Anett Theisen

Charlys Sommer


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      Sie lachte. „Ich hab’s nicht gebaut. – Kannten Sie es wirklich noch nicht?“

      „Davon gehört und gelesen schon“, gab er zu. „Es selbst zu sehen, ist etwas ganz anderes.“

      Gemeinsam strolchten sie durch die Ruinen und Durchgänge. Stiegen auf den Kirchturm. In der Klosterkirche hallten leise gregorianische Gesänge von den Mauern wider und bildeten mit ihrer getragenen Melancholie einen Kontrapunkt zum unbeschwerten Gezwitscher der Vögel.

      In einem der schmalen Felsengänge berührte er sie an der Schulter. Sie drehte sich zu ihm um.

      „Danke“, sagte er leise.

      Hier im Schatten waren ihre Augen dunkel. Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, legte er seinen Zeigefinger unter ihr Kinn, beugte sich zu ihr und küsste sie. Es war ungeplant, ein Impuls. Zu seinem Erstaunen küsste sie ihn zurück. Scheu und kurz, nur eine flüchtige Berührung ihrer Zunge, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte und alle Härchen seines Körpers aufrichtete. Dann sah sie ihm in die Augen. Etwas verlegen ließ er seine Hand sinken.

      Sie begann zu lächeln. „Gerne“, antwortete sie, drehte sich um und schlenderte weiter, als sei nichts geschehen.

      ***

      Charly war vollkommen durcheinander. Nach dem gestrigen Abend hatte sie sich auf direkte, unmissverständliche Kontaktversuche seinerseits eingestellt und war auf diesen harmlosen, zarten Kuss überhaupt nicht vorbereitet. Sie beherrschte sich mühsam, um sich ihm nicht hier und jetzt an den Hals zu werfen. Auf dem Weg zum Auto brachte sie ihre Gefühle langsam unter Kontrolle.

      Auf der Rückfahrt fanden sie unterwegs ein Restaurant, und während des Essens versuchte er, etwas über ihre Pläne für den nächsten Tag zu erfahren. Sie antwortete nur vage. Heimreise, vielleicht noch ihren Vater besuchen. Die Ortsnamen verschwieg sie. Er bemerkte schnell, dass sie nicht darüber sprechen wollte und sie wandten sich anderen Themen zu.

      Als sie den kleinen Landgasthof verließen, standen neben dem Eingang zwei historische Motorräder. Charly streifte sie zunächst nur mit einem kurzen Blick und ging weiter, drehte aber nach einigen Schritten um und sah sich beide Maschinen genauer an. ‚Tatsächlich.’ Sie fischte ihr Handy aus der Tasche und fotografierte sie. Inzwischen war auch Gereon neben sie getreten und sie zeigte ihm, was sie entdeckt hatte: Eine Maschine zierte das übliche blau-weiße BMW-Emblem, die andere das rot-weiße EMW-Emblem. „Jetzt wäre nur noch spannend zu wissen, wann die ‚echte’ BMW gebaut wurde – und wo“, meinte sie. „Die EMW ist zwischen 1950 und 52 gebaut worden, weil sie noch die gleiche Gabel hat wie die BMW auch. Vorausgesetzt, sie wurde nicht im Nachhinein originaler aufgebaut als sie ursprünglich war“, überlegte sie laut.

      ***

      „Ganz recht, junge Dame“, ertönte eine Altherrenstimme von der Terrasse. Stühle scharrten, dann kamen zwei Männer, etwa Mitte siebzig und in altmodischer Lederkleidung, zu ihnen auf den Parkplatz, stolz auf ihre Motorräder und neugierig auf die junge Frau, die ein Detail entdeckt hatte, das selbst vielen Männern nicht sofort auffiel.

      „Sie kennen sich gut aus“, bemerkte der eine und der andere fügte hinzu: „37 in München, um Ihre Frage zu beantworten.“

      Gereon konnte nur noch staunen. Er trat ein wenig an den Rand der Szene und beobachtete, wie sie angeregt mit den beiden Herren fachsimpelte. Wie angetan diese von ihr waren.

      Schließlich verabschiedete sie sich, kam auf ihn zu und entschuldigte sich, dass sie ihn warten lassen habe.

      ***

      Natürlich fragte er sie auf dem verbleibenden Weg zum Hotel aus. Oder zumindest versuchte er es. Charly wand sich, so gut sie konnte, ohne ihn zu sehr vor den Kopf zu stoßen, um genauere Erklärungen herum, verwies darauf, dass es mit ihrem Vater zusammenhing, der gerne an alten Fahrzeugen bastele, und dass es eine längere Geschichte sei. Seine Einladung auf einen Drink an der Bar lehnte sie ab mit der Begründung, dass es ein langer Tag war und sie schlafen müsse.

      Don’t Lose My Number – Phil Collins

      „Sehen wir uns beim Frühstück?“ Er sah sie bittend an.

      Sie zögerte. „Vielleicht. – Vielen Dank für den Ausflug und gute Nacht.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und war in ihr Zimmer geschlüpft.

      Mit dem Gefühl, etwas Wichtiges versäumt zu haben, ging er zu seinem eigenen. Er schlief unruhig, träumte wild und saß sehr früh im Frühstücksraum. Sie war nicht da und kam auch nicht, so lange er sein Frühstück auch ausdehnte. Schließlich ging er zur Rezeption und fragte nach. Bereits abgereist, war die einzige Auskunft, die er erhalten konnte.

      Ziellos und gedankenverloren wanderte er durch die Stadt, bis er sich am frühen Nachmittag entschied, den Freizeitpark anzuschauen, von dem sie gesprochen hatte. Vielleicht war es was für Maja und die Jungs. Fürst Pückler und seinen Park hob er sich für den nächsten Tag auf.

      Auf dem Parkplatz fiel ihm auf, dass die gelbe BMW fehlte. ‚War das etwa ihre? War sie deshalb so vorsichtig, als es ums Motorradfahren ging, weil sie nicht wollte, dass ich es weiß? Warum nicht?’, grübelte er. ‚Und warum bin ich nicht auf den Gedanken gekommen, aufs Kennzeichen zu schauen? Im Grunde weiß ich nichts von ihr.’

      Als er in den Porsche einsteigen wollte, stutzte er. An der Scheibe der Fahrertür steckte eine Visitenkarte. ‚Meine eigene.’

      Sein Herz sank. ‚Sie will meine Kontaktdaten nicht haben und ich Depp habe sie nicht einmal nach ihrem richtigen Namen gefragt. Es war ein Abenteuer, ach, nur eine vergnügliche Episode’, dachte er. ‚Ich werde sie nie wiedersehen.’ Unerklärlicherweise stimmte ihn dieser Gedanke traurig.

      Er wusste selber nicht, warum, aber er drehte die Karte um. Auf der Rückseite prangten in blauem Kugelschreiber eine Zahlenreihe und darunter „CU Charly“.

      ***

      Charly war schon vor der Frühstückszeit fertig bepackt an der Rezeption. Sie wollte es nicht riskieren, das Motorrad vor die Tür zu fahren und doch noch auf Gereon zu treffen. So schleppte sie lieber den Tankrucksack und beide Alukoffer bis zum Parkplatz. Sie fuhr über Landstraßen durch die Lausitzer Heide- und Teichlandschaft Richtung Hoyerswerda, frühstückte in einem Café und bummelte durch die Stadt, bevor sie weiterfuhr nach Torgau. An Schloss Hartenfels saß sie lange am Wendelstein und dachte nach. Sie teilte ihr Mittagessen, zwei Äpfel, mit den Bären im Burggraben.

      Am späten Nachmittag schneite sie bei ihrem Vater herein. Sie war unruhig und wäre am liebsten sofort nach Hause gefahren, erinnerte sich jedoch rechtzeitig daran, dass zu Hause der Kühlschrank leer und es Sonntag war und blieb letztlich doch über Nacht. Morgens verbummelte sie sich, schraubte hier, putzte da. So war es früher Nachmittag, bis sie auf dem Heimweg war. Via Autobahn, es war nun einmal der direkteste Weg und die Gegend zu zersiedelt, als dass sie viel Spaß an der Überlandfahrt hatte. Kurz vor zu Hause hielt sie an einem Supermarkt. Kaum hatte sie ihn betreten, warf sich vor ihr ein etwa zweijähriger, blondgelockter Junge in einer trotzigen Haltung auf den Boden.

      „Hallo, junger Mann“, sprach sie ihn an und bot ihm ihren Korb an. „Magst du mir beim Einkaufen helfen?“

      Aus dem Konzept gebracht, blickte er sie an und nickte dann.

      „Frag schnell deine Mama, ob ihr das auch recht ist“, ermunterte sie ihn und half ihm beim Aufstehen.

      Die Mutter, einen zweiten Lockenkopf im selben Alter im Einkaufswagen, nickte ihr dankbar zu. Ungefähr im gleichen Tempo wie sie dirigierte Charly den Jungen durch den Laden. An der Obsttheke fragte sie ihn, ob er sich etwas aussuchen wollte.

      „E-mee-nee“, nickte er und zeigte auf die Himbeeren.

      “Und für Deinen Bruder?”

      “E-mee-nee”, wiederholte er.

      Schmunzelnd ließ sie ihn zwei Packungen Himbeeren in ihren Einkaufskorb