Else Ury

Professors Zwillinge in der Waldschule


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»Bubi und Mädi« – so nannte sie »ihre Kinderchen« noch – mindestens seit dem letzten Male einen halben Kopf gewachsen seien. Herbert untersuchte die Heizkörper, die ihn ungemein interessierten, und drehte die Hähne von kalt auf warm und von warm wieder auf kalt. Suse zählte das Tapetenmuster und langweilte sich. So hatte jeder seine Beschäftigung.

      »Mutti – Muttichen, ich will dir helfen«, bat das kleine Mädchen gähnend.

      »Ich will auch helfen«, meldete sich Herbert.

      »Wir können uns allein nicht helfen, Kinder, wir müssen in Geduld abwarten«, sagte die Mutter ziemlich ungeduldig.

      »Wenn wir doch unseren Radio schon hier hätten!« seufzte Herbert.

      Ja, das wünschten sie alle. Da hätte man doch Unterhaltung gehabt.

      Wieder verging geraume Zeit. Es klingelte. Die Kinder und Bubi stürzten zur Eingangstür. Aber es war nicht der sehnlichst erwartete Möbelwagen, sondern der Monteur, der schon die Kronen, die noch gar nicht da waren, anmachen wollte. Der Mann mußte wieder fortgeschickt werden. Bubi blaffte wütend hinter ihm her.

      Die Omama nahm sich schließlich der von dem langen Warten schon ganz müde gewordenen Kinder an. »So, Mädichen, nun komm mal hierher zu mir. Bubi, du auch. Ihr könnt beide auf einem Stuhl sitzen. Ich nehme den anderen. Nun erzählt mir mal, wie der Abschied von der Schule war.«

      »Doof«, sagte Herbert bloß.

      »Schön war er«, rief Suse, wieder lebhafter werdend. »Fräulein Giesicke hat uns die Hand gegeben und uns viel Glück gewünscht. Und Osterzensuren haben wir schon gestern bekommen, weil wir am Dienstag doch nicht mehr da sind.«

      »Sind sie denn gut ausgefallen, mein Goldkind?« erkundigte sich die Omama.

      »Herbert hat eine feine Zensur bekommen«, verkündete Suse stolz.

      »Na, und du, Herzchen?«

      »Die Suse auch«, kam der Bruder ihr zuvor. »Man bloß –«, er schwieg.

      »Na, wo hat's denn gehapert, Kinderchen?«

      »Gehapert hat's gar nicht. Man bloß in Aufmerksamkeit hab' ich nicht immer aufgepaßt, und da habe ich bloß gut und nicht sehr gut bekommen«, berichtete die Kleine ein wenig beschämt.

      »Weil sie doch unser Traumsuschen ist!« rief der Vater aus dem Nebenzimmer.

      »Suse hat mir versprochen, daß sie sich in der neuen Schule zusammennehmen und nicht mehr verträumt sein wird, nicht wahr, mein Mädel? Damit die Oktoberzensur auch in Aufmerksamkeit ein ›sehr gut‹ hat.« Die Mutter fuhr dem Töchterchen liebevoll über das kurzgeschorene braune Haar.

      »Gut ist gut«, sagte die Omama, und in diesem kurzen Ausspruch lag eine lange Entschuldigung.

      »Nach der Sexta sind wir gekommen, Omama.«

      »I, der Tausend! Sextaner? Alle beide? Die Mädi auch? Ja, wollt ihr die Kleine denn auch aufs Gymnasium schicken, Fränzchen? Zu meiner Zeit –«

      »Ja, Mutterchen, zu deiner Zeit war das anders«, lachte ihr Sohn. »Da dachte kein Mädchen daran, aufs Gymnasium zu gehen und zu studieren. Aber das ist ja jetzt anders geworden. Und gut ist es, daß die Mädel ebensoviel lernen wie die Jungen.«

      »Sind unsere Kinder denn schon in einer neuen Schule angemeldet?«

      »In der Waldschule!« riefen die Zwillinge wie aus einem Munde.

      »Wie – was?« Die kleine Omama guckte so verwundert von einem zum andern, daß Suse und Herbert lachen mußten. »Waldschule? Was ist denn das schon wieder für ein neumodisches Ding? Ich habe zwar schon etwas von Baumschule gehört, wo junge Bäume einer bestimmten Art angepflanzt werden, aber eine Waldschule ist mir bisher noch nicht begegnet.«

      »Die Waldschule ist eine sehr segensreiche Einrichtung, Mutterchen«, erklärte der Professor. »Sie geht von dem Standpunkte aus, daß in einem gesunden Körper auch ein gesunder, frischer Geist wohnt. Sie will unsere Jugend kräftig und sporttüchtig machen und ihr möglichst in freier, reiner Luft, nicht in engen Klassenräumen, die notwendige Schulweisheit eintrichtern. Für unsere Volksgesundheit ist die Waldschule von unschätzbarem Wert. Elende Kinder gedeihen dort draußen –«

      »Nun, ich denke, unsere beiden sind ganz prächtig gediehen«, meinte die Großmama, immer noch kopfschüttelnd. »Die brauchten weiß Gott die Waldschule nicht.«

      »Die Waldschule ist nicht nur körperlich empfehlenswert, Mutterchen, sondern soll auch einen vorzüglichen Unterricht erteilen, sowohl die Volksschule wie das angrenzende Realgymnasium. Es wäre allen Großstadtkindern zu wünschen, daß sie im Zusammenhange mit der Natur aufwüchsen«, nahm die Schwiegertochter das Wort. »Unsere Kinder wollen sich durchaus nicht voneinander trennen. Sie sind so an den gemeinschaftlichen Unterricht gewöhnt, daß es eine große Betrübnis gab, als sie hörten, daß die Schulen hier draußen entweder Jungen- oder Mädchengymnasien sind. In der Waldschule ist gemeinschaftlicher Unterricht. Das hat uns eigentlich hauptsächlich bestimmt, den Herbert und die Suse dort anzumelden.«

      »Und im Freien wird dort unterrichtet? Auch im Winter? Du meine Güte, unsere Kinderchen können sich da ja den Tod holen.« Die Omama war gar nicht einverstanden.

      »Im Winter ist natürlich Klassenunterricht. Aber die Kinder sind dazwischen immer wieder im Freien in reiner Luft. Sie spielen, turnen, treiben allerlei Sport und arbeiten im Sommer im Garten. Sicher werden sie dabei abgehärtet.«

      »Mir will das nicht –«

      »Der Möbelwagen – der Möbelwagen kommt!« Die Zwillinge, die den Erörterungen über die Waldschule schon längst nicht mehr gefolgt waren, sondern vom Fenster Ausschau hielten, trompeteten es in die Worte der alten Dame hinein, die erschreckt zusammenfuhr.

      Ja, da kam er wirklich. Schwer und mächtig kroch er heran, wie ein Riesenungetüm. Vorn thronten Fritze und Karle, mit den Beinen bammelnd, während Maxe hinten aufsaß. Jetzt gab es keine Langeweile mehr.

      Was beherbergte der Möbelwagen alles in seinem grünen Leib. Nein, was kam da alles wieder zum Vorschein. Mit jedem Stück feierten die Kinder ein freudiges Wiedersehen. Jedes Möbel, das die Männer heraufschleppten, begrüßten sie mit lautem »Hurra«, bis die Mutter dieser stürmischen Freude ein Ende machte. Wer sollte denn das aushalten, noch dazu am Umzugstage?

      An einem Fenster des schönen Hauses gegenüber, auf der anderen Seite der Straße, standen ebenfalls Kinder. Neugierig beobachteten sie das Abladen. Und jetzt nickten sie den Neuzugezogenen sogar einen Gruß herüber. Herbert und Suse nickten wieder. Die fremden Kinder winkten grüßend mit der Hand. Herbert riß das Fenster auf und schrie aus Leibeskräften: »Guten Tag – wie heißt ihr? Wir heißen Herbert und Suse.« Aber da kam leider der Vater dazwischen und schloß das Fenster energisch. »Die Türen sind auf, wir fliegen ja davon. Ihr glaubt wohl, Kinder, es muß heute überall ziehen, weil Umzugstag ist«, scherzte er.

      Nun hatte das große, grüne Ungeheuer das letzte Stück ausgespien. Fritze, Karle und Maxe waren dankend mit ihrem Trinkgeld abgezogen. Auch die kleine Omama und Frau Annchen gingen nun nach Hause. Die Möbel standen an richtiger Stelle und sahen in der fremden Umgebung ganz verändert aus. Körbe und Kisten waren in einem Zimmer aufgestapelt. Morgen ging man erst an das Auspacken derselben, denn man war hundemüde. Nur der Bettenkorb war geöffnet worden. Lene bezog die Kissen und Decken, damit die Kinder bald ins Bett kämen. Sie tobten vor Müdigkeit und waren kaum noch zu bändigen. Suse ritt auf Herberts Braunchen, das noch nicht wieder den Weg in die Rumpelkammer gefunden hatte. Herbert half dem Monteur, der noch schnell die elektrische Beleuchtung in Ordnung bringen sollte, indem er eine Birne entzwei machte.

      Aber schließlich waren die Zwillinge, nachdem sie zehnmal wieder entwischt waren, doch glücklich in der neuen Kinderstube untergebracht. Sie hatte Rosenknospentapeten, die Suses Begeisterung erweckten. Herbert begeisterte sich mehr für das fließende warme und kalte Wasser, dessen Hähne er unaufhörlich auf und zu drehte. An jedem Fenster stand bereits das Arbeitspult der Kinder. In der Ecke hatte der Puppenwagen mit sämtlichen Puppen schon seinen