Uwe Klausner

Odessa-Komplott


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den 10.6.1942

      Strattmann, SS-Obersturmführer

      3

      London-Stepney, Vallance Road | 27.03.1945, 07.15 h

      »Ich liebe dich, Tom.« Zwischen dem Kuss, mit dem Rebecca ihn weckte, und dem Einschlag der V2-Rakete lagen exakt fünf Minuten.

      300 Sekunden, an die er sich sein Lebtag lang erinnern würde.

      Der Wecker, das warme Bett und eine geballte Portion Müdigkeit. Alles so wie immer. Und auch wieder nicht. Dieser Dienstag nämlich sollte kein Tag wie jeder andere werden.

      Sondern etwas ganz Besonderes.

      Der Grund, weshalb Rebecca es im Bett nicht mehr aushielt, sich anzog und Kaffee machte. Fünf Minuten Galgenfrist, wenigstens das. Danach würde es kein Pardon mehr geben. Raus aus den Federn, rein in den Anzug und rüber in die Küche, wo es bereits nach Eiern, Speck und Kaffee roch. Und dann nichts wie ab aufs Standesamt. Wenigstens heute, am Tag seiner Hochzeit, würde Scotland Yard ohne ihn auskommen müssen.

      Dass er nie wieder dort arbeiten würde, konnte der 32-jährige Berliner freilich nicht ahnen.

      Der Tod kam lautlos, mit einer Geschwindigkeit von 5.000 km/h. Um London zu erreichen, brauchte die V2 gut fünf Minuten, unsichtbar für das britische Radar. Sie trug eine Tonne Sprengstoff mit sich, genug, um das Mietshaus, in das sie einschlagen würde, in Schutt und Asche zu legen. Es war ein Gegner, gegen den die 134 Opfer, die der letzte Raketenangriff auf London fordern sollte, absolut machtlos waren. Niemand, auch nicht Tom Sydow, konnte etwas dagegen tun.

      Das Letzte, woran er sich erinnerte, war das Lied, das Rebecca vor sich hinsummte. Es war ein Klezmer-Lied, in Hebräisch, voller Wehmut und Melancholie. Im Verlauf der drei Jahre, die sie beide in London verbracht hatten, war es so etwas wie sein Lieblingslied geworden, obwohl er keine einzige Silbe verstand. Sydow setzte sich schlaftrunken auf, und als wäre dies ein Zeichen, flogen die letzten drei Jahre im Zeitraffer an ihm vorbei. Das Zerwürfnis mit seiner Familie, die Arbeit bei der Berliner Kripo und der letzte Fall, bei dem es ihm beinahe an den Kragen gegangen war. Das Wiedersehen mit Rebecca und die Entdeckung des Protokolls von Heydrichs Wannsee-Konferenz, das sie aus Deutschland hinausgeschmuggelt hatten. Eine Geschichte, die genauso gut hätte schiefgehen können. Und die letzten zweieinhalb Jahre, die zu den glücklichsten seines Lebens zählten. Jahre, die er um nichts in der Welt hätte missen wollen. Was machte es da schon aus, dass er und Rebecca kaum etwas zu beißen hatten. Hauptsache, sie waren zusammen. Und der Krieg, dessen Ende er buchstäblich herbeisehnte, wäre möglichst schnell vorbei.

      Zwanzig nach Sieben. Und lausig kalt. Mit einem Wort: England pur. Die Handfläche auf der Bettkante, rappelte sich Sydow auf. Die Aussicht auf Kaffee und vor allem die Umarmung der Frau, ohne die er nicht mehr leben konnte, wirkten wie ein Aufputschmittel.

      Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.

      Alles, woran er sich später erinnern konnte, waren diese fünf Minuten gewesen. Die Zeit zwischen Himmel und Hölle, zwischen Traum und Tag. Der bläulich-grelle Blitz, die ohrenbetäubende Detonation, die herumfliegenden Trümmer, Holzsplitter und Gesteinsbrocken – kein Gedanke daran, nicht einmal die Andeutung davon. Von dem Moment an, als die V2 den Wohnblock an der Vallance Road in Sekundenbruchteilen zu Staub pulverisierte, war die Erinnerung wie ausgelöscht für ihn. Was blieb, war der Abgrund, in den er hinabgeschleudert wurde, schier endlos, dunkel und ohne Aussicht auf Wiederkehr.

      Als er die Augen aufschlug, dachte Sydow, es sei alles vorbei. Von dem, was passiert war, hatte er keine Ahnung, und er kam auch nicht dazu, darüber nachzugrübeln. Der Steinbrocken auf seinem Brustkorb schnürte ihm den Atem ab, die stickige, von Schwelbränden und dem Gestank von ausströmendem Gas durchtränkte Luft tat ein Übriges. Das muss die Hölle sein!, durchfuhr es ihn, und als ihm dämmerte, worin die Ursache für all das hier lag, wollte Thomas Randolph von Sydow schreien. Doch der Schrei, der Name, der ihm auf der Zunge lag, kam ihm nicht über die Lippen. Zu schwer wog der Stein, zu schwer die Erkenntnis, die ihn in diesem Moment beschlich. Sydow rang verzweifelt nach Luft. Nein!, durchzuckte es ihn jäh. Dies hier ist nicht die Hölle. Dies hier ist der Krieg, schlimmer als sämtliche Höllenvisionen dieser Welt zusammen.

      *

      Bis sich der Bergungstrupp zu ihm vorgekämpft hatte, waren volle drei Stunden vergangen. Am Anfang war da nur dieses Klopfgeräusch gewesen, das Heulen von Sirenen, vereinzeltes, wie aus weiter Ferne an sein Ohr dringendes Rufen. Mit jeder Minute, die er inmitten der Trümmer ausharrte, kam es jedoch näher. Nicht lange, und er war imstande, einzelne Stimmen zu unterscheiden, was die Erkenntnis, Opfer eines Raketenangriffes geworden zu sein, immer wahrscheinlicher machte.

      Von der Befürchtung, die seine Überlebensinstinkte beinahe zunichte gemacht hätte, nicht zu reden.

      Doch dann, im Angesicht des Todes, dessen Hand er bereits an der Kehle spürte, war es vorüber. Licht. Gleißend helles, die Dunkelheit durchbrechendes Licht. Und ein Arm, der sich vom Himmel auf ihn herabsenkte.

      Doch die Freude über die Rettung, die ihm zuteilgeworden war, blieb aus. Und nicht nur das. Kaum hatten ihn die Feuerwehrleute geborgen, fiel sein Blick auf eine Hand, die unweit von ihm aus dem Schutthaufen ragte. Schlank, feingliedrig und cremefarben. Eine Hand mit einem Verlobungsring: Rebeccas Hand.

      Jetzt erst, als ihn der Schmerz wie eine Stahlklinge durchbohrte, brachte es Tom Sydow fertig, zu schreien.

      So laut, dass jedes Geräusch ringsum erstarb.

      4

      Berlin-Mitte, Neue Reichskanzlei | 20.04.1945, 19.30 h

      Der Tag, an dem Heinrich Himmler seinen Führer zum letzten Mal sah, war der vierte Tag mit schönem Wetter in Folge. Und zugleich dessen Geburtstag. Für den Reichsführer-SS die Krönung eines rabenschwarzen Tages. Am Vormittag hatte es einen der schwersten Bombenangriffe des gesamten Krieges gegeben, und jetzt, wo es ans Eingemachte ging, kam die Nachricht, die Rote Armee habe die Vororte bereits erreicht. Deutlicher hätte sich der herannahende Untergang nicht ankündigen können.

      Doch Heinrich Himmler, 44 Jahre, nur 1,71 Meter groß und kurzsichtig, hatte vorgesorgt. Er hatte einen Trumpf im Ärmel. Einen, von dem er glaubte, dass er stechen würde. Dass er stechen musste. So mir nichts, dir nichts abtreten, kam für den Herrn über die KZs, der Millionen Menschen auf dem Gewissen hatte, nicht infrage. Dazu war sein Überlebenswille viel zu groß. Und seine Skrupellosigkeit, von der er einmal mehr Gebrauch zu machen gedachte.

      Er würde retten, was zu retten war, sich den Alliierten als Mittelsmann andienen. Am Vorabend, an dem er mit Champagner auf den Führer angestoßen hatte, war der erste Schritt dazu getan worden. Und weitere würden zweifelsohne folgen. Immerhin, so sein Kalkül, waren Zehntausende von Juden immer noch in seiner Hand. Ein Pfund, mit dem sich wuchern ließ. Und das sich bestens dazu eignete, als generös und kompromissbereit dazustehen. Das heißt, falls die Alliierten mitspielen würden. Aber daran hegte Heinrich Himmler keinen Zweifel.

      »Zeit, sich auf die Socken zu machen, was, Reichsführer?« Im Begriff, in seine gepanzerte Limousine Marke Mercedes Benz W 150 mit dem Nummerschild ›SS-1‹ zu steigen, blieb Himmler unverrichteter Dinge stehen. Nicht etwa, weil er übermäßig viel Zeit gehabt hätte, sondern weil er den Spott, der in der Stimme hinter ihm mitschwang, nicht so einfach auf sich sitzen lassen wollte. »Wer weiß, vielleicht schnappt die Falle ja schon in ein paar Stunden zu.«

      »Zu Ihrer Information, Bormann –«, fuhr Himmler den stiernackigen, ihm in puncto Skrupellosigkeit zumindest ebenbürtigen Privatsekretär Hitlers an, »dies hier ist keine Flucht, sondern der Versuch, die Sache des Führers bis zum letzten Atemzug …«

      »Und wozu dann die Eile?«, warf Bormann höhnisch ein, gänzlich unbeeindruckt von dem Höllenlärm, den der sowjetische Granathagel, die Kanonen der T-44-Panzer und die Stalinorgeln verursachten. »Sie wissen doch: Beim Endkampf um Berlin ist der Führer auf jeden Mann angewiesen.«

      Himmler nahm seine Brille ab, rieb sie am Ärmel seines Ledermantels und setzte sie wieder auf. Dieser Bormann mit seiner