Ihnen!“ Die Hände in die Seiten gestützt und den Kopf forschend schräg gelegt, sah sie ihn an. Etwas schwang in ihrer Stimme mit.
‚Distanz?’
‚Herausforderung?’
‚Oder … Flirt?’
„Oh …“, ertappt fuhr er sich durch die Haare und fügte ein verspätetes „Das tut mir leid“ an.
Sie musterte ihn scharf von oben bis unten, lächelte dann und antwortete leichthin: „Ok.“
Fasziniert beobachtete er, wie sich ihre Lippen um das kleine Wörtchen kräuselten.
***
Charly amüsierte sich. Er war ihr durch die halbe Altstadt gefolgt und konnte jetzt den Blick nicht von ihr wenden. Sie wollte ihn nicht auslachen und ihn auch nicht verletzen, doch die Situation war zu schön, um sie nicht zu genießen. ‚Er sieht aber auch gut aus.’
Die bisherigen kurzen Begegnungen hatten nicht zuviel versprochen. Durchtrainiert, mit schmalen Hüften und breiten Schultern, trotzdem kein Muskelprotz, sondern eher schlank. Die Ärmel des T-Shirts umspannten den Bizeps und unter dem Shirt konnte sie das Sixpack erahnen. Und er war deutlich größer als sie. ‚Genau, wie ich es mag.’
Sie wies auf den Torbogen. „Wissen Sie, was das ist?“
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Gereon lächelte. ‚Wer, wenn nicht ich?’, dachte er und antwortete: „Ein Flüsterbogen. Die Biegung überträgt die Schallwellen so, dass Sie Worte, die an einem Ende geflüstert werden, am anderen Ende deutlich verstehen.“
Sie lachte. „So steht es im Reiseführer. Aber nachprüfen konnte ich es noch nie.“
Endlich hatten seine Synapsen wieder Kontakt gefunden und arbeiteten präzise. ‚Aha, nicht von hier, aber schon mehrmals hier gewesen – und offenbar immer allein’, speicherten seine grauen Zellen in Windeseile ab. „Möchten Sie es ausprobieren?“
Ihre Augen funkelten kurz auf. “Gerne!“ Sie kletterte auf den Prellstein und lauschte erwartungsvoll.
Schmunzelnd stieg Gereon seinerseits auf den anderen. „Sie haben wunderschöne Augen.“ Er lauschte dem Schweigen am anderen Ende, dann klang ein leises „Danke“ zurück.
***
Befangen sprang Charly vom Prellstein herunter. Es war nicht das erste Mal, dass sie vor dem Flüsterbogen stand und es bedauerte, dass eine zweite Person für den Flüstertest fehlte. Sie hatte eine Belanglosigkeit erwartet, kein Kompliment.
Ihr Magen enthob sie der Gedanken über den weiteren Verlauf, indem er laut und vernehmlich knurrte.
„Hunger?“, drang seine Stimme an ihr Ohr und sie sah zu ihm auf. Seine Augen waren grün, ihr Ausdruck unergründlich.
„Ja“, antwortete sie. „Ich gehe zurück zum Hotel. Vielen Dank für … das Experiment.“ Sie nickte in Richtung Flüsterbogen.
„Gerne.“
***
‚Verdammt, ich bin zu früh, zu direkt gewesen. Das Kompliment hat sie irritiert. Kein Mädel, das sich von schönen Worten blenden und um den Finger wickeln lässt’, schalt er sich innerlich. „Wo ist Ihr Hotel?“, fragte er schnell, ehe sie sich abwenden konnte.
Ihr Blick, eben nur irritiert und nachdenklich, wurde schlagartig misstrauisch.
„Nicht, dass Sie sich wieder von mir verfolgt fühlen“, erlaubte er sich einen leichten, flirtigen Tonfall. Erleichtert sah er, wie sie sich entspannte und lächelte. Irgendwie sogar schelmisch.
„Neben der Kirche, ein paar Schritte die Straße rauf.“ Sie wies in die entsprechende Richtung.
„Da übernachte ich auch.“ Er konnte es kaum glauben. ‚Sie wohnt im selben Hotel?’
***
Charly musste sich zusammenreißen, um nicht zu lachen; das übermütige Grinsen konnte sie sich allerdings nicht verkneifen. Womit sie ihn noch mehr verwirrte. „Dann begleiten Sie mich doch. So bin ich vor jeglicher Verfolgung sicher.“
‚Und ich weiß, dass er Interesse an mir hat’, frohlockte sie.
Schweigend gingen sie nebeneinander den schmalen Gehsteig entlang. Verstohlen warf sie ihm ab und zu einen Blick zu. ‚Eigentlich wollte ich noch irgendwo essen. Ob ich ihn fragen soll?’
Da waren sie auch schon am Hotel angekommen, er hielt ihr die Tür auf und ließ sie eintreten. Sie fischte ihren Zimmerschlüssel aus der Jeans und ging zur Treppe.
***
Auf der zweiten Stufe drehte sie sich um.
„Darf ich Sie zum Essen einladen?“, setzte Gereon alles auf eine Karte und wies zum hoteleigenen Restaurant.
„Das wollte ich Sie auch gerade fragen“, antwortete sie trocken.
Er lachte. „Dann sind wir uns ja einig.“
Sie lächelte. „Ich ziehe mich nur eben um. Bin in zehn Minuten wieder hier.“
„Viertelstunde!“, rief er ihr nach und schritt seinerseits durch den Gewölbegang, um die hintere Treppe zu seinem Zimmer zu nehmen. Berlin war erfolgreich gewesen, die Fahrt entspannt und jetzt hatte ihm der Zufall sogar noch eine Verabredung beschert. ‚Nun gut, ich habe nachgeholfen.’
Trotzdem. Der Abend ließ sich gut an.
***
Knapp fünfzehn Minuten später stand er wieder am Fuß der Treppe, geduscht und das T-Shirt gegen ein Hemd getauscht. Er lauschte nach oben, alles still. ‚Dann schaue ich derweil auf die Speisekarte.’
Das Klappern von Absätzen auf den obersten Treppenstufen schreckte ihn aus seinem Lesestoff, der ihm den Mund wässrig gemacht hatte. Er blickte hoch und fühlte seine Kinnlade nach unten klappen. Mit etwas Mühe machte er den Mund zu und starrte wie hypnotisiert auf das Wesen, das, eine Hand leicht auf dem Geländer liegend, die Treppe herabstieg. In Jeans, Turnschuhen und der locker sitzenden Hemdbluse war sie attraktiv, jetzt … ‚Eine Göttin!’
Rote High Heels – ‚das sind mindestens zehn Zentimeter’ – dazu ein schulterfreies Sommerkleid, der obere Teil weiß, ab der Taille einzelne Blüten, der Rock eine prächtige bunte Sommerwiese. ‚Züchtig bis zu den Knien.’ Eine schöne Oberweite, die Taille so schmal, dass er meinte, sie mit beiden Händen umfassen zu können. ‚Ich werde es früher oder später ausprobieren’, versprach er sich selbst. ‚Lieber früher denn später. Tolle Beine’, schloss er seine Inventur ab. In seinem Kopf überschlugen sich Bilder, die nichts an Eindeutigkeit vermissen ließen. ‚Langsam’, ermahnte er sich.
Auf der untersten Stufe blieb sie stehen, fast Aug in Auge mit ihm. Er musste sogar etwas zu ihr aufsehen. ‚Komplett ungewohnt.’
„Wow!“, war das Einzige, was ihm einfiel, und er versuchte auch gar nicht, die Atemlosigkeit aus seiner Stimme herauszuhalten. „Sehr …“
Er hatte ‚sexy‘ sagen wollen, als ihm einfiel, dass sie sich kaum kannten, sich siezten und er noch nicht einmal ihren Namen wusste.
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“Sexy?“, vervollständigte Charly nach einer kleinen Pause seinen angefangenen Satz.
Er hatte nicht gewagt, es auszusprechen, aber sie konnte es nicht lassen. Mochte er denken, dass sie leicht zu haben war. Sie würde ihm das Gegenteil beweisen.
Er schluckte. Nickte.
„Schön, dass es Ihnen gefällt. Ich habe nicht oft Gelegenheit, es auszuführen.“
Er hielt ihr die Tür zum Restaurant auf.
Sie wählte einen ruhigen Ecktisch und glitt auf die Bank.