Raymond Unger

Vom Verlust der Freiheit


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die sie einmal waren.« Was in Südafrika für Verwunderung sorgte, wurde von den Merkel-Getreuen in der Heimat so gedeutet: Brandmauer gegen rechts verstärken, gegen links einreißen. 24 Stunden später hielt Annegret Kramp-Karrenbauer, die in naiver Weise an eine Brandmauer in beide Richtungen geglaubt hatte, eine Pressekonferenz und verkündete ihren Rücktritt.

      Die Thüringer Landtagswahl war offenkundig kein Zivilisationsbruch. Ein dramatisches Novum war sie allemal. Der Grund hierfür liegt jedoch weniger im demokratischen Prozess, bei dem die Thüringer Parlamentarier den liberalen FDP-Mann Thomas Kemmerich gewählt hatten. Immerhin sollte mit dieser Wahl ein linker Ministerpräsident verhindert werden, welcher der SED-Nachfolgepartei vorsteht, die noch immer ein irritierendes Verhältnis zur Gewalt pflegt. Als am 1. März 2020 auf der Strategiekonferenz der Linken die Genossin »Sandra« aus dem Publikum heraus vorschlägt, ein Prozent der Reichen zu erschießen, brandet nicht etwa Protest im Saal auf. Vielmehr korrigiert Parteichef Bernd Riexinger den Erschießungsplan und mildert die Strafe ab, indem er stattdessen Zwangsarbeit im Gulag vorschlägt: »Wir erschießen sie nicht, wir setzen sie schon für nützliche Arbeit ein.« Der Saal findet Riexingers Vorschlag witzig. Doch zurück zur Thüringer Landtagswahl: Erstmalig hatte Berlin direkten, unmissverständlichen Einfluss auf eine Landtagswahl genommen – bislang ein absolutes No-Go.

       »Wie ein gehorsamer Offizier fuhr CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer noch am selben Tag [der Wahl in Thüringen] nach Erfurt und verlangte von ihren Parteifreunden, für eine Neuwahl des Thüringer Landtags zu sorgen. Solcherlei Einmischungen in die Belange eines Bundeslandes kannte man bisher nur aus Russland. […] Eine derartige Nötigung eines gewählten Ministerpräsidenten hat es in Deutschland bisher nicht gegeben. Unabhängig davon, wie man zu Kemmerichs Agieren stehen mag, sind die Vorgänge in Thüringen der bislang vielleicht gravierendste Fall, dass verfassungsrechtliche Regelungen für ein höheres politisches Ziel – in diesem Fall die Ausgrenzung der AfD – außer Kraft gesetzt worden sind. Dieser Rechtsbruch erschüttert nicht nur das Vertrauen in die Verlässlichkeit des Rechtsstaates, sondern lässt befürchten, dass ihm weitere folgen werden.« 24

      Zu diesem Zeitpunkt kann Hubertus Knabe noch nicht wissen, wie recht er mit dieser Einschätzung hat. Schon wenige Wochen später beschließt die Regierung derart überzogene Verordnungen, dass immer wieder Gerichte einschreiten müssen. Doch mit der Novellierung des Infektionsschutzgesetzes, die einem Freibrief zur Aushebelung grundlegender Freiheitsrechte gleichkommt, beschränkt sie die Macht der Judikative nachhaltig. Der Umgang mit Kemmerichs Unterstützern und Gratulanten, die entfernt wurden oder zu Kreuze kriechen mussten, sowie der Feldzug gegen die WerteUnion in der CDU lassen bereits im Februar nichts Gutes für das Jahr 2020 erahnen. Mit Thüringen wurde ein Exempel statuiert, zum einen, um die AfD ein für alle Mal politisch zu isolieren, zum anderen, um die grundlegende Politikwende der CDU einzuleiten. Der Historiker Hubertus Knabe drückt es so aus:

       »Die [Thüringen-]Wahl und ihre Folgen haben eine Dynamik ausgelöst, die das politische System in Deutschland auf Dauer verändern dürfte.«

      Knabe meint damit weniger die erfolgreiche Isolation der AfD, sondern die Öffnung der CDU nach links. Wer noch immer an eine CDU der Mitte geglaubt hatte, die sich selbstverständlich gegen rechts und links abgrenzt, wurde nach Thüringen eines Besseren belehrt. Nachdem Angela Merkel erste Signale zur Verniedlichung der »Kommunisten von heute« aus dem fernen Afrika gesendet hatte, wurde die Zusammenarbeit mit der SED-Nachfolgepartei Realität. Die CDU nannte ihren neuen Kurs euphemistisch »projektorientiert«, im Sinne eines »Stabilitätspaktes« gegen die AfD.

       »Der Beschluss, nach einer siebenstündigen Sitzung der Verhandlungsgruppen von Linken, SPD und Grünen, lautet: Die CDU wird künftig eine rot-rot-grüne Landesregierung unter Führung der Linken unterstützen. Das ist eine historische Zäsur in der Bundesrepublik. […] Eine Zäsur ist das deshalb, weil die CDU damit den Unvereinbarkeitsbeschluss, den sie auf Bundesebene gefasst hat, sehr praktisch unterläuft. Keine Zusammenarbeit mit Linken und AfD – das ist die Regel, die sich die Partei eigentlich auferlegt hat. Von nun an wird es eine klar definierte Zusammenarbeit der CDU mit der Linken geben.« 25

      Die Linke konnte ihr Glück kaum fassen. Die Linken-Vorsitzende Katja Kipping twitterte euphorisch:

       »Die Verständigung in #Thüringen hat histor. Dimension: Damit ist die von CDU praktizierte Äquidistanz faktisch erledigt. Good-bye Hufeisentheorie. Dass CDU endlich die Ausgrenzung linker Ideen korrigiert, ist eine gute Nachricht für den antifaschistischen Konsens des Grundgesetzes.« 26

      Am 04. März 2020 war es schließlich so weit, Bodo Ramelow wurde zum neuen, alten Ministerpräsidenten gewählt. Durch strategische Enthaltung und Wahlverweigerung seitens der Abgeordneten von CDU und FDP kam Ramelow im dritten Wahlgang auf die erforderlichen Stimmen. Die Tagesschau frohlockte und verkündete Erleichterung.

       »Dementsprechend erleichtert reagierten Bundespolitiker nun nach der geglückten Wahl. ›Das Chaos in Thüringen hat vorerst ein Ende. Ich bin sehr froh, dass ein erneuter Tabubruch durch FDP und CDU ausgeblieben ist‹, schrieb der SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil auf Twitter. […] Linken-Parteichefin Katja Kipping sah sich bestärkt: ›Thüringen ist nicht Deutschland, aber Deutschland kann heute in Thüringen lernen, dass die Rechte nicht gewinnt, wenn es eine echte solidarische Alternative gibt.‹« 27

      Dass CDU und FDP bei dieser Wahl-Variante den linken Bodo Ramelow unterstützten, war für die Tagesschau selbstverständlich kein Tabubruch. Vielmehr sei die neue »solidarische Alternative« zukünftig womöglich auch eine Option für eine Zusammenarbeit mit der Partei Die Linke auf Bundesebene. Der Spiegel schwärmte von den neuen Möglichkeiten und deklarierte Bodo Ramelow kurzerhand als »überparteilich« und fast gar nicht mehr »links«:

       »Jetzt, in seiner neuen, überparteilichen Rolle, ist er weniger Linker denn je. Und gleichzeitig, das ist die Dialektik, liegt darin diese große Chance für seine Partei: Ramelow muss sich weiter von der Linken emanzipieren, um sie letztlich in die Koalitions- und Regierungsfähigkeit auf Bundesebene führen zu können.« 28

      Die offenkundige Parteinahme der Leitmedien wurde vor allem damit legitimiert, die AfD abwehren zu müssen. Das Erstarken der AfD, Klimakollaps und ab März auch noch der Pandemieschutz würden ganz neue Strategien erfordern. Inzwischen müsse man mit der nationalen Demokratie ein Stück weit kreativer und flexibler umgehen, um die mannigfaltigen globalen Krisen bewältigen zu können. Bezüglich dieses »kreativen« Umgangs mit Demokratie sind sich selbst ehemalige politische Erzfeinde wie Hans-Peter Friedrich (CSU) und Robert Habeck (Grüne) einig. Heute müsse man sich erlauben, Demokratie »völlig neu zu denken«, vernimmt man inzwischen aus fast allen politischen Lagern. Robert Habeck äußert sich angesichts der Klimakrise auf seiner Homepage:

       »Weil die globale Klimakrise Fahrt aufnimmt, weil ein globaler, digitaler Kapitalismus schneller und schneller wird, sind politische Entscheidungen so häufig nur nachlaufend, reparieren, statt gestalten. […] Deshalb müssen wir auch die Art, wie Politik gemacht wird, neu erfinden. […] Wenn wir realistisch sein wollen, müssen wir radikal werden.« 29

      Hans-Peter Friedrich, weniger vom Klima als von der Thüringer Landtagswahl bestürzt, ergänzt am 08.02.2020 auf Twitter:

       »Mensch @RolandTichy, was heißt hier ›demokratische Wahl‹. Sie können doch nicht einfach die Mehrheit entscheiden lassen, wenn eine moralisch höherwertige Minderheit anderer Meinung ist. Wir müssen Demokratie völlig neu denken.«

      Viel direkter und offener kann man den bisherigen demokratischen Konsens kaum aufkündigen. »Demokratie neu denken« und »höherwertige Minderheit bevorzugen« bedeutet, eine demokratische Stimme ist nicht einfach eine Stimme. Nach Friedrichs Auffassung sollten Stimmen nach ihrem »moralischen Gewicht« bemessen werden, und eine Stimme von »Guten« oder von »Experten« wiegt nach dieser Auffassung schwerer. Die »Guten«, also Menschen wie Angela Merkel, Robert Habeck, Hans-Peter Friedrich oder Herbert Grönemeyer, dürfen und müssen ein Stück weit totalitär