Raymond Unger

Vom Verlust der Freiheit


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dass deutsche Männer zäh, flink und hart sein müssen. Sie sind die Kinder von Müttern, die beim Jungmädelbund oder Bund Deutscher Mädel (BDM) lernten, dass das Schlachtfeld einer tapferen deutschen Mutter das Kindbett ist. Deutsche Babyboomer sind die Kinder von Eltern, die ohne Väter aufwuchsen oder deren Väter körperlich oder seelisch so verwundet waren, dass sie ihren Kindern niemals nahekommen konnten. Babyboomer sind die Kinder von Kindern, die von kalten, verbitterten Müttern erzogen wurden, die alles verloren hatten, oftmals auch die Liebe zu ihrem eigenen Körper. Und – deutsche Babyboomer sind die Enkel von Großeltern, die einem verbrecherischen Regime zujubelten, die von Stalingrad bis El-Alamein Krieg führten und die Menschen wegen ihrer Abstammung oder persönlicher Merkmale ausgrenzten und töteten.« 11A

      Da nicht jeder Leser mein vorangegangenes Buch kennt, möchte ich zunächst kurz drei psychologische Pathomechanismen auffrischen. Diese Mechanismen sind für das Nicht-erwachsen-Werden vieler Babyboomer, den heutigen Entscheidern in Medien, Politik und Kultur, mitverantwortlich:

       Misslungene Triangulierung

       »Viele Psychologen, die sich mit der Reife meiner Generation beschäftigen, halten 80 Prozent der deutschen Babyboomer-Männer für ›mangelhaft trianguliert‹. Was nichts anderes bedeutet als ›Kind geblieben‹. […] Vorab und verkürzt gesagt: Misslungene Triangulierung führt zu einem Mutterkomplex. […] Die Konflikte in der Ich-Werdung gestalten sich bei Jungen komplexer als bei Mädchen, denn ein Hineinwachsen in die eigene Geschlechterrolle wird als größerer Verrat an der Mutter erlebt. Aufgespannt zwischen Selbstentdeckung und Loyalität zur Mutter entsteht ein großes Aggressionspotenzial, denn die Loslösung von der weiblichen Identifikation zugunsten einer noch fremden Identität wird als große Bedrohung erlebt. Irgendwann versuchen kleine Jungen, diesen Konflikt ödipal zu lösen, indem sie ihre Mutter begehren. Nach Meinung vieler Analytiker lässt sich dieser Konflikt für Jungen jedoch nur dann befriedend lösen, wenn eine ›triangulierende dritte Person‹ hinzutritt – der Vater. Erst das Entdecken des Vaters als neue, männliche Identifikationsfläche, aber auch als Schutz gegen den vermeintlichen Verlust der Mutter erlaubt es kleinen Jungs, ihren symbiotischen Konflikt auf gesunde Weise zu lösen. […] Wenn kein Vater als Identifikationsfigur verfügbar ist, besteht die Gefahr, dass ein sogenannter ›Puer-aeturnus-Komplex‹ (nach C. G. Jung) ausgebildet wird. Der Komplex beschreibt Männer, die auch in der Lebensmitte die innerpsychische Reife von Teenagern behalten. Der ewige Jüngling ›führt typischerweise ein provisorisches Leben wegen seiner Angst, in einer Situation gefangen zu werden, aus der er nicht mehr entkommen kann. Er begehrt Unabhängigkeit und Freiheit, reibt sich an Grenzen und neigt dazu, jede Einschränkung unerträglich zu finden.‹ Nicht zufällig entspricht die psychologische Beschreibung des Puer-aeturnus-Komplexes ziemlich genau den Beschreibungen des typischen Babyboomer-Mannes in der klassischen Kriegsenkel-Literatur. […] In den meisten Fällen unreifer Babyboomer-Männer lässt sich tatsächlich ein abwesender oder persönlich schwacher Vater nachweisen, der allenfalls physisch anwesend war, aber dennoch emotional unerreichbar blieb. Viele Väter meiner Generation waren als Kriegskinder traumatisiert worden. Emotionale Nähe zu ihren leiblichen Kindern löste bei vielen Vätern der Kriegskind-Generation eine Abwehrreaktion aus, denn Emotionalität war ein Trigger zur Rückerinnerung an die eigene Kindheit. […]

       Parentifizierung

       Insbesondere in Bezug auf die Rolle kleiner Jungen in Familiensystemen ergibt sich aufgrund der häufig abwesenden Väter ein besonderer Pathomechanismus der Parentifizierung, den ich ›Kronprinzeffekt‹ nenne. Wegen der Infantilität ihrer Männer waren viele Frauen der Kriegskind-Generation in ihrer Mutter- und Elternrolle überfordert. Was eine angemessene Verantwortung für das Familiensystem angeht, so entwickelte sich der emotional abwesende, kindische Mann nicht selten zum Totalausfall. Durch Arbeitssucht, Alkoholismus oder übertriebene Hobbys ihrer Männer fühlten sich viele Frauen enttäuscht und im Stich gelassen. Die Zuwendungen und Bestätigungen holten sich daher viele Kriegskinder-Mütter von ihren Babyboomer-Söhnen, die als ›Ersatzmänner‹ fungierten. Realer sexueller Missbrauch war hierbei sicherlich eher eine Ausnahmeerscheinung, dennoch entwickelten viele Kronprinzen ungesunde Solidarisierungen mit der Mutter gegen den Vater, was die enge Mutterbindung noch weiter zementierte. Töchter solidarisierten sich natürlich ebenso mit ihren Müttern, was jedoch nicht ganz so unnatürlich erschien. Nicht selten entstand eine typische Frontlinie: Mutter und Kinder auf der einen Seite – der einsame Vater auf der anderen Seite, was den Rückzug der Väter natürlich noch weiter vergrößerte. […] Von Parentifizierung im Familiensystem sind natürlich auch Mädchen betroffen, denn der Prozess beschreibt allgemein eine ungesunde Umkehr in der Eltern-Kind-Rolle. Alle Prozesse, in denen emotional bedürftige, regressive Eltern ihre eigenen Kinder dazu missbrauchen, sich Zuwendung und Support zu holen, führen zur ›Parentifizierung‹. Der Begriff bedeutet ›sich Eltern machen‹, und zwar aus den eigenen Kindern. Dabei fühlen Kinder ganz instinktiv die Schwäche ihrer Eltern und wissen ganz genau, dass sie auf Gedeih und Verderb von ihnen abhängig sind. Deshalb tun Kinder nahezu alles, um ihre Eltern zu stützen. Man muss Kinder kaum aktiv in nicht-kindgerechte Rollen drängen, sie übernehmen wie von selbst eine ›Eltern-Funktion‹ gegenüber einem oder beiden Elternteilen, wenn sie die Familie bedroht sehen. Sie opfern ihr eigenes, kindgerechtes Leben zugunsten des Systems – zu einem schrecklichen Preis. Denn hiermit wird ein unseliger Kreislauf geschlossen, Parentifizierung vererbt sich weiter – in diesem Fall von den Kriegskindern auf die Babyboomer. […]

       Doppelbindung

       Der Prozess der Parentifizierung ist eng mit der Doppelbindungstheorie verknüpft. Ebenso wie Kinder instinktiv fühlen, dass sie in eine nicht gemäße Erwachsenenrolle schlüpfen, in der sie missbraucht werden, fühlen auch Eltern, dass es nicht okay ist, sich über Gebühr von ihren Kindern stützen zu lassen. Im Familiensystem bauen sich daher kommunikative Tabus auf, damit derartige Rollenumkehrungen nicht offengelegt werden. Hierbei kristallisieren sich typische, äußerst negative Kommunikationsmuster heraus, die man früher als Ursache für Schizophrenie in Betracht gezogen hatte. Obgleich sich diese These nicht bestätigen konnte, üben derartige Kommunikationsformen dennoch eine sehr lähmende Wirkung auf Schutzbefohlene aus. Zentrales Merkmal ist ein Machtgefälle und eine Abhängigkeit zwischen Erziehungsberechtigten und Kindern oder im Äquivalent zwischen Chefs und Angestellten. Kern des Problems sind paradoxe Signale oder Handlungsaufträge, die sich widersprechen, die aber dennoch eine Handlung einfordern, bei der sich der Schutzbefohlene in jedem Fall schuldig macht, ihn also in ein Dilemma stürzt. Perfiderweise sind die doppelten Botschaften oder Signale nicht sofort erkennbar, da sie sich mitunter auf unterschiedlichen Kommunikationsebenen abspielen. Möglicherweise gibt es einen verbalen Handlungsauftrag, der zugleich jedoch von einem nonverbalen Verbot (über Mimik und Gestik) begleitet wird. Der Sender (Elternteil) leitet damit einen eigenen ungelösten, ambivalenten Konflikt an den Empfänger (Kinder) weiter, zugleich ist der Vorgang natürlich in hohem Maße aggressiv. Für den Empfänger ist die Doppelbindung unauflösbar, weil er keine Wahl hat, den restriktiven Maßnahmen zu entgehen – er macht sich in jedem Fall schuldig. Zudem gibt es ein unausgesprochenes Verbot zur Metakommunikation, das heißt, es ist dem Empfänger strengstens untersagt, den Widersinn der Situation anzusprechen, denn damit würde er alles noch schlimmer machen. Da sich der Empfänger aufgrund seines Abhängigkeitsverhältnisses gezwungen sieht, der Aufforderung nachzukommen, und er die Situation nicht verlassen kann, erlebt er jede Double-Bind-Kommunikation als ohnmächtige Qual.« 12

      Zur Vertiefung dieser Pathomechanismen muss ich auf mein vorangegangenes Buch verweisen. In diesem Folgewerk ist mir eine Ergänzung wichtig, die ich für die Entstehung der großen politischen Narrative der Neuzeit für wesentlich halte: die internalisierte, toxische Scham nach John Bradshaw.

      Der Psychotherapeut und Bestsellerautor John Bradshaw stellt