angesagtesten Beachclubs wetteifern, mit exotischen Namen, viel Holz, Metall und weichen Polstern, in deren Ritzen sich der Sand sammelt. Die bunten Drinks, die hier serviert werden, funkeln in der Sonne, es riecht nach Gras, Barbecue und patat, holländischen Pommes. Den kleinen Jungen aber scheint das alles nicht zu interessieren, sein Sandhügel wächst stetig, und ich wüsste zu gern, was er gerade denkt. Ganz sicher stellt er sich keine großen Fragen, die ihn aus seiner Selbstvergessenheit herausholen könnten. Werde ich mich später an diesen Tag am Meer erinnern? Warum sitze ich so sorglos am Strand? Was ist eigentlich ein Strand?
Schon die Antwort auf diese letzte Frage ist einfach und kompliziert zugleich. Einfach, wenn man sie einem Geologen stellt, der nüchtern erläutern wird, dass ein Strand nicht mehr ist als ein flaches Gelände zwischen Festland und Meer (und kurz darauf zu einem detaillierteren Vortrag anhebt, der eigene Bände füllt). Komplizierter wird es, legt man die Frage einem Anthropologen vor, denn wie überall ist auch am Strand der Mensch das Problem. Weil er ihn eben nicht nur körperlich durchwandert oder sich mit Handtuch und Sonnenschirm im Sand postiert, sondern weil er seine psychische und emotionale Verfasstheit mitbringt, seine komplexen und egozentrischen Ideen über die Welt. Mit ihnen wird der Strand, wie der französische Kultursoziologe Jean-Didier Urbain schreibt, zu einem privilegierten Ort, »wo sich die Gesellschaft zur Schau stellt, mit ihren Riten und Symbolen, ihren festlichen Bräuchen und Konventionen, ihren Sehnsüchten und Normen, ihren Regeln und deren Überschreitungen, ihren Strategien der Koexistenz und den Codes des Sich-Niederlassens, ihrer Organisationslogik und schließlich ihres Gefühlsspektrums«.
Ich lasse mich Richtung Süden wehen, zum Fischerdorf, das Scheveningen lange war. In Gedanken schiebe ich das Wort hin und her, Strand, Strand, Strand, Strand. Man muss es nur oft genug aussprechen, dann bekommt es einen seltsam fremden Klang und man beginnt sich zu fragen, was das eigentlich für ein Wort ist, bei dem man schon am Anfang über drei Konsonanten stolpert und das, wenn wir ehrlich sind, nicht zu den schönsten deutschen Wörtern gehört. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass es in fast allen germanischen Sprachen gleich geschrieben, aber überall ein bisschen anders ausgesprochen wird. Denn während wir Deutschen Sch-trand sagen, sprechen es beispielsweise die Niederländer und Schweden so aus, wie es dasteht: s-trand (in Island geht man übrigens an den s-trönd). Und einmal gedanklich im hohen Norden angekommen, liegt man, was die Herkunft des Wortes betrifft, schon vollkommen richtig, denn Matrosen bringen es im 13. Jahrhundert von ihren Reisen nach Skandinavien mit. Hierzulande spricht man seinerzeit eher von Gestade oder Ufer, doch macht der Strand die Runde und taucht kurze Zeit später auch schriftlich auf. In der preußischen Landeschronik des Nikolaus von Jeroschin heißt es Anfang des 14. Jahrhunderts im schönsten Ostmitteldeutsch: »bi einem wazzirvlize na / daz ist genant di Treidera, / uf des meris strande« (an einem Fluss namens Treidera, am Meeresstrand). Die romanischen und slawischen Sprachen leiten ihre Bezeichnungen für den Strand dagegen von plaga ab, dem lateinischen Wort für Raum oder Gegend, das im Französischen zu plage, im Spanischen zu playa, im Italienischen zu spiaggia und im Russischen zu pljasch wird. Und schließlich ist da noch das englische beach, das sich längst in allen Sprachen der Welt eingenistet hat. Beach verweist ursprünglich weniger auf das feste Ufer als auf das nasse Davor, denn es lässt sich auf das altenglische bece zurückführen, das einen Strom bezeichnet und mit dem deutschen Bach oder dem niederländischen beek verwandt ist. Im Englischen gibt es zwar auch das Wort strand, doch nur in Irland wird es für den sandigen Streifen am Meer verwendet. Engländer denken bei Strand vermutlich zuerst an eine Straße in London, die im Mittelalter die City of London mit der City of Westminster verbindet und am Ufer der noch nicht in Kaimauern gezwängten Themse liegt. Und auch dieser Strand hat sich in die Literaturgeschichte eingeschrieben, weil hier im 19. Jahrhundert Dutzende Buchhändler und Verlage zu finden sind, die die literarische Prominenz anziehen. Unter ihnen George Eliot, die hier wohnt, und Virginia Woolf, die hier flaniert. Und als Benjamin Bass, ein litauischer Immigrant, 1927 im New Yorker East Village eine Buchhandlung eröffnet, nennt er sie nach eben jener legendären Straße in London: Strand Bookstore. Ein Laden, der mit den längsten Bücherregalen der Stadt mittlerweile selbst zur Legende geworden ist.
Auf der anderen Seite des Atlantik, knapp sechstausend Kilometer nordöstlich von New York, werden, je südlicher ich komme, die Häuser am Boulevard von Scheveningen nach und nach kleiner, kantige Betonbauten werden von Seevillen der Gründerzeit abgelöst und irgendwann taucht das alte Scheveningen auf. Unterwegs erinnern auf der Promenade, die hier schlicht Strandweg heißt, alle paar hundert Meter große Tafeln mit historischen Bildern daran, wie sich das Fischerdorf zum Seebad ausgewachsen hat. Feest aan Zee. 200 jaar badplaats Scheveningen Den Haag heißt es da, doch die Tafeln sind nicht mehr ganz neu. Gezählt werden die Jahre nach 1818, als hier das erste Badehaus eröffnet wurde, genau an der Stelle, wo heute das Kurhaus steht, ein rot-weißer Palast, letzter Zeuge einer mondänen Vergangenheit. Man feiert die Geschichte des Seebades, doch die Geschichte des Strandes, will sagen die, in der der Mensch sich in der Landschaft zeigt, ist wie überall viel älter. Da sind zuerst die Fischer aus dem Dorf, für die der sandige Streifen am Meer ihr täglicher Arbeitsplatz ist. Wie ihre Vorväter auch holen sie aus der Nordsee, was sich verspeisen lässt, und weil es keinen Hafen gibt, sind es hier zumeist boomschuiten, für diese Gegend typische Segelschiffe mit besonders flachem Boden, die die Fischer, wenn sie vom Meer zurückgekehrt sind, an den Strand ziehen, um gleich vor Ort ihren Fang zu verkaufen. Doch es kommen auch Abenteurer an diesen Strand, die ihn weniger der Nähe zum Meer als der weiten leeren Fläche und des Windes wegen schätzen. So erlebt Scheveningen bereits über zweihundert Jahre vor Errichtung des ersten Badehauses eine Art Vorspiel auf dem Strande und wird zur Kulisse eines Aufsehen erregenden Spektakels, das den anwesenden Zuschauern eine Ahnung von der Zukunft gibt.
Auf einem Segelwagen lassen sich im Jahr 1602 drei Dutzend Männer mit der für das beginnende 17. Jahrhundert höllisch anmutenden Geschwindigkeit von vierzig Stundenkilometern über den Strand blasen, um zwei Stunden später Petten zu erreichen, ein Dorf rund neunzig Kilometer nördlich von Scheveningen. Gebaut hat diesen Segelwagen der Flame Simon Stevin, Naturwissenschaftler, Ingenieur und Erfinder in einer Person. Dass er sein avantgardistisches Fahrzeug gerade in Scheveningen ausprobieren darf, verdankt er seinem Freund, dem Statthalter Fürst Moritz von Oranien, in den Niederlanden besser bekannt als Maurits van Oranje. Dessen Vertrauen in Simon Stevin ist groß genug, um bei der Jungfernfahrt den Segelwagen selbst zu besteigen, begleitet von einigen unerschrockenen europäischen Diplomaten und dem Philosophen und Völkerrechtler Hugo Grotius. Der ist zu diesem Zeitpunkt zwar erst neunzehn Jahre alt, hat sich aber schon einen Ruf als Wunderkind erworben, das mit elf an der Universität von Leiden studiert und nur wenig später elegante lateinische Verse dichtet. Man stelle sich also vor, wie ein bis dahin nie gesehenes Gefährt voller nobler Herren an Netze knüpfenden Fischern und ihren Kunden am holländischen Strand entlangrast. Es werden wohl einige Kreuze geschlagen und Stoßgebete ausgerufen worden sein. God zij met ons! Doch wider Erwarten kommen die Segler tatsächlich heil in Petten an. Der Segeltörn zu Lande wird zum Triumph, die Nachricht davon verbreitet sich weit über die Landesgrenzen hinaus und hält sich, vielleicht auch, weil es einmal eine gute Nachricht ist, lange im kollektiven Gedächtnis. Noch 1760 lässt Laurence Sterne in seinem Tristram Shandy Onkel Toby die Sprache auf Simon Stevin bringen und darüber diskutieren, ob es nicht praktisch wäre, auch in England solche Wagen zu bauen, »denn es würde nicht nur bei Eilvisiten, wie sie beim weiblichen Geschlecht nun eben in der Regel einmal anfallen, ungemein förderlich sein, – vorausgesetzt, der Wind zeigte sich gefällig, – sondern es wäre auch von famoser Wirtschaftlichkeit, lieber die Winde einzuspannen, welche nichts kosten und nichts fressen, als Pferde, welche (hol sie der Teufel) ein Erkleckliches kosten und fressen.« Weit kommt Onkel Toby mit seinem Vorschlag jedoch nicht, Tristrams Vater widerspricht seinem Bruder vehement, schließlich würden doch gerade die »Konsumption« und die »Manufaktur« den Handel ankurbeln. Der Plan, Pferde durch Segelwagen abzulösen, so das abschließende Urteil, tauge rein gar nichts. In Holland dagegen ist man stolz auf die Erfindung. Willem Isaacsz. van Swanenburg hält sie in einem prächtigen Kupferstich fest, den er mit einem langen Gedicht des jungen Hugo Grotius umrahmt: aen den doorluchtichste Vorst Maurits van Nassauwen (an den durchlauchtigsten Fürst Moritz von Nassau). Und Hugo Grotius belässt es nicht bei einem Gedicht, sondern greift das Thema immer wieder auf, in unzähligen Reimen, deren Quintessenz