auch die körperliche Gesundheit. Nur mit einem breiteren Verständnis von Sucht und der Anerkennung ihrer Ursachen, die nicht in den Genen zu suchen sind oder eine Frage des freien Willens sind, sondern im menschlichen Leid liegen, entstehen Behandlungsansätze, die wirklich heilen könnten.
„Wir haben ein sehr fragmentiertes System der psychischen Gesundheit“, stellt Dr. Henry fest – eine Ansicht, die ich leider als nur allzu wahr teile. „[Wenn] die psychische Gesundheit die arme Schwester des Gesundheitssystems ist, dann ist Sucht wahrscheinlich die Cousine zweiten Grades, die in den Slums lebt.“
Voraussetzung für die Behandlung ist ein vielschichtiger Ansatz, der die Menschen so akzeptiert, wie sie sind. Für diejenigen, die nicht zur Abstinenz bereit sind, kann das Konzept der Schadensminderung ein Weg sein, für andere vielleicht ein Zwölf-Schritte-Programm, aber ohne gesetzliche oder moralische Nötigung der Teilnehmer. Wie Michael Pond in seinem ausgezeichneten Buch Wasted: An Alcohol Therapist’s Fight for Recovery in a Flawed Treatment System hervorhebt: „Verachtung gegenüber Drogenkonsumenten durchdringt unsere Kultur.“ Pond erlebte diese Verachtung selbst bei den Anonymen Alkoholikern (AA) und glaubt, dass dies ein Grund dafür sei, warum das Zwölf-Schritte-Programm bei ihm nie funktioniert hat – trotz der Kameradschaft, der selbstlosen Unterstützung und der Herzlichkeit, die ihm Einzelne in der Organisation entgegenbrachten. Das Konzept der AA war nie als Behandlungsmethode gedacht, sondern als eine Lebensweise für Menschen, die Befreiung aus der Abhängigkeit suchen. Niemand sollte dazu oder zu einer anderen Art der Genesung gezwungen werden.
Wenn Zwölf-Schritte-Programme nicht für jeden hilfreich sind – bei all ihrem Wert helfen sie nur einer Minderheit – was dann? Es gibt keine „Allheilmittel“ für die Herausforderung der Sucht. Für viele Opiatabhängige sind Ersatzbehandlungen mit Drogen wie Suboxon lebensrettend. (In British Columbia wurde den Ärzten ein großer Spielraum für die Verschreibung von Suboxon eingeräumt, das nur ein sehr geringes Risiko birgt.) Für einige Abhängige können Medikamente von Nutzen sein, verschiedene Formen der Beratung für andere, aber kein einzelner Ansatz garantiert den Erfolg. Jeder Abhängige muss genau dort „abgeholt“ und betreut werden, wo er sich in dem Moment befindet.
Die meisten Ärzte werden, wenn überhaupt, nur in geringem Maß zum Thema Sucht ausgebildet, obwohl die Sucht folgenschwere Auswirkungen auf die körperliche und geistige Gesundheit, die Langlebigkeit, die Produktivität und das Familienleben hat. Die wenigen Ausgebildeten haben in Bezug auf die biologischen Zusammenhänge nur begrenzte Kenntnisse erworben. Würde man mich bitten, ein umfassendes System zur Behandlung der heutigen Substanzabhängigkeit zu entwerfen, und zwar auch für die verheerenderen „verhaltensbezogenen Süchte“ wie etwa Glücksspiel oder zwanghafte Sexualität, so würde es folgende Merkmale aufweisen:
• Ärzte, Therapeuten, Psychologen, Pädagogen, Rechtsanwälte, Richter und alle Strafverfolgungsbeamten werden in Denkansätzen geschult, die Informationen über Traumata berücksichtigen.
• Naloxon und andere Maßnahmen der Schadensminderung werden weithin verfügbar sein. Einrichtungen zur Schadensminderung werden in allen größeren Gemeinden eingerichtet. Die Substitutionsbehandlung mit Opiaten wird jedem, der sich dafür qualifiziert, ohne Weiteres angeboten.
• Entgiftungseinrichtungen mit niedrigschwelligem und schnellem Zugang werden in vielen Gemeinden eröffnet.
• Abgestufte Einrichtungen werden etabliert, in denen die Patienten von der Entgiftung zur Traumaheilung übergehen können sowie Beratung und Unterstützung beim Umgang mit persönlichen und sozialen Beziehungen erhalten.
• Die Betroffenen werden in Selbstfürsorge unterrichtet, einschließlich gesunder Ernährung und Körperarbeit wie Yoga oder Kampfsportarten, zusammen mit Achtsamkeitsübungen wie Meditation.
• Die falsche Trennung zwischen Fragen der psychischen Gesundheit und denen der Sucht – die in vielen Einrichtungen und Behandlungszentren praktiziert wird – muss beendet werden. Sie sind untrennbar miteinander verbunden: Oft fungieren Letztere als Selbstmedikation für Erstere. Beide haben ihren Ursprung in einem Trauma und müssen gleichzeitig und gemeinsam angegangen werden.
• Da das süchtige Gehirn von Kindheit an geschädigt wurde und vor allem Drogen das Gehirn weiter schädigen, muss die Rehabilitation als ein langfristiges Unterfangen betrachtet werden, das eine geduldige und mitfühlende Umsetzung erfordert.
• Statt den einzelnen Süchtigen als das Problem zu sehen, werden die Großfamilien ermutigt, die Sucht als Frage eines generationsübergreifenden Traumas zu erkennen und daher als Gelegenheit, viele zu heilen, nicht nur den einen.
• Aus Sicht der Prävention werden gefährdete junge Familien erkannt sowie emotional und, wenn nötig, auch finanziell unterstützt. Wie ich in Appendix III dieses Buches darlege, muss die Prävention bereits bei der ersten Vorsorgeuntersuchung in der Schwangerschaft beginnen. Lehrer und Schulpersonal werden darin geschult, die Anzeichen von frühen Traumata bei Kindern zu erkennen, und von den Schulen werden gefährdeten Kindern und Jugendlichen Hilfsmaßnahmen und -programme angeboten. Alle Mitarbeiter, die mit Kleinkindern zu tun haben, werden darin geschult, die menschliche Entwicklung und psychologischen Grundbedürfnisse zu verstehen.
• Es werden Sozialprogramme eingerichtet, die dem Bedürfnis junger Menschen nach Beziehungen, Anleitung durch Erwachsene und sinnvollen Aktivitäten entsprechen.
Wir könnten viel gewinnen, wenn wir die Widerstandsfähigkeit und die uralten Lehren derer respektieren würden, die am meisten unter Traumata, Entwurzelung und Sucht gelitten haben: der Ureinwohner unter uns. Ihre Werte betonen stets den Gemeinschaftssinn und nicht den rücksichtslosen Individualismus, die Wiedereingliederung des Übeltäters in die Gemeinschaft und nicht die Vergeltung, die Integration und nicht die Trennung und, was am wichtigsten ist, eine Sichtweise des Menschen, die unsere körperlichen mit unseren geistigen, emotionalen und spirituellen Bedürfnissen in Einklang bringt. Je mehr ich die neuesten wissenschaftlichen Forschungen über die menschliche Entwicklung, das Gehirn, die Gesundheit und die Verbindungen zwischen dem Individuum und dem sozialen Milieu verinnerliche, desto größer ist meine Achtung vor den traditionellen Praktiken derer, die wir kolonisiert und deren Kultur wir nach Kräften versucht haben zu zerstören. Bei ihnen gab es vor der Kolonialisierung keine Abhängigkeiten.
Seit der ersten Veröffentlichung dieses Buches vor zehn Jahren habe ich auch über die Heilung von Süchten durch traditionelle Pflanzen der Schamanen und Praktiken aus Südamerika und Afrika wie Ayahuasca und Iboga dazugelernt. Meine Arbeit mit diesen Pflanzen war Gegenstand eines landesweit ausgestrahlten Dokumentarfilmprogramms der CBC über Die Natur der Dinge. In letzter Zeit ist viel über solche Praktiken geschrieben worden, und ich werde in meinem nächsten Buch The Myth of Normal: Being Healthy in an Insane Culture, das gerade in Arbeit ist, mehr zu diesem Thema sagen. Diese Pflanzen sind kein Allheilmittel, aber wir wären töricht, sie zu ignorieren. In einem kurzen Beitrag für The Globe and Mail habe ich es folgendermaßen formuliert: „Viele Weisheitslehren der Ureinwohner beruhen auf einem ganzheitlichen Verständnis. Wie alle auf Pflanzen basierenden indigenen Praktiken auf der ganzen Welt entspringt der Gebrauch von Ayahuasca einer Tradition, in der Geist und Körper als untrennbar angesehen werden. Ich habe miterlebt, wie Menschen ihre Sucht nach Substanzen, Sex und anderen selbstschädigenden Verhaltensweisen … überwunden haben. Im entsprechenden zeremoniellen Rahmen kann Ayahuasca in wenigen Sitzungen erreichen, was in vielen Jahren der Psychotherapie nur angestrebt werden kann.“
Wie ich eingangs erwähnt habe, sind meine Begegnungen mit trauernden Eltern – und es gab viele – für mich persönlich immer am bewegendsten. Da Süchte, sei es nach Substanzen oder Handlungen wie Glücksspiel, Sex, Essen – eigentlich egal wonach – in Schmerzen wurzeln, die in so vielen Fällen durch Leiden in der Kindheit hervorgerufen wurden, erwartet man vielleicht nicht, dass viele Eltern, die erwachsene Kinder durch Sucht verloren haben, Bestätigung für die Inhalte meines Buches geäußert und Verständnis gezeigt haben, statt verletzt oder wütend zu sein oder sich selbst für schuldig zu halten. „Die hungrigen Geister“ soll niemanden beschuldigen, sondern sich mit der gequälten Menschheit verbünden, um zu zeigen, dass Sucht eine der häufigsten und menschlichsten Ausdrucksformen von Leid ist. Es geht nicht darum, Vorwürfe zu