre ich. Irritiert laufe ich in die Küche zurück, spähe voller Neugier aus dem Küchenfenster. Ich will wissen, welcher Nachbar um diese Uhrzeit so einen Lärm veranstaltet. Und wieder ist gähnende Stille um mich.
»Hm.«
Wahrscheinlich bin ich wieder einmal total überarbeitet.
Ich nehme eine Schlaftablette aus der Packung, spüle sie mit Leitungswasser hinunter, laufe den Flur entlang zum Schlafzimmer, am Gästezimmer vorbei. Das Geräusch der Sägemaschine hebt an. Ich bleibe verwundert stehen und lausche. Das Geräusch kommt eindeutig aus diesem Zimmer.
»Hm.«
Winfried wollte die Bretter vom Dachboden kürzer sägen und ein Bücherregal für das Gästezimmer daraus basteln. Mit einem Lächeln drücke ich auf den Türgriff. Mein Mann will mich überraschen. Wie schön. In diesem Moment bin ich fest davon überzeugt. Alles wird wieder gut!
Ich betrete das Zimmer auf Zehenspitzen. Ein unbekannter Geruch umhüllt mich. Süßsauer! Nach Apfel duftend irgendwie. Auf dem Schreibtisch steht eine braune Reisetasche. Daneben eine Tüte mit Obst. Einige Äpfel sind auf den Boden gekullert. Mein Blick fällt auf die Schuhe vor dem Bett, auf Socken, leere Bierflaschen, Knabbertüten, auf die blaue Cremetube in der breit verteilten Kotzpfütze mit den roten Brocken darin.
Ich rüttele an den Schultern der bis zu den Ohren zugedeckten Gestalt in unserem Gästebett. Sie wacht nicht auf. Ich ertaste den erhöhten Puls. Ein Atemaussetzer. Ich erschrecke. Dann ertönt wieder das Kreischen der Sägemaschine. Die Nervensäge ist Harald, erkenne ich erst jetzt. Ich rüttele heftiger an den knochigen Schultern.
»Aufwachen!«, brülle ich.
Harald dreht sich auf die andere Seite und brummt.
»Lass mich doch endlich einmal schlafen, Alte.«
Er schnarcht weiter. Ich tätschele seine Wangen. »Haaarald!«
Er blinzelt ins Neonröhrenlicht, versucht sich aufzusetzen, verdreht die Augen und fängt zu würgen an.
»Um des Himmels Willen, Harald. Nicht schon wieder! Mein Teppich …«
»Was ist denn hier los?«, poltert mein Mann. Ich hatte ihn gar nicht kommen hören.
»Bei dem Gezeter kann man ja kein Auge zu tun.«
Winfried sieht mich anklagend an. »Warum lässt du den Harald nicht in Ruhe ausschlafen, Frau?«
Ich höre Meerschweinchen quieken, Wasserhahngeräusch, unsere Klospülung.
»Du weißt doch, wie unberechenbar und launisch seine Frau ist. Schlimm genug, wenn man zuhause ausbüchsen muss, um mal seine Ruhe zu haben, Margitchen.«
Ich stehe da wie ein Zinnsoldat, lausche angespannt auf die Geräusche, die eindeutig aus unserem Schlafzimmer kommen.
»Die Olle versteht ihn doch nicht, das weißt du doch, Margitchen!«
»Was sind das denn für Geräusche, Winfried?«
»Helmut schläft mit seinem Freund …«
»In unserem Ehebett, Winfried?«
»Das Sofa im Wohnzimmer ist viel zu schmal für die beiden, Margitchen.«
»Ich hatte Nachtschicht, Winfried.«
»Ich weiß.«
»Ich bin müde. Ich will in mein Bett, Winfried!
Ich will schlafen. Ist das denn so schwer zu verstehen?«
»Ich konnte die drei doch nicht unter Alkoholeinfluss nach Hause fahren lassen. Das musst du doch einsehen, Frau.«
»Und wo ist Siggi abgeblieben, Winfried?«
»Der schläft bei Babsi.«
»Siggi