Schranktüren auf- und zuzuschlagen. Er werde allmählich ein rechter Bub, an dem seine Mutter zärtliche Regungen noch vermisse. »Ich muss auf der Hut sein, dass er nicht zu eigenwillig wird, die Gefahr ist groß, dass ihn die Kindsmagd zu sehr verwöhnt!«
Von Evmarie berichtet ihre Mutter am 21. Oktober 1930, sie sei »ein liebes, sehr lebhaftes Dingle, und ist in der letzten Zeit auch recht kräftig geworden. Ich hoffe, dass sie doch noch, bis ihr ›Schwesterle‹92 anrückt, das Laufen lernt, so ganz zaghaft probiert sie es manchmal … Es ist gelungen, wenn Dieter Evmarie das Laufen beibringen will, dann zerrt er sie an beiden Händen in der Stube herum, bis sie alle beide auf der Nase liegen. Besser geht es schon, wenn er mit dem Schwesterle um die Wette krabbelt, aber das tut den Strümpfen so weh … ich muss jeden Tag Löcher in die Knie stopfen!« Und am 21. Juni 1932 wieder über Evmarie: »… ich habe manchen Verdruss mit ihrem erheblichen Eigensinn auszufechten, sie gibt nicht klein bei, wenn richtig ernst gemacht wird. Der Vater ist sehr entzückt von seinem Töchterchen. Es ist ja auch wahr, es gibt nichts Herzigeres als so ein kleines Mädle.«
Bezogen auf ihr Kind Hermann schreibt M. S. am 21. Juni 1932: »Das Hermännle ist ein so liebes Büble geworden, krabbelt schon ein bissle und wird allmählich auch flinker auf den Beinen; er kann ein so liebes schelmisches Gesichtle machen, dass man seine weniger schönen Seiten eben auch gern in Kauf nimmt.«
Über ihr viertes Kind Gerhard schreibt M. S. Jahre später an ihren gefangenen Mann: »Unser Gerhard interessiert sich nun für vieles … Er sieht Dir so ähnlich, dass man sich hüten muss, ihn deshalb extra liebzuhaben!«93
Was beschäftigte die Kinder im oder beim Hochelheimer Pfarrhaus? »Unsere Kinder vertreiben sich meist die Zeit am Sandhaufen im Hof, nachmittags ist aber dann gewöhnlich der Ausgang mit dem Leiterwägele in den Garten vor dem Dorf, wo ich bis jetzt immer auch allerhand Arbeit habe und nun auch das Ernten allmählich anfängt« (Rundbuch 21. Juni 1932).
Man kann sich unschwer vorstellen, dass M. S. mit ihren Kindern alle Hände voll zu tun hatte. Denoch fand sie Zeit, als »Pfarrfrau« sich voll einzusetzen bei Besuchen in der Gemeinde, auch bei Schwerstkranken. Sie berichtet im Rundbuch am 21. Juni 1932 erschüttert vom Todeskampf eines schwer epileptischen jungen Mannes, der unter tagelangen Krämpfen sterben musste; ebenso von dem jungen Nachbarn, der »nach zu starkem Luminalgenuss auf dem Sterbelager lag«. Man stehe vor dem Rätsel, ob der junge Mann absichtlich oder im Dämmerzustand vor oder nach einem Anfall die tödliche Dosis genommen habe. Es ist deutlich, dass die junge Pfarrfrau sich bald auch als »Mutter der Gemeinde« fühlte und sich gelegentlich im Zwiespalt zwischen ihrer Sorge für die Kinder und der Rolle der fürsorglichen Pfarrfrau wiederfand, weshalb sie im Blick auf ihre noch kinderlose Schwägerin Luise Dieterich94, die Frau ihres Bruders Karl, schreiben konnte: »Die liebe Luise in Rötenberg hat eines vor uns anderen Pfarrfrauenschwestern voraus: Wenn sie auch das Glück mit eigenen Kindern bis jetzt entbehren muss, 95 sie kann doch eine rechte Pfarrfrau ihrer Gemeinde sein und läuft nicht mit dem beständigen Stachel im Gewissen herum, dass man zu wenig zu Gemeindebesuchen kommt und zu sehr sich selbst und seinem eigenen Reich lebt!«
Auf die kirchliche Sitte wird gehalten. Jede Altersgruppe geht zweimal im Jahr an ihrem bestimmten Sonntag zum Abendmahl. Die feierliche Abendmahlstracht der Frauen gibt diesen Sonntagen ein besonderes Gepräge. Jeder Neuling ist beeindruckt von der Ehrwürdigkeit dieser kirchlichen Sitte. Paul aber weiß, dass sie im Gegensatz steht zu der zunehmenden Verweltlichung und Entkirchlichung, die besonders bei der Jugend eingesetzt hat. Zwar wird am Abendmahlsgang festgehalten, aber wo kann da noch Ehrfurcht sein, wo Sündenerkenntnis, wo Buße, wo Bereitschaft, sich von Christus beschenken zu lassen, wenn man sonst selten oder nie unters Wort kommt?96 Lässt man sich nicht nur vom Rhythmus des Althergebrachten bestimmen? Paul wurden die Abendmahlsfeiern der jüngeren Gruppen mehr und mehr zur Last. Ältere Amtsbrüder rieten Paul, diese Sonntage als missionarische Gelegenheiten zu werten, aber er, der volksmissionarisch Begabte, war gerade an diesen Sonntagen gehemmt. Trug er als Seelsorger nicht mit die Verantwortung, wenn viele mit gleichgültigem Herzen zum Herrenmahl kamen? In der Beichtansprache bat er die Jugend – wohl nicht nur in dem einen mir bekannten Fall –, doch den Mut zu haben und in den Bänken zu bleiben, er achte sie darum – wenn sie doch nicht von ihrem alten Treiben lassen wollten. Sie taten’s nicht. Am Abend aber besuchte sie der Pfarrer im Tanzlokal. Paul wies immer wieder hin auf die Notwendigkeit des selbstständigen Beichtgottesdienstes und die persönliche Anmeldung zum Abendmahl, wie es ja auch in früheren Zeiten gute Sitte war.
Der selbstständige Beichtgottesdienst mit Beichtansprache, Sündenbekenntnis und Zuspruch der Vergebung, der in der Regel etwa drei Tage vor dem Abendmahl gefeiert wurde, sollte dem Abendmahlsgast die Gelegenheit geben, seine Lebenspraxis vor Gott selbstkritisch zu bedenken, eventuell auch mit Verfeindeten Frieden zu schließen, nach dem Wort Jesu: »… wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass dort vor dem Altar deine Gabe und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe« (Matthäus 5,23f). Die persönliche Anmeldung zum Abendmahl – sie geschah in vielen Gemeinden an einem bestimmten Abend in der Sakristei der Kirche – sollte dem Pfarrer Gelegenheit geben, dem sich Anmeldenden unter Umständen ein seelsorgerliches, etwa auch ein vermittelndes Gespräch anzubieten. P. S. vertrat die Auffassung, die Dietrich Bonhoeffer97 1937 in seinem Buch »Nachfolge« ausgeführt hat: »Billige«, d. h. folgenlose Gnade, Gnade als Schleuderware, Vergebung für Sünden, die man weder bereut noch künftig lassen will, ist »der Todfeind der Kirche«. »Teure« Gnade, die Jesus das Leben gekostet hat, verändert, wenn sie als kostbares Geschenk empfangen wird, das Leben dessen, der aus ihr lebt. P. S. mühte sich, der drohenden »Banalisierung« des Abendmahls entgegenzutreten.
Paul erstrebte eine Abendmahlsfeier inmitten der mitsingenden und betenden Gemeinde, die in kürzeren Abständen jeden rief und jeden anging, der sich rufen und dienen lassen wollte. Mit seinem Presbyterium98 kam er darüber nicht überein. Weihnachten 1933 schien ihm das Jugendabendmahl in der alten Form unmöglich zu sein; er setzte dafür ohne Beschluss des Presbyteriums99 beim letzten Adventswochengottesdienst ein Gemeindeabendmahl an. »An Weihnachten konnte ich nun nicht mehr wie nun 7 Jahre lang das Jugendabendmahl nach alter Sitte abkündigen und abhalten. Es war nachgerade ein Unfug, dass bei dem im Übrigen recht spärlichen Gottesdienstbesuch der Jugend – Sport und Hitlerdienst haben einer Gottesdienstsitte der Jugend den Rest gegeben – sich zu diesem Fest-Abendmahl alles drängte und so seine Verpflichtung gegen Kirche und Gott ablöste. Nun habe ich also den Zwang der Sitte zerbrochen. Ich rief zu einer Bekenntnisfeier mit anschließendem freiwilligen Abendmahl auf« (Brief vom 29. Januar 1934). – Die Gemeinde wird »nicht entlassen«, eine kleine Schar – Junge und Alte – lässt sich rufen. Wer etwas weiß von Dorfgemeinschaft, Gebundenheit an Dorfsitte bis hin zur feierlichen Kleidung, der mag ermessen, wie schwer es jedem Einzelnen geworden ist. Auch einer der sechs Presbyter erhob sich und trat ruhig und feierlich heraus. Dies ist Pauls letztes Abendmahl in Hochelheim gewesen. Der Bruch mit seinem Presbyterium wurde darüber endgültig. Sein »eigenmächtiges Handeln« wurde dem Konsistorium100 angezeigt. Paul wusste, dass er gegen die presbyteriale Ordnung101 verstoßen hatte, er hoffte aber, dass er sich um der Sache willen mit seinen Presbytern wieder zusammenfände, aber diesem Ringen wurde vom Konsistorium und von der NSDAP bald ein Ende gesetzt. (Siehe den Bericht am Ende dieses Abschnittes über Hochelheim.)
Da der Konflikt um das Abendmahl, den P. S. vor allem Ende 1933/Anfang 1934 durchzustehen hatte, P. S.s Anspruch an die Wahrhaftigkeit kirchlichen, besonders gottesdienstlichen Lebens eindrücklich zeigt, auch weil dieser Streit wesentlich dazu beigetragen hat, dass sich P. S. in Hochelheim als Pfarrer nicht mehr halten konnte, hier noch einige Einzelheiten:
Wenn wir die Gewissensnöte des Pfarrers P. S. im Blick auf die traditionellen Jahrgangsabendmahle – sie haben sich in Jahren verdichtet – verstehen wollen, müssen wir uns vor Augen führen, wie M. S. sie im Gespräch mit P. Dieterich beschrieben hat: Zirka hundertfünfzig bis zweihundert hauptsächlich jugendliche Abendmahlsgäste – es werden meist vier Jahrgänge zusammengefasst – kommen nacheinander gruppenweise vor den Altar, stehen da, zum Teil die Hände in den Hosentaschen, signalisieren einander mit eindeutigen Gesten ihr bares Unverständnis,