Bettina Baltschev

Am Rande der Glückseligkeit


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      Les bains à Ostende, James Ensor, 1890

       Bettina Baltschev

       Am Rande der Glückseligkeit

       Über den Strand

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      »Öffnete man die Menschen, fände man Landschaften.

       Öffnete man mich, fände man Strände.«

       Agnès Varda

       »I must down to the seas again, for the call of the running tide

       Is a wild call and a clear call that may not be denied;

      And all I ask is a windy day with the white clouds flying,

       And the flung spray and the blown spume, and the sea-gulls crying.«

       John Masefield

       Prolog

       1

       Scheveningen

       »Aber ansonsten war es ein tobendes Stürmchen«

       2

       Brighton

       »Ein wenig Baden im Meer würde mich für immer kräftigen«

       3

       Ostende

       »Es riecht nach Meer, und jedes Sandkorn wacht«

       4

       Utah Beach

       »Er wurde kaltgemacht – So sah es am Strand aus, als ich ankam«

       5

       Hiddensee

       »Gedankenschnell huscht hier das Licht über den Strand«

       6

       Ischia

       »Zu meiner großen Enttäuschung war Nino nicht unter dem Sonnenschirm«

       7

       Benidorm

       »Dann verwandelt sich die Stadt am Meer zu einer riesigen Werkstatt«

       8

       Lesbos

       »Wo bin ich?«

       Epilog

       Ausgewählte Literatur

       Prolog

      »So weit das Auge reicht.« Diese Redewendung muss hier erfunden worden sein. Kein Hindernis hält meinen Blick auf, kein Haus, keine Hütte und kein Boot, kein Strandkorb, kein Schild und kein Pfahl. Dass trotz dieser Aussicht nur wenige Menschen an den Balg im äußersten Osten von Schiermonnikoog finden, liegt daran, dass er fernab des einzigen Dorfes liegt. Zwar ruckelt dreimal am Tag ein Traktor über den großen Strand der Nordseeinsel hierher, einen kantigen Kasten mit zwei Dutzend Leuten hinter sich her ziehend, aber die bleiben nur eine halbe Stunde, dann bläst der Fahrer zur Rückkehr. Ich bin zu Fuß gekommen, und je weiter ich lief, desto ruhiger wurde mein Atem, obwohl der Seewind mir ordentlich ins Gesicht blies und sich die Salzluft tief in meine Lungen setzte. Bald war außer Wind und Wellenschlag nichts mehr zu hören, es schien, als hätten selbst die Möwen aufgegeben. Ein Sanderling war mein letzter Begleiter.

      Er verließ mich, lange bevor ich über den schwarz-weißen Turnschuh stolperte, der halb vergraben im Sand lag, das Leder von einem rosa schimmernden Algenfilm überzogen.

      Die Soldaten müssen ihn übersehen haben. In Kompaniestärke waren sie angerückt, um den Strand aufzuräumen, der einer Müllhalde glich, nachdem ein Orkantief – vom Finnischen Meerbusen kommend – sich in einem Hoch über Großbritannien verfing. Die Nordsee hatte so gewütet, dass haushohe Wellen hartnäckig gegen den eisernen Koloss geknallt waren und er bald zu schwanken begann. Erst leicht, dann stärker, bis sich die ersten Container über die Reling des Schiffes schoben, das der Reeder drei Jahre und fünf Monate zuvor nach seiner vierjährigen Enkelin Zoe benannt hatte. (Nach der Schiffstaufe im Hamburger Hafen war sie fröhlich mit einem Plüschtier den Kai entlanggerannt.) Als die Container schließlich aufbrachen und ihre Fracht dem Meer übergaben, wurde sie im Rhythmus der Gezeiten an die Strände der friesischen Inseln gespült. Es ist nur ein Turnschuh, denke ich und bin doch irritiert, weil ich an diesem Ort nicht mit zivilisatorischen Spuren gerechnet habe und mehr noch, weil der Schuh mich daran erinnert, dass auch dieser Strand seine Unschuld längst verloren hat.

      Nun hocke ich im nassen Sand, ganz nah am Wasser, dessen milchiges Blau in der Ferne zu Himmel wird, und wünschte, ich könnte dem Weltenlauf Einhalt gebieten, alle Havarien, die der MSC Zoe genauso wie meine eigenen, für einen Moment vergessen. Dazu kommt man doch an den Strand, nicht wahr? Um uit te waaien, wie die Niederländer das nennen, sich