von obdachlosen Familien. Aus einem Brief an die Mutter: »Es ist ein Wort so recht für unsere Tage, dass der rechte Sozialismus nicht auf der Straße, sondern in der Familie anfange.«
Schwester Anna Groth aus Gießen erzählt von ihrer ersten Begegnung mit Paul Schneider: »Mir fehlten Gardinenschnüre für Vorhänge; ein Telefonanruf hatte mir gemeldet, dass ein Handwerker mir in kurzer Zeit das Fehlende bringen werde. Da sprang ein hochgewachsener Mann im Lodenmantel und mit einem Rucksack auf dem Rücken in großen Sätzen die Treppe herauf. ›Na endlich, schön, dass Sie kommen. Nehmen Sie nur gleich die Leiter mit!‹ Paul Schneider strahlte über das ganze Gesicht. ›Gut, wir wollen uns schnell dranmachen. Wie oft habe ich meiner Mutter schon dabei geholfen!‹ Und dann stellte er sich vor: ›Der neue Pfarrer von H.‹ Wie oft haben wir danach über diesen Irrtum gelacht! Ernster wurde dann später unsere Begegnung an dem Sterbebett einer jungen Mutter, die eine Schar unversorgter Kinder zurückließ. Die Forderung des jungen Pfarrers, sich nur ungesäumt mit Freuden zu einem seligen Sterben zu rüsten, schien mir unmenschlich, und ich sagte ihm das. Wir kamen nicht überein, und auch ihn ließ dieses Sterbebett so bald nicht mehr los. Eines Tages bat er mich, ihn und seine junge Frau doch einmal in H. zu besuchen, wir könnten dort in Ruhe über diese Dinge sprechen. Im Laufe der Jahre bin ich dann so manches Mal dort eingekehrt, und immer war unsere Begegnung eine lebendige. Waren wir uns über irgendeine Fragestellung und ihre Beantwortung nicht ganz im Klaren, so bekam ich ein Buch in die Hand gedrückt, dessen Seiten mit zahlreichen Notizen, Frage- und Ausrufungszeichen bedeckt waren.
Bei der Lebhaftigkeit seines Geistes und Temperamentes konnte er manchmal heftig dreinfahren; das blieb nicht aus. Meine ›Toleranz‹ ärgerte ihn oft; für ihn gab es nur schwarz oder weiß, Feuer oder Wasser. Seit er sich unter schweren Kämpfen seinen Glauben errungen hatte, stand dieser Glaube fest wie ein kantiger, aus dem Boden gewachsener Felsen, an dem die Wasserwirbel emporschäumen und sich, wenn auch unter Toben und Brausen, teilen mussten. Niemals habe ich einen Menschen gekannt, der so völlig unbeirrt, so kompromisslos seinen Weg gegangen wäre. Der junge Kämpfer nötigte einem schon Hochachtung ab, wenn auch seine Jugendkraft über das Ziel hinausschießen konnte. Regelmäßig kam er dann hinterher, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen.
Einmal schrieb er mir: ›Es war mir doch eine große Erleichterung, als Sie mir auf meinen etwas kriegerischen Brief eine so freundliche Antwort schrieben. Hinterher habe ich es nämlich doch mit der Angst gekriegt, ob es recht war, so zu schreiben, wie ich es tat. Christen sollten sich doch immer ganz ernst nehmen und einander gelten lassen.‹ – Dieser seiner herzlichen Art konnten sich nur wenige Menschen verschließen. Dazu kam eine großzügige Gastfreundschaft des Pfarrhauses. Es war in den Jahren der großen Arbeitslosigkeit. Menschen zogen mit Kind und Kegel durch das Land, um für sich und die Ihren das tägliche Brot zu finden. Als ich wieder einmal nach H. kam, herrschte im Pfarrhaus Hochbetrieb. Eine zehnköpfige Familie war dort ohne Unterkunft und Barmittel hängengeblieben. Was war natürlicher, als dass sie im Pfarrhaus Aufnahme fanden? Schnell wurde auf der Scheuer Heu ausgebreitet zum Nachtlager. Wir kletterten die steile Leiter hinauf; da konnte man zwischen den krabbelnden Kindern den großen Mann sitzen sehen, mit ihnen spielen und ihnen von dem großen Kinderfreund erzählen hören. Unvergesslich stehen diese Bilder mir vor Augen. Damals wohnte das sorglose Glück im Pfarrhaus, strahlend und leuchtend und andere an seiner Wärme teilnehmen lassend …«
Dass die vielseitige Beanspruchung es auch bewirkte, dass M. S. sich Sorgen um die Gesundheit ihres Mannes machte, kann nicht verwundern. Im Rundbuch schreibt sie am 21. Oktober 1930: »Paul wird bei all dem Umtrieb natürlich keineswegs dicker, es ist nur ein Glück, dass seine Nierengeschichte bis jetzt keine Fortschritte macht … Heute erlebten wir eine komische Enttäuschung: Wir hielten ein festes, rundes Kügelchen, das deutlich an Pauls Oberschenkel zu fühlen war, für die Schrappnellkugel, die Paul als Kriegsandenken mit sich rumträgt. Der Arzt auf dem Versorgungsamt schickte heute Paul in die Klinik zur »Operation«, dort haben sie auch geschnitten, aber es war keine Kugel zu finden, die »Kugel« war nur ein kleines Talggeschwulst. Eine Röntgenaufnahme zeigte dann den richtigen Platz. Sie sitzt ganz fest und unverändert am Beckenknochen und muss eben dort sitzen bleiben.«
In diesem bewegten Pfarrersleben hatte die große Politik nicht viel Raum, doch äußerte sich Paul im geschwisterlichen Rundbrief 1932 nach der Beschreibung einer großen Radtour mit einigen Burschen der Gemeinde darüber so: »lm Übrigen bewege ich mich auf viel faulere Weise mit dem Motorrad im gelben Staubanzug fort, den Pfarrer bis zur Unkenntlichkeit verleugnend und von den Kindern und andern begeisterten Hitlerinnen mit den typischen Heilrufen gegrüßt. Wir sind dieser modernen Volksbewegung – ich drücke mich vorsichtig aus, um in unsern geschwisterlichen Kreis keine politische Trennung zu tragen – noch nicht zum Opfer gefallen, sondern halten es viel lieber mit dem gut schwäbischen Gewächs des christlichen Volksdienstes, haben uns treu und offen zu Hindenburg bekannt bei den Wahlen, was mir meine Stellung freilich noch erschwerte und mir eine Beschwerde des Gauführers der NSDAP beim Superintendenten eintrug, sind aber mit Hindenburgs neuesten Taten nicht ganz einverstanden.«
P. S. äußert sich hier im Kreis der Geschwister, Schwägerinnen und Schwäger darüber, wo er derzeit politisch steht. Der Christlich-Soziale Volksdienst (CSVD) war eine konservative Partei, die vom evangelischen Christentum her eine den Erfordernissen der modernen Welt Rechnung tragende Staats- und Sozialpolitik vertrat. Auch gewerkschaftlich-sozialpolitisch orientierte Leute, die von den Deutschnationalen abgesplittert waren, fanden sich in ihr. Im Jahr 1924 hat der Christlich-Soziale Volksdienst, der seine Wurzeln im Berlin der Neunzigerjahre des 19. Jahrhunderts hatte, sich mit dem in der evangelischen Bevölkerung Württembergs angesehenen »Christlichen Volksdienst« vereinigt. Der CSVD erreichte bei der Reichstagswahl am 6. November 1932 immerhin vierzehn Abgeordnetensitze (2,5 Prozent). Er fand aber zu keiner festen Gestalt, erhielt bei der nächsten – der letzten freien – Reichstagswahl am 5. März 1933 nur noch ein Prozent der Stimmen und war dann so gut wie verschwunden.126
Der CSVD bejahte die Weimarer Demokratie. An einer Regierung der Weimarer Republik war er nie beteiligt. Er wollte im christlichen Sinn das Volk versöhnen, statt zu spalten; daher stand er jeweils den verschiedenen demokratisch gewählten Regierungen nahe. An der NSDAP kritisierte er heftig die rassistische Ideologie. In der politischen Arbeit sah er »Gottesdienst und Missionsaufgabe« (Art. 1 der Leitsätze des CSVD). Als Ziel verfolgte er die uneingeschränkte Herrschaft Gottes in Familie, Gesellschaft, Volk, Staat und Völkerleben (Art. 2). In der Kulturpolitik widmete er sich dem Kampf gegen Schund und Schmutz und gegen den Alkoholismus. Wenn sich P. S. zum CSVD bekannte, lag er, obwohl der Christliche Volksdienst in den evangelischen Kreisen Württembergs viele Anhänger hatte, damit doch nicht auf der Normallinie des deutschen Protestantismus, der sich vorwiegend durch die Deutschnationale Volkspartei vertreten sah.127
P. S. erinnert an seine öffentliche Unterstützung von Hindenburg: Im Vorfeld der Wahlen des Reichspräsidenten, die am 13. März und am 10. April 1932 stattfanden (Ergebnis: 53,93 Prozent der Stimmen für Hindenburg, 36,68 Prozent für Hitler, 10,13 Prozent für Thälmann128), nahm P. S. mehrfach öffentlich für Hindenburg Stellung, was ganz auf der Linie des CSVD lag. Das tat er wohl auch, um seinen Gemeinden ein Zeichen zu setzen gegen deren aufkommende Begeisterung für die NSDAP. In Dornholzhausen stimmten nämlich im ersten Wahlgang der Reichspräsidentenwahl 68,5 Prozent (!) für Hitler, nur 28,3 Prozent für Hindenburg. Spektakulär war Schneiders Stellungnahme, als er vor der Wahl zusammen mit einem gegenüber wohnenden Lehrer ein Transparent vom Pfarrhaus zu dessen Haus über die Straße spannte mit der Aufschrift: »Wählt unseren Besten!« Jeder im Ort wusste, wen der Pfarrer meinte.
Über diese Wahlwerbung des Pfarrers beschwerte sich der Stützpunktleiter der NSDAP beim zuständigen Superintendenten Wieber.129 P. S. verteidigte seine Meinungsäußerung für Hindenburg, die er vor allem als eine Auseinandersetzung mit der NSDAP verstand. Er kritisierte die »heidnisch-völkischen Stimmungen« in der NSDAP und nannte in diesem Zusammenhang Alfred Rosenberg, den Verfasser des »Mythus des 20. Jahrhunderts«130. Er monierte »die unchristliche Haltung der Bewegung gegen Altes Testament und Juden«.
M. S. und P. S. pflegten mit aller Selbstverständlichkeit freundschaftlichen Kontakt mit Juden in Hochelheim. Am Sabbat erledigten P. S. oder Familienglieder für die