Uwe Klausner

Odessa-Komplott


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wäre ihm da schon wesentlich lieber gewesen. Aber immerhin hatte er ein Dach über dem Kopf, in Berlin beileibe keine Selbstverständlichkeit.

      »So, da wären wir wieder«, meldete sich Sydows Tante mit einem Tablett voller Köstlichkeiten zurück. Sydow bekam den Mund nicht mehr zu. Pro Tag und Person konnte es der Durchschnittsberliner mithilfe der Lebensmittelmarken auf gerade einmal 1500 Kalorien bringen. Und jetzt tischte ihm Tante Lu Corned Beef, Leberkäse und Rühreier auf. Wenn das mit rechten Dingen zuging, wollte er Winston Churchill heißen.

      Oder so ähnlich.

      »Von meinem Bridgepartner, Herrn von und zu Grumbkow«, fügte Sydows Tante erklärend hinzu, als sie die entgeisterte Miene ihres Schützlings bemerkte. »Trifft sich gut, einen Untermieter mit Verbindungen zur britischen Militärverwaltung zu haben, oder?«

      Und ob sich das gut traf. Der mysteriöse Herr von und zu, Überlebender der Wilhelm Gustloff und der Fuchtel von Tante Lu, hatte für sie bereits mehrfach CARE-Pakete organisiert. Diese und andere Wohltaten hatten die Ex-Rittergutsbesitzerin über die beiden Flüchtlingsfamilien, die im Obergeschoss einquartiert worden waren, rasch hinweggetröstet. »Na klar, Tante Lu«, antwortete Sydow mit reichlicher Verspätung, nachdem sich seine Verblüffung einigermaßen gelegt hatte. »Heutzutage darf man ja wohl nicht wählerisch sein.«

      »Schön, dass wir diesbezüglich einer Meinung sind«, stellte Sydows Tante befriedigt fest. »Ob du es nun wahrhaben willst oder nicht, mein Junge: Du brauchst jemanden, der für dich sorgt, nicht zuletzt, weil deine Mutter in London lebt und mein Bruder und deine Schwester bei diesem schrecklichen Bombenangriff am 3. Februar ’45 …«

      Bevor Tante Lu alte Wunden aufreißen, leider aber auch, bevor Sydow zugreifen konnte, schrillte das Telefon. Sydow ließ das Tablett stehen und nahm ab.

      »Sydow hier.« Das Präsidium, wie konnte es anders sein. Und das ausgerechnet jetzt. »Eine Tote? Und wo? Am Lehrter Bahnhof, aha. Ja, gut, komme sofort.«

      »Und was ist mit dem …«, begehrte Luise von Zitzewitz auf, doch kaum hatte ihr Neffe aufgelegt, befand er sich auch schon im Flur, schnappte sich sein Jackett und verließ das Haus.

      11

      Lehrter Bahnhof, britischer Sektor | 09.45 h

      Man musste eine Menge Fantasie aufbieten, um in der ausgebrannten Ruine am Spreebogen den einstigen Berliner Vorzeigebahnhof zu erkennen. Anstelle der Glasfassade gähnte ein leerer Schlund, und von der Halle, dem einstigen Prunkstück, war nur noch das Stahlgerippe übrig. Ein Eindruck, wie er trostloser nicht hätte sein können.

      Eins stand jedoch fest: Von Ruinen, Trümmerbergen und Bombenkratern durfte er sich nicht unterkriegen lassen. Und vom Kohldampfschieben auch nicht. Sonst hätte er sich ja gleich eine Kugel verpassen können. Sydow steckte sich seine letzte Lucky Strike an und sog das Aroma genüsslich ein. Obwohl der Krieg der Vergangenheit angehörte, war er immer noch allgegenwärtig. Damit musste er leben. Wie die übrigen, gut drei Millionen Berliner auch. Kaum etwas zu beißen, abgelegte Klamotten, stundenweise Strom und Gas – noch lange kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken.

      Ruinen hin oder her.

      Begleitet vom Lärm einer MiG-9, die im Tiefflug über den zerstörten Reichstag donnerte, zwängte sich der knapp 1,90 Meter große Kriminalhauptkommissar durch den Pulk der Pendler, Schwarzhändler und Stadtstreicher, die sich vor dem Hauptportal herumdrückten, und betrat die weitläufige Bahnhofshalle. »Na, Sydow – auch schon da?«, rief ihm Bechtel, Fotograf bei der Spurensicherung, schon von Weitem zu. »Wohl von der schnellen Truppe, was?«

      »Klar doch«, antwortete Sydow, vergrub die Hände in den Taschen und rang sich ein Lächeln ab. Es gab Tage, da konnte einem der agile, stets gut aufgelegte Kugelblitz mit seinem Gewusel auf den Wecker gehen. Angesichts der Stimmung, in der er sich befand, kam ihm seine flapsige Art jedoch wie gerufen. »Und du, rasender Reporter – auf dem Weg ins Präsidium?«

      »Haarscharf kombiniert«, erwiderte Bechtel mit todernster Miene. »Und weißt du auch, warum? Reiner Selbsterhaltungstrieb. Oder Schiss vor einem gewissen Tom Sydow. Komischer Patron.« Bechtel, exakt so groß wie sein berühmtes Vorbild, setzte sein Heinz-Rühmann-Grinsen auf. »Der hätte die Fotos nämlich am liebsten bereits vor dem Mord.«

      »Sehr witzig, Kurt.« Sydow zog an seiner Lucky Strike. »Im Ernst: schon irgendwelche Erkenntnisse?«

      Ein Schatten legte sich über Bechtels Gesicht. »Dein Job«, antwortete er gedämpft. »Unter uns: Eine derart übel zugerichtete Leiche habe ich seit Langem nicht mehr gesehen.«

      »So schlimm?«

      »Schlimmer, als es sich Mylord vorstellen können.« Bechtel pausierte und sah Sydow fragend an. »Haste vielleicht eine Fluppe für …«

      »Meine letzte, Kurt. Bedauerlicherweise. Sonst noch was?«

      Bechtel zuckte die Achseln. »Weiblich, blond, rotes Kleid, Stöckelschuhe, knapp 30 – am besten, du schaust sie dir mal an, Tom.«

      »Kann’s kaum erwarten. Und die Fotos?«

      »Siehst du!«, rief Bechtel mit gespielter Entrüstung aus. »Wenn dieser Sydow kein Sklaventreiber ist, will ich doch glatt Josef Stalin …«

      »Bitte nicht der, Kurt.«

      »Einverstanden, Mylord. Spaß beiseite: um zehn im Präsidium – okay?«

      »Nichts wie ran, Held der Arbeit. Oder ab nach Sibirien.«

      »Dann doch lieber in die Dunkelkammer«, gab Bechtel schlagfertig zurück, tippte mit dem Zeigefinger an die Hutkrempe und trollte sich. »Mach’s gut, Tom. Und Kopf hoch!«

      »Du auch, Kurt. Bis nachher«, rief ihm Sydow hinterher, drehte sich um und wandte sich den Gleisen zu. Außer einer Handvoll Reisender, die einem Vorortzug entstiegen, herrschte nicht übermäßig viel Betrieb, weshalb es Sydow nicht schwerfiel, seinen Kollegen Krokowski von der Spurensicherung unter dem Schild mit der Aufschrift ›Gleis II‹ zu entdecken.

      »Guten Morgen, Herr Kriminalhauptkommissar von Sydow«, lautete die Begrüßung des gerade einmal 20-jährigen Strebertyps aus Heiligensee.

      »Den Kriminalhauptkommissar können Sie sich sparen, Krokowski, und das von sowieso!«, entgegnete Sydow, dem das Oberprimanergetue des Kriminalassistenten in spe gewaltig auf den Wecker ging. So was von übereifrig, devot und effizient hatte die Welt noch nicht gesehen. Im Stillen fragte er sich, wie lange es noch dauern würde, bis diese Witzfigur in Knickerbockern Polizeipräsident werden würde. Bis zu einer mäßig gelungenen Kopie von Sherlock Holmes hatte es Krokowski ja immerhin geschafft. »Kann es sein, dass ich Ihnen das schon hundertmal gesagt habe?«

      Krokowski fummelte an seiner Fliege Marke Theo Lingen herum und näselte: »Wie der Herr Kriminal… äh … wie Sie wünschen, Herr Sydow«, stammelte er, machte einen Bückling und fügte rasch hinzu: »Wenn Sie mir dann wohl bitte folgen würden, Herr Krimi…«

      »Mit Vergnügen, Herr Kriminalassistent zur Anstellung.«

      Als Krokowski den Zinnsarg öffnete, in dem der Leichnam lag, kam es Sydow fast hoch. Die Tote sah schlimmer aus als befürchtet. Schwer vorstellbar, dass dieser Torso einmal ein Mensch gewesen war. Und doch war dem so. Dank Theo Lingen dem Zweiten, der zwei Schupos angefordert hatte, um Gaffer auf Distanz zu halten, war er wenigstens ungestört.

      Unter den gegebenen Umständen das einzig Wahre.

      Tom Sydow schnappte nach Luft. Wenn jemand so viel hinter sich hatte wie er, gab es eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder man war ein Nervenbündel oder durch nichts mehr zu erschüttern. Obwohl er sich der letzteren Spezies zurechnete, wandte Sydow den Blick schnell wieder ab. So