Gabor Mate

Im Reich der hungrigen Geister


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ich diese Einleitung schreibe, gibt es das große Problem der Überdosierung von Opioiden. Alle drei Wochen sterben in den Vereinigten Staaten so viele Menschen an einer Überdosis wie bei den Anschlägen vom 11. September 2001 im World Trade Center. In Großbritannien, das in Europa den höchsten Prozentsatz an Heroinabhängigen verzeichnet, erreichten die drogenbedingten Todesfälle im vergangenen Jahr einen Rekordstand: In England und Wales starben über 3.700 Menschen, hauptsächlich an Heroin und verwandten Opioiden. In Deutschland kamen 1.300 Menschen durch Überdosierungen ums Leben. In Kanada sind die Zahlen ähnlich erschreckend. Laut dem Bericht der kanadischen Gesundheitsbehörde vom März 2018 gab es im Jahr 2017 mehr als 4.000 opioidbedingte Todesfälle, was einem Anstieg von fast 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht und „jeden Teil des Landes betrifft … mit verheerenden Auswirkungen auf Familien und Gemeinden“. In meiner Heimatregion British Columbia starben laut der Gesundheitsbeauftragten der Provinz, Dr. Bonnie Henry, im vergangenen Januar in nur einem Monat 125 Menschen an einer Überdosis. „Früher dachte man“, so erzählte mir Dr. Henry, „dass Überdosierungen den Menschen dort einfach so passieren“, womit sie die heruntergekommenen Viertel wie Vancouvers drogenberüchtigtes Downtown Eastside meinte, wo dieses Buch beginnt und endet und wo ein Großteil seiner Begebenheiten stattfinden. Dr. Henry berichtete, dass British Columbia 2016 einen öffentlichen Notstand ausrief, teilweise um die Diskussion von einem lokal begrenzten Notstand auf das umfassendere soziale Problem zu lenken, das es tatsächlich ist. „Das sind nicht irgendwelche Menschen. Es sind unsere Menschen, unsere Brüder und Schwestern, unsere Familien. Todesfälle durch eine Überdosis kommen in allen Stadtteilen vor, von den reichsten bis zu den ärmsten.“

      Bei aller echten Betroffenheit und Trauer wegen dieses massenhaften Sterbens trösten wir uns leicht darüber hinweg, indem wir uns weismachen, dass diese Todesfälle nur auf individuelle Vorlieben oder Gewohnheiten zurückzuführen sind. Auf sozialer und politischer Ebene stellen sie menschliche Opfer dar. Die Menschen fallen dem anhaltenden Widerwillen unserer Gesellschaft zum Opfer, sich mit den Realitäten und den Ursachen der Sucht, insbesondere des Drogenkonsums, auseinanderzusetzen. Im Laufe der Jahrzehnte haben wir uns trotz aller Anhaltspunkte geweigert, eine Politik zu fordern oder anzunehmen, die die verheerenden Folgen der Sucht verhindern oder ihnen angemessen begegnen würde. Dies hat auch David Walker, Vorsitzender der Gesundheitsbehörde Public Health Ontario, in einem Brief an The Globe and Mail (17. März 2018) scharf und treffend bemerkt: „2003 wurde Kanada von einer neuen und beängstigenden Epidemie heimgesucht, vor allem in Toronto: Vierundvierzig Menschen starben an SARS. Die Regierungen der Provinzen und die Bundesregierung reagierten mit vollem Einsatz. Fünfzehn Jahre später befällt die Opioid-Sucht, eine weitere neue und beängstigende Epidemie, Kanada. Man fragt sich, warum unsere kollektive Reaktion relativ verhalten ausfällt. Liegt es daran, dass wir diejenigen, die sterben, weniger schätzen? Ist das die ‚fürsorgliche‘ Gesellschaft, zu der wir uns entwickelt haben?“

      Wie bei vielen anderen menschlichen Problemen gibt es sogenannte unmittelbare Ursachen für diese eskalierende Epidemie – Ursachen, die unmittelbar zu den tragischen Ergebnissen beitragen. Jeder, der die aktuellen Nachrichten liest oder schaut, ist sich bewusst, dass die jüngste breite Verfügbarkeit der billigen und wirksamen Opioide Fentanyl und Carfentanyl unter den unmittelbaren Ursachen eine herausragende Rolle spielt. (Diese Drogen haben im Vergleich zu ihren pflanzlichen Verwandten Heroin und Morphium eine viel geringere Sicherheitsmarge, das heißt der Unterschied zwischen einer Dosis, die einen „high“ macht oder bei Entzugserscheinungen hilft, und einer Dosis, die tödlich wirkt, ist viel geringer. Daher ihre Letalität.)

      Die Gefahr dieser potenziell selbstmörderischen Gewohnheiten ist nur die Spitze eines riesigen Eisbergs. In unserer Gesellschaft, in der die Menschen immer verzweifelter versuchen, der Isolation und dem Verdruss im Alltag zu entkommen, gibt es alle möglichen Süchte, und es werden immer mehr. „Die Internetabhängigkeit scheint eine weitverbreitete Störung zu sein, die es verdient, in das DSM-V [The Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Auflage] aufgenommen zu werden“, so las man im Editorial des American Journal of Psychiatry in dem Jahr, als dieses Buch erschien – und sie wurde seitdem allgemein viel umfassender als Erkrankung anerkannt.

      Kürzlich wurde in einem Artikel in Psychology Today die „Computerspielsucht“ diskutiert. Smartphones sind ein weiterer wesentlicher neuer Suchtfaktor. Die New Yorker Psychotherapeutin Nancy Colier berichtete, dass „die meisten Menschen ihre Smartphones jetzt 150 Mal pro Tag oder alle sechs Minuten checken. Und junge Erwachsene verschicken inzwischen durchschnittlich 110 SMS pro Tag. Sechsundvierzig Prozent der Smartphone-Nutzer sagen mittlerweile, dass sie ohne ihre Geräte ‚nicht leben‘ könnten“: ein klassisches Zeichen für Suchtabhängigkeit.

      Wir sollten uns davor hüten, Ursache und Wirkung zu verwechseln – nämlich die Erscheinungsform mit dem zugrunde liegenden Prozess. Hier hat man es nicht mit neuen Störungen zu tun, sondern nur mit neuen Zielen für das universelle und uralte Suchtverhalten; es sind neue Formen der Flucht. Die Prozesse des Geistes und des Gehirns sind bei allen Süchten, egal in welcher Form, gleich, ebenso wie die psychische Leere, die ihren Kern ausmacht.

      „Die Daten offenbaren eine Gesellschaft, die von Verzweiflung gepackt ist, mit einem Anstieg ungesunder Verhaltensweisen und einer Epidemie von Drogen“, schrieb der Nobelpreisträger Paul Krugman in der New York Times. Wie sollen wir den Erscheinungsformen der Verzweiflung begegnen, ohne die Verzweiflung selbst zu verstehen?

      Die Umstände, die die Verzweiflung – und damit möglicherweise auch die Sucht – fördern, sind mit jedem Jahrzehnt stärker in der industrialisierten Welt verwurzelt, vom Osten bis zum Westen: mehr Isolation und Einsamkeit, weniger Gemeinschaftskontakte, mehr Stress, mehr wirtschaftliche Unsicherheit, mehr Ungleichheit, mehr Angst und letztlich mehr Druck auf und weniger Unterstützung für junge Eltern. Angesichts der Pseudo-Verbundenheit unseres technologischen Zeitalters gibt es immer mehr Abkoppelung. Das Magazin Adbusters bemerkte hierzu in einer kürzlich erschienenen Ausgabe ironisch: „Sie haben 2.672 Freunde und durchschnittlich dreißig Likes pro Beitrag und niemanden, mit dem sie an einem Samstagabend zusammen essen gehen können.“

      Es ist frappierend, dass hier in Downtown Eastside, wo Konsumenten in einigen Einrichtungen Drogen prüfen können, bevor sie sie injizieren, sich immer noch viele für Substanzen entscheiden, von denen sie wissen, dass sie potenziell tödliche Bestandteile enthalten. Um zu verstehen, warum das so ist, müssen wir nach den eigentlichen Ursachen suchen, die die Menschen überhaupt erst zum Drogenkonsum – und zu Abhängigkeiten jeglicher Art – treiben.

      „Wir müssen darüber reden, was Menschen dazu veranlasst, Drogen zu nehmen“, sagte der berühmte Traumaforscher Dr. Bessel van der Kolk. „Menschen, die sich gut fühlen, tun nichts, was ihrem Körper schadet. Traumatisierte Menschen fühlen sich aufgewühlt, unruhig, haben eine Enge in der Brust. Sie hassen es, wie sie sich fühlen. Sie nehmen Drogen, um ihren Körper zu stabilisieren.“ Es ist die Verzweiflung – das Bedürfnis, Körper und Geist zu regulieren und der unerträglichen Bedrängnis oder Unruhe zu entkommen. Wie dieses Buch aufzeigt, führt diese Verzweiflung zu jedweder Form von Abhängigkeit, ob substanzgebunden oder nicht.

      „Ich werde Sie nicht fragen, wovon Sie abhängig waren“, sage ich oft zu den Menschen. „Weder wann, noch für wie lange. Ich frage nur, was auch immer Ihr suchterzeugender Anlass war. Was hat die Droge Ihnen geboten? Was hat Ihnen daran gefallen? Was hat es Ihnen kurzfristig gegeben, wonach Sie sich so sehr sehnten oder was Sie so sehr mochten?“ Und die Antworten lauten durchgängig: „Es half mir, emotionalen Schmerzen zu entkommen, half mir, mit Stress umzugehen, gab mir Seelenfrieden, ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen, ein Gefühl der Kontrolle.“

      Solche Antworten machen deutlich, dass Sucht weder eine bewusste Wahl, noch in erster Linie eine Krankheit ist. Sie hat ihren Ursprung in dem verzweifelten Versuch eines Menschen, ein Problem zu lösen: das Problem des emotionalen Schmerzes, des überwältigenden Stresses, der verlorenen Beziehungen, des Kontrollverlustes, des tiefen Unbehagens mit sich selbst. Kurz gesagt, es ist der vergebliche Versuch, das Problem des menschlichen Schmerzes zu lösen. Alle Drogen – und alle Suchtverhaltensweisen, ob substanzgebunden oder nicht, ob Glücksspiel-, Sex-, Internet- oder Kokainsucht – lindern den Schmerz entweder direkt oder lenken