Bettina Baltschev

Am Rande der Glückseligkeit


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de winden voortgedragen

      langs de golven, op den grond,

      Geef my enkel zulk een wagen,

      En ik vaer den aerdbol rond.

      Die imposante Ausfahrt des Stevin’schen Segelwagens ist so erfolgreich, dass er in den folgenden zwei Jahrhunderten immer wieder eingesetzt wird. Beim Betrachten des Bildes auf den Archivseiten des Amsterdamer Rijksmuseums frage ich mich, wie weit die Fantasie des Simon Stevin wohl gereicht haben mag. Ob er sich seinerzeit vorstellen kann, wie vierhundert Jahre nach seinem Abenteuer tausende Strandsegler über den holländischen Sand jagen, mit Geschwindigkeiten, bei denen selbst dem furchtlosen Ingenieur schwindlig werden würde?

      Stevins jüngster Passagier lässt sich derweil nicht nur von technischen Wundern inspirieren, sondern auch von den Wundern der Natur. So erwähnt Hugo Grotius in einem seiner Segelwagen-Gedichte einen walvis, einen Wal, der eines Tages am Strand von Katwijk angespült wird und »so groß wie der ganze Strand« gewesen sein soll. Bereits zuvor, im Jahr 1598, hatte Grotius die Strandung eines Pottwals erlebt und dabei bemerkt, dass dies dem gewöhnlichen Volk wohl ein Zeichen für Unheil sein müsse. Inwieweit das seine eigene Interpretation ist, mit der er sich von seinen Zeitgenossen nur abzusetzen sucht, sei dahingestellt, doch natürlich verfehlt der Anblick solch eines riesigen Tieres seine Wirkung nicht. Auf einem Kupferstich von Jacob Matham scheint allerdings die Neugier der Menschen weit größer zu sein als die Ehrfurcht. Männer mit Hut und Maßband besteigen den Wal, einer untersucht die riesigen Zähne, rundherum drängeln sich Zuschauer, darunter viele Frauen und Kinder, es herrscht eine wahre Volksfeststimmung. Schließlich kann ein Wal dem Gläubigen nur gefährlich werden, wenn er lebendig und in der Lage ist, den Menschen zu verschlingen, gerade so wie Jonas, der seine Untreue gegenüber Gott mit drei angstvollen Tagen im Bauch eines »großen Fisches« bezahlen muss.

      Was Hugo Grotius betrifft, so ist es eine traurige Volte des Schicksals, dass ausgerechnet der Mann, der sich auf Simon Stevins Segelwagen wagt, Wale bedichtet und sich in seinen weit bedeutenderen Schriften zum Völkerrecht unter anderem Gedanken darüber macht, wem nach einem Schiffbruch an den Strand gespülte Fracht gehört, an den Folgen just solch eines Unglücks stirbt. Auf dem Weg von Schweden nach Frankreich gerät sein Schiff im August 1645 auf der Ostsee in einen schweren Sturm und strandet vor der Küste Pommerns. Obwohl Besatzung und Passagiere gerettet werden können, fährt der Schock dem bereits von Krankheit gezeichneten Grotius so sehr in die Glieder, dass er zwar seine Reise fortsetzt, aber am 28. August 1645 in Rostock an Herzversagen stirbt. So bleibt ihm auch die Gelegenheit verwehrt, den von ihm befahrenen und bewanderten Strand auf den Leinwänden seiner Landsleute zu betrachten.

      Denn nur wenige Jahre nach Grotius’ Tod entdecken die holländischen Maler des Goldenen Zeitalters den Strand als lohnendes Motiv. Sie stellen ihre Staffeleien schon zwischen den Dünen auf, als diese Landschaft jenseits der Fischerei kaum von menschlichem, geschweige denn von künstlerischem Interesse ist. So idyllisch uns heute die Gemälde von Jan van Goyen, Adriaen van de Velde oder Jacob van Ruisdael erscheinen, so revolutionär müssen sie ihren zeitgenössischen Betrachtern vorgekommen sein. Waren denen doch bisher vor allem Seestücke präsentiert worden, stürmische Wogen, Schiffbrüche, das Pathos der Elemente. Nun also große ruhige Landschaften, Flüsse und Bäume, Sand und sanfte Meereswellen, reinste Kontemplation.

      Jan van Goyen malt den Strand von Scheveningen gleich mehrfach, von Den Haag aus, wo er lebt, hat er den kürzesten Weg. Seine Strandansichten sind auffallend lebendig, es wimmelt von Fischern und Händlern, Pferden und Hunden, Wagen und Booten. Ob es Morgen oder Abend ist, lässt sich am Licht erkennen, das die Landschaft mal grau, mal golden färbt. Adriaen van de Velde kommt 1658 aus Amsterdam nach Scheveningen und hält eine sommerliche Strandlandschaft unter lichten Wolkenfeldern fest, Frauen und Kinder stehen barfuß bei Fischern, boomschuiten liegen im Sand, ein Reiter galoppiert von links ins Bild, rechts steht ein einzelner Herr und blickt übers Meer. Es ist eine behagliche Szenerie, die sich aber erst wirklich erschließt, denkt man die politischen Zeitläufte mit. Hatte doch nur zehn Jahre vor der Entstehung dieses Gemäldes der Westfälische Frieden auch den Achtzigjährigen Krieg und mit ihm die spanische Fremdherrschaft der Niederlande beendet. Nach Jahrzehnten kriegerischer Auseinandersetzungen und ständiger Gefahr eines Angriffs über See kann die Republiek der Zeven Verenigde Nederlanden, die Republik der Sieben Vereinigten Provinzen, aufatmen und sich auf ihre nationalen Eigenheiten besinnen. Die flache holländische Strandlandschaft, der weite Blick übers Land und übers Meer gehören unbedingt dazu und weisen im übertragenen Sinne auf das Selbstbild einer toleranten Gesellschaft, in denen alle Stände gleich viel wert sind. »Strand, Himmel, Sonne und prächtige Wolkenbilder rücken in den Fokus der Malerei. Das Strandbild übernimmt die Aufgabe, das niederländische Ideal einer miteinander in Freiheit, Gleichheit und Harmonie lebenden Gesellschaft darzustellen und zugleich die Schönheit des Landes zu feiern«, schreibt die Kunsthistorikerin Susan Müller-Wusterwitz. Die holländischen Landschaftsmaler des 17. Jahrhunderts widmen sich so detailliert dem weiten Himmel und seinen Wolkenformationen, dass Potsdamer Geoforscher vierhundert Jahre später meinen, darin die Wetterkapriolen der Kleinen Eiszeit erkennen zu können. Vor allem Jacob van Ruisdael gilt ihnen als Virtuose der wirklichkeitsgetreuen Darstellung meteorologischer Erscheinungen. In der Tat ist das graublaue Wolkengebirge auf van Ruisdaels Gemälde Strand bij Scheveningen besonders imposant. Vielleicht ist es ein Herbsttag, die See ist bewegt, die Menschen am Strand tragen warme Kleider. Sie stehen beieinander, schauen aufs Meer, wo ein Segelboot schaukelt. Eine ruhige schöne Szene, die abseits politischer und meteorologischer Deutungen auch eine voller Gottvertrauen ist, das seinerzeit auf diesem immer noch recht unberechenbaren Sandstreifen durchaus nicht selbstverständlich ist, verläuft hier eben nicht nur eine geografische und geologische Grenze, sondern auch eine theologische, denn ein Leben ohne Gott ist im Goldenen Zeitalter nicht vorgesehen.

      Doch auch wenn die Menschen in Nord-und Südholland sich früh an ihre flachen, breiten, leicht zugänglichen Strände wagen, überwiegen andernorts Furcht und Respekt vor dem Niemandsland, in dem eigene Gesetze herrschen, zum Beispiel am friesischen Wattenmeer. »Noch um 1600 wurden die Leichen von Zauberkundigen, Ketzern oder ehrlosen Soldaten in Wasserläufe geworfen, im Watt oder in Deichen begraben, vermutlich ebenfalls um die Rückkehr ihrer verirrten Seelen unter die Lebenden zu verhindern. Böse Geister, die in die Gemeinschaft der Lebenden eingedrungen waren, wurden verbannt, indem man sie auf das Deichvorland oder an den Meeresrand trieb«, schreibt der niederländische Historiker Otto S. Knottnerus. Dabei unterscheiden die Küstenbewohner kaum zwischen natürlichen und übernatürlichen Gefahren, ist die Angst vor Krankheiten, Stürmen und Überschwemmungen doch genauso groß wie die vor Meeresungeheuern und göttlicher Bestrafung. Zudem ist die schon erwähnte Geschichte von Jonas im Bauch des »großen Fisches« jedem Christenmenschen so gegenwärtig wie die der Sintflut, mit dem entscheidenden Unterschied, dass die tatsächlich jeden Menschen treffen kann: »Denn siehe, ich will eine Sintflut mit Wasser kommen lassen auf Erden, zu verderben alles Fleisch, darin ein lebendiger Odem ist, unter dem Himmel. Alles, was auf Erden ist, soll untergehen.« Wie leicht sich auf diese zwei Sätzen ein Angstgebäude errichten lässt, das über Jahrhunderte auf stabilem Fundament steht, beweisen Luthers Tischreden, in denen von einem »Meerwunder« berichtet wird, das einst zum Papst gebracht wurde. Als das Wesen weder essen noch trinken wollte, ließ der Papst es zurück ins Wasser werfen. Auf den Jubel des Papstes, wie »wunderbarlich« Gott »unter den Kreaturen auf Erden« sei, antwortet das Wesen: »Viel wunderbarlicher in dem Wasser!« Der Kommentar Martin Luthers lässt keine Zweifel zu: »Das ist der Teufel gewesen, denn er wohnet in den Wassern und großen Wäldern. Der Meerwunder hat man mehr gesehen, und es sind gewißlich Teufel.« Gehen wir ruhig davon aus, dass Luther zeitlebens keinen Fuß an irgendeinen Meeresstrand gesetzt hat. Was allerdings auch niemand von ihm erwartet, da er dreihundert Kilometer von der Küste entfernt zur Welt gekommen ist und damit keinen Grund hat, sich freiwillig teuflischen Gefahren auszusetzen. Die armen Menschen, die es qua Geburt an die Nordsee verschlagen hat, bekommen dagegen oft genug eine Ahnung, wie sich eine teuflische, pardon, eine göttliche Sintflut anfühlt. Vergeht doch im 17. und 18. Jahrhundert fast kein Jahrzehnt, in dem der »Blanke Hans« sich nicht wie ein Derwisch austobt. Allein die sogenannte Weihnachtsflut in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember 1717 lässt die Deiche entlang der gesamten Nordseeküste brechen, von Dänemark bis in die nördlichen