Himmler, einer der größten Verbrecher aller Zeiten, war tot.
Das Dritte Reich jedoch noch lange nicht.
Peter Longerich: Heinrich Himmler. München 2008, S. 735f.
›Die heute gängige Auffassung, die Werwolf-Gruppen hätten sich allesamt schlicht und einfach aufgelöst, nachdem sie von den Alliierten überrollt worden waren, trifft so nicht zu. Zwar gelang es nicht, im besetzten Deutschland eine Guerilla-Bewegung aufzubauen, dazu fehlte die entscheidende Voraussetzung, die Unterstützung aus der tatsächlich kriegsmüden Bevölkerung. Doch neuere Forschungen zeigen, dass Werwölfe und andere Fanatiker aus der Zivilbevölkerung, die auf eigene Faust den Kampf gegen die Alliierten auch nach der Besetzung fortsetzten, tatsächlich Tausende von Anschlägen verübten, denen Hunderte von alliierten Soldaten und deutsche »Kollaborateure« zum Opfer fallen sollten.‹
VITTLES
(Berlin, 30. August 1948, Tag 68 der Luftbrücke)
7
Glienicker Brücke, sowjetischer Sektor | 31.08.1948, 00.15 h
Schuld daran, dass der letzte Tag im August auch der letzte im Leben von Sascha Kirilenko war, waren seine Naivität, der Wodka und die Lust auf eine Frau.
In dieser Reihenfolge.
Der Tag, an dem der Countdown zum Dritten Weltkrieg begann, war eine Viertelstunde alt, als der 19-jährige Gefreite der Sowjetarmee die zwei Gestalten auf dem Behelfssteg neben der Glienicker Brücke zum ersten Mal sah. Obwohl Trinken im Dienst verboten war, hatte er kräftig einen zur Brust genommen. Wie im Übrigen auch die Kameraden seiner Wache. Die Nacht würde lang werden, und da sich die Yankees drüben nicht blicken ließen, hatten sie sich Machorka und eine Flasche Fusel organisiert und die Sowjetarmee, ihre Heimat und den Genossen Stalin kräftig hochleben lassen. Alles, was zu ihrem Glück noch gefehlt hätte, wäre die eine oder andere Kurwa2 gewesen. Aber wie hieß es doch so schön: Man soll sein Glück nicht überstrapazieren.
Oder etwa doch?
Der Major auf dem Behelfssteg, der im Scheinwerferlicht auf den sowjetischen Kontrollpunkt zutorkelte, schien jedenfalls mächtig einen in der Krone zu haben. Dass er Russisch mit deutschem Akzent sprach, fiel Sascha jedoch nicht auf. Die Blondine in seinem Schlepptau dafür umso mehr. Die war so scharf, dass er glatt einen Steifen bekam. Angesichts des Notstandes in seiner Einheit kein Wunder.
Der Suff und die Weiber werden dich noch mal umbringen, pflegte seine Matka3 daheim in Irkutsk zu sagen. Und damit hatte sie zweifellos recht. Seine Blauäugigkeit, der Suff und die Weiber.
Exakt in dieser Reihenfolge.
Sascha Kirilenko, Gefreiter der Sowjetarmee, lockerte seinen Uniformkragen und pfiff leise durch die Zähne. Auf sein Aussehen ließ er nichts kommen, blond, blauäugig und gut gebaut, wie er nun einmal war. Mit diesem Hurensohn von Major, höchstens zehn Meter von ihm entfernt, konnte er es jedenfalls aufnehmen.
Dachte er wenigstens.
Und übersah dabei, dass er keiner war. Weder ein Major der Roten Armee noch ein Offizier irgendeiner anderen Armee dieser Welt.
Um zu begreifen, wen er vor sich hatte, blieb Sascha Kirilenko keine Zeit. In nüchternem Zustand hätte er vielleicht eine minimale Chance gehabt. Da hätte er seine AK-47 geschnappt und draufgehalten. Oder es zumindest versucht. So aber zog er den Kürzeren.
Unweigerlich.
Keine drei Schritte von ihm entfernt, zückte der Mann, den er für einen Vorgesetzten hielt, plötzlich eine FN Browning HP. Scheißnutten!, fuhr es Sascha Kirilenko aus Irkutsk durch den Kopf. Es sollte sein letzter Gedanke sein. Einen Atemzug später jagte ihm der Mann, auf dessen Backe sich eine hässliche Narbe befand, eine Kugel durch den Kopf. Und seinem Kumpel Pjotr, der das Ganze für einen makaberen Scherz hielt, mit dazu.
Dies alles geschah lautlos, ohne Gegenwehr. Die übrigen Posten, noch halbe Kinder, wurden von der Frau liquidiert – auch sie ohne die geringste Chance. Die Aktion hatte nicht einmal eine Minute gedauert, und als sie vorüber war, packten die beiden Angreifer ihre Opfer an den Füßen, schleiften sie auf den Steg und warfen sie in die Havel.
Damit war der minutiös geplante Überfall jedoch noch nicht beendet. Kaum trieben die vier Sowjetsoldaten im Wasser, schossen aus der Dunkelheit drei motorisierte Schlauchboote heran. Ihre Besatzungen, drei Mann pro Boot und mit geschwärztem Gesicht, bargen die Leichen, gaben wieder Gas und jagten in Richtung Wannsee davon, ohne mit dem vermeintlichen Major oder der Frau auch nur ein Wort gewechselt zu haben.
Im Gegensatz zu den Männern im Schlauchboot schienen es die beiden auf der Brücke nicht sonderlich eilig zu haben. Als sei nichts geschehen, warfen sie ihre Brownings in die Havel, hakten sich unter und torkelten auf die gegenüberliegende Seite zurück. Dort angekommen, zog der Zweimetermann mit dem Schmiss und der Boxernase seine Uniformjacke aus und warf sie in hohem Bogen ins Gebüsch. Dann brach er in schallendes Gelächter aus.
Es war ein deutsches Lied, das er jetzt anstimmte – ›Lili Marleen‹. Aber das bekam Sascha Kirilenko, Gefreiter der Roten Armee, nicht mehr mit.
2 russ.: Hure
3 russ.: Mutter
8
Jagdschloss Grunewald, britischer Sektor | 03.45 h
»Melde gehorsamst – Befehl ausgeführt!«, bellte der Zweimetermann, der trotz der morgendlichen Kühle nur ein Unterhemd, Khakihosen und Wehrmachtsstiefel trug. Im Dritten Reich war er bei der Waffen-SS gewesen, und das merkte man ihm auch an. Bürstenschnitt, markantes Kinn, Schmiss und muskulös – ein nordischer Recke wie aus dem Bilderbuch.
Einer von der ganz harten Sorte.
»Und die bolschewistischen Untermenschen?«, fragte der mittlere der drei Maskierten, denen der SS-Hüne Meldung gemacht hatte. »Was ist mit denen?«
»Liquidiert.«
»Überlebende?«
»Keine.«
»Gut gemacht, Kamerad Maschke. Wegtreten.«
Der Zweimetermann, auf dessen Oberarm eine Wolfsangel4 eintätowiert war, schlug die Hacken zusammen und riss den Arm zum Hitlergruß empor. Dann gesellte er sich zu dem knappen Dutzend schwarz gekleideter Männer, die sich auf der Waldlichtung in der Nähe des Jagdschlosses Grunewald um ein Hakenkreuz aus Pechfackeln geschart hatten.
»Und was jetzt?«, fragte der zweite Maskierte, korpulent und mittelgroß. »Du glaubst doch nicht etwa, dass die Russen das auf sich sitzen lassen.«
»Wem es nicht passt, der kann ja aussteigen!«, schnauzte ihn der Dritte im Bunde, der dem Tätowierten höchstens bis zur Schulter reichte, wie einen Offiziersburschen an. »Hätte ich mir ja denken können, dass du kalte Füße …«
»Klappe halten – aber sofort!«, fuhr der mittlere der drei Maskierten dazwischen. Und fügte, an seinen Nachbarn zur Rechten gerichtet, hinzu: »Damit wir uns richtig verstehen, Nummer zwei – einen Weg zurück gibt es nicht. Jetzt nicht mehr. Die ›Operation Wotan‹ wird in Kürze anlaufen. Und niemand, nicht einmal du, wird es wagen, mir im allerletzten Moment noch in die Quere zu kommen. Haben wir uns verstanden, Kamerad?«
Der Angesprochene holte tief Luft, doch ging seine Antwort im Getriebelärm einer amerikanischen B-29 mit Kurs auf den Flughafen Tempelhof unter. »Scheiß Amis!«, presste er stattdessen hervor, worauf sich die Körperhaltung seines Gegenübers merklich entspannte. »Na also, warum denn nicht gleich«, konstatierte dieser zufrieden,