Hall George

Big Ideas. Das Klassische-Musik-Buch


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       Guido von Arezzo

       Solmisation

      Auch wenn die Töne der heutigen siebenstufigen Tonleiter verwendet wurden, sprach man von einer Sechstonfolge, einem Hexachord. Guido von Arezzo unterlegte jeden Ton mit einer Silbe – ut, re, mi, fa, sol, la – und begründete damit die Solmisation, bei der jeder Ton auf eine bestimmte Silbe gesungen wird. Um alle 20 Noten der Guidonischen Hand abzudecken, wurde der Hexachord in sich überlappenden Mustern wiederholt. Jede Note war deshalb sowohl mit einem Buchstaben als auch mit einer Koordinate versehen, die die genaue Position der Note auf der Hand angab und die Oktave bestimmte. Das heutige »mittlere c« (c’) hieß auf der Hand zum Beispiel »c sol-fa-ut«. Das tiefste G war »gamma ut«, aus dem sich der Begriff »Gamut« als Bezeichung für den gesamten Tonumfang ableitet. Der Choralsänger konnte auf diese Weise jede einzelne der 20 Noten schriftlich, verbal oder einfach nur durch Zeigen auf seine Hand spezifizieren. image

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      Der italienische Mönch und Musiktheoretiker Guido von Arezzo wurde rund 600 Jahre nach seinem Tod von Antonio Maria Crespi Anfang des 17. Jh. mit einem Lorbeerkranz porträtiert.

       Die Kirchentonarten

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      Das Fundament der westlichen Musiktheorie ruht auf frühen kirchenmusikalischen Traditionen aus Griechenland, Syrien und Byzanz. Auf diesen aufbauend kam im 9. Jahrhundert das Prinzip der Kirchentonarten, der sogenannten Modi, auf, mit dem die verschiedenen Choralmelodien (aus denen sich schon bald die gregorianischen Choräle entwickelten) kategorisiert wurden. Die Modi halfen den Mönchen, sich die vielen liturgischen Gesänge zu merken.

      Modi können nur mit den weißen Tasten des Klaviers gespielt werden. Würde man sechs komplette Siebentonskalen spielen, jeweils beginnend mit der nachfolgenden Note, erhielte man einen Eindruck vom Klang des jeweiligen Modus: C (ionisch, entspricht der Dur-Tonleiter), D (dorisch), E (phrygisch), F (lydisch), G (mixolydisch), A (äolisch, entspricht der natürlichen Moll-Tonleiter). Die Tonleiter auf H, auch lokrischer Modus genannt, galt im Mittelalter als dissonant und wurde deshalb nicht verwendet.

      Erst im 18. Jahrhundert, zu Zeiten von Barockkomponisten wie Bach und Händel, wurden die Kirchentonarten durch das Prinzip von major (Dur) und minor (Moll) im Wesentlichen auf zwei Tongeschlechter reduziert. Von da an ordnete man Musik nicht länger nach Modi, sondern nach Dur- und Molltonarten.

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      WIR SOLLTEN PSALMEN AUF DEM ZEHNSAITIGEN PSALTER SINGEN

      ORDO VIRTUTUM (UM 1151), HILDEGARD VON BINGEN

       IM KONTEXT

      SCHWERPUNKT

       Frühe Komponistinnen

      FRÜHER

      Um 920 Die zwei erhaltenen Strophen von Jórunn Skáldmaers Sendibítr (»Eine bissige Botschaft«) sind die längsten skaldischen Verse (norwegische Dichtung, die vermutlich gesungen wurde) von einer Frau.

      1150 In Paris komponiert vermutlich Äbtissin Héloïse das Osterdrama Ortolanus sowie die Ostersequenz Epithalamica, die dem Theologen Peter Abelard zugeschrieben wird.

      SPÄTER

      1180 Beatriz Comtessa de Dia schreibt fünf Trobadorlieder. Von A chantar m’er de so qu’eu no volria ist die Notation erhalten.

      1210 Juliana von Lüttich schrieb vielleicht Musik zum Fronleichnamsfest, die ihr in einer Vision erschien.

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      Hildegard empfängt eine göttliche Vision (Illustration in einer Handschrift des 13. Jh.). An ihrer Seite sind Volmar von Disibodenberg (links) und ihre Vertraute Richardis von Stade.

      Eine der originellsten Stimmen der mittelalterlichen Kirchenmusik war die der deutschen Klerikerin Hildegard von Bingen. Ihr musikalischer Output ist zudem einer der größten von allen bekannten mittelalterlichen Komponisten. Ihre Sammlung mit dem Titel Symphonia armonie celestium revelationum (»Symphonie der Harmonie der himmlischen Offenbarung«) umfasst beispielsweise über 70 Gesänge.

      Hildegard wuchs unter der Anleitung der jungen Visionärin Jutta von Sponheim auf. Mit Unterstützung von Jutta und einem Mönch namens Volmar aus der Abtei Disibodenberg lernte Hildegard die Psalmen und Gesänge des Kirchenjahres, studierte das Psalterspiel (ein altes Saiteninstrument) und die lateinische Schrift. Wie Jutta erklärte sich auch Hildegard als von Gott inspiriert und behauptete, »nie Neumen oder einen anderen Teil der Musik gelernt zu haben«. Ob diese Behauptung stimmte, ist nicht überliefert, doch sie mag ein Versuch gewesen sein, sich von einer Bildung zu distanzieren, die Frauen im 12. Jahrhundert normalerweise nicht zugänglich war. Die männliche Obrigkeit hätte es als direkte Bedrohung empfinden können, wenn eine Frau Wissen über das Trivium (die rhetorischen Künste) oder das Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musiktheorie) besaß oder die Auslegung der Bibel lehrte.

       Magnum opus

      Hildegards bekanntestes Werk Ordo virtutum (»Das Spiel der Tugenden«) ist die älteste erhaltene Moralität und eines der ersten bekannten Musikdramen. Es enthält über 80 Melodien und 20 Gesangsrollen und wurde vermutlich von den Nonnen aus Hildegards Orden aufgeführt. Thema des Dramas ist der Kampf um eine Seele (Anima), den 17 Tugenden (mit der Demut als ihre Königin) mit ihrem Gegenspieler Diabolus (dem Teufel) austragen. Diabolus, dessen Rolle vielleicht von Hildegards Freund und Schreiber Volmar übernommen wurde, fehlt jegliche Harmonie, und er artikuliert sich in gesprochenen Einwürfen.

      Teile der Gesänge werden in einem einfacheren Stil im Chor gesungen, andere solistisch in einem virtuoseren Stil. Wenn sich die Tugenden einzeln vorstellen, wird die Musik ausdrucksvoller und lebhafter. Der mitreißende Gesang von Humilitas (Demut), Fede (Glaube) und Spes (Hoffnung) ermuntert ihre Schwestertugenden zu einer leidenschaftlichen Antwort. Die originale Notation ist jedoch kaum vorhanden. Heutige Aufnahmen mit Geigen, Flöte und mehrstimmiger Begleitung sind lediglich moderne Interpretationen dieser Skizze.

      »Ich sah ein überaus stark funkelndes Licht aus dem geöffneten Himmel kommen. Es durchströmte mein Gehirn … und plötzlich hatte ich die Einsicht in den Sinn und die Auslegung.«

       Hildegard von Bingen

       Texte und Göttlichkeit

      Hildegards Briefe offenbaren ihren Status als »Seherin und Mystikerin«. Dies gab ihr nicht nur die Freiheit, selbst dem Papst einen strengen Rat zu geben, sondern auch, sich musikalisch auszudrücken. Sie betonte oft die transzendente Herkunft ihrer Werke. Musik verband sie mit dem verlorenen Paradies, bevor Adam und Eva von der verbotenen Frucht naschten und damit den Untergang der Menschheit herbeiführten. Ihre Texte standen für sie im Dienst der Musik, damit »diejenigen, die sie hören, etwas über die inneren Dinge lernen«. image

       Hildegard von Bingen