Obwohl gar nicht Sonntag ist, trägt sie ihr Sonntagsdirndl, und die Haare sind zu dicken Ohrschnecken gesteckt und mit einem Reif verziert.
Zum gleichen Sommer gehört eine Szene, die sie nicht vergessen wird. Da hat sie die dunkelrote Scheibengardine am Fenster der Tür zwischen Küche und Laden ein klein wenig zur Seite geschoben, wie sie es gerne macht, um sich zu unterhalten, denn meistens darf sie nicht in den Laden gehen, wo sie am liebsten wäre. Oft träumt sie sich hinaus, sie öffnet die Vitrinen, nimmt die Pralinenschachteln mit den breiten Schleifen und die silbrigen Bonbonnieren heraus, wischt die Fächer sauber aus und arrangiert alles neu. Sie hätte das gekonnt. Wenn sie viel bittet und bettelt, darf sie der Mutter manchmal beim Verkaufen helfen. Dann steht sie voller Bedeutung auf einem Hocker neben der Kasse und reicht den Kundinnen die mit Brötchen oder Süßstücken gefüllten Tüten.
Gerade kauft niemand ein. Wo ist die Mutter? Vielleicht ist schon Ladenschluß. Linda hinter der roten Scheibengardine sieht den Vater und die dicke Hieberin, die sich hinter der Theke gebückt hat, wie sie sich immer beim Putzen bückt. Aber ihr fleckiger, geblümter Rock ist hochgeklappt, so daß Linda die Unterhose sehen kann und die rosa Strapse, an denen die Strümpfe spannen. Die dicke Hieberin bewegt sich unruhig hin und her, während der Vater ihr den Hintern tätschelt wie die Großmutter der Kuh nach dem Melken immer.
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Früher glaubten die Menschen, Engel bewegen die Sterne. Seit sich gezeigt hat, daß sie das nicht tun, glauben nur noch wenige Leute an Engel. Linda wurde durch den lieben Gott erzogen, der alles weiß. Nie schlief er. Sie sah ihn Tag und Nacht über den Himmel hingestreckt. Sein alles durchdringender Blick war auf die Erde gerichtet, neben ihm lag das dicke, rote Buch, in das er die Sünden eintrug.
Linda aß ihren Teller nicht leer und schüttete das Fleisch, den Blumenkohl und die Kartoffeln schnell in den Schweineeimer, als die Mutter in den Laden mußte. Linda lief, anstatt in den Kindergarten zu gehen, an den Bach und schaute bis zum Elf-Uhr-Läuten dem närrischen Gottfried beim Angeln zu. Linda schenkte einem Jungen, der ihr gedroht hatte, sie am nächsten Tag zu verhauen, eine gelbe Zuckerstange aus dem Laden. Das waren ihre Sünden. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht lügen.
Natürlich wurde sie jedes Mal erwischt, weil sie schon auf die Andeutung einer Frage hin schuldbewußt in Tränen ausbrach. Die Großmutter sparte nicht mit Schlägen, und die Mutter stieß sie von sich und sagte, wer lügt und betrügt, kommt in die Hölle, und da ist es furchtbar schwarz und heiß, das wirst du schon merken. Aber sonntags, wenn Linda zwischen Mutter und Großmutter in der Kirche saß und die Orgel zum Eingang mächtig spielte, spürte sie mit wohligem Schauder, daß Gott ihr vergab. Sie glaubte ihrer inneren Stimme mehr als den Stimmen ihrer Mütter.
Die Wohnverhältnisse in dem Haus waren beengend, und überall knarrten die Holzböden und die Stufen. Nachts knabberten sich Mäuse durch die Wände, und in den Balken knackte es. Linda lag oft wach in ihrem Bettchen und fürchtete sich. Gerne hätte sie eine ihrer Puppen, und wenn es nur die allerkleinste gewesen wäre, bei sich gehabt, aber das erlaubte der Vater nicht. Er wollte einen mutigen Pimpf.
Unter der Woche spielte sich das Leben hauptsächlich in der Küche ab. Da gab es immer zu tun. Mittagessen kochen, Marmelade einkochen, Obst eindünsten, Geschirr spülen, Geschirr abtrocknen. Außer dem Elektroherd wurde auch ein Kohleofen benutzt, auf dem immer ein Bottich mit Wasser brodelte, das man zum Geschirrspülen am Wasserstein in ein Zinkwännchen schöpfte. Die Paradestücke in der Küche waren ein Buffet im Stil des »Gelsenkirchener Barock« und das vom Sattler nach Lindas Geburt neu aufgepolsterte und mit einem roten Velours bezogene Kanapee, zu dem es zwei runde Kissen gab. Von der Küche aus gelangte man in eine kleine Stube, zu der die Tür meistens offen stand. In der sogenannten Schreibstube telephonierte man, und die Großmutter und samstags auch Herrmann Haselwander saßen dort am Schreibtisch über den Geschäftsbüchern. Im ersten Stock waren außer den beiden Fremdenzimmern ein großes Bad, das Schlafzimmer der Großmutter und das Schlafzimmer der Eltern, in dem Lindas Gitterbett stand. Das Wohnzimmer nahm den Platz über Küche und Schreibstube ein. Es hatte einen Holzbalkon, der über der ganzen Breitseite des Hauses verlief und weit von dem trutzigen Dach überragt wurde, so daß man an milden Tagen, auch wenn es regnete, gemütlich im Trockenen sitzen und zum Dorf hinunter und weit über das Tal schauen konnte.
Linda wartete immer auf die Sonntage. Wie lange dauert es noch? Wenn die Großmutter samstags im Wohnzimmer den Kachelofen anheizte, war es schon fast soweit. Linda saß gerne da im Ohrensessel und hörte der Großmutter zu, die Harmonium spielte und dazu sang. Über dem Harmonium hing in einem schwarzen Rahmen ein Photo des ernst blickenden Großvaters. Schon vor dem Krieg war er an einem Herzleiden gestorben. Seine Eltern hatten das Haus Ende des vorigen Jahrhunderts gebaut. Außer diesem Photo gab es an den Wohnzimmerwänden nur noch ein Geweih und eine Pendeluhr, die fleißig schlug.
Immer wird der Gedanke an das Wohnzimmer im Elternhaus mit etwas Festlichem verbunden bleiben. An Weihnachten und an Ostern trugen sie sogar das Essen aus der Küche nach oben und aßen dort von dem weißen Porzellan und mit dem Silberbesteck, das zur Aussteuer der Großmutter, die Regula hieß, gehörte.
Vom Gang im ersten Stock aus führte eine schmale Stiege unter das Dach, wo früher der Heuboden gewesen war. Der Platz wurde jetzt als Speicher für allerlei altmodisches Gerät genutzt. Da standen Schränke, eine Getreidewaage, eine Zinkbadewanne und Petroleumleuchter. In einer mit Schnitzereien verzierten Truhe saß noch Leinenwäsche von der Urgroßmutter. Mit Monogrammen bestickte Tischdecken, Bettzeug, Schürzen, Unterröcke und lange Nachthemden. Linda spielte gerne heimlich hier und probierte vor dem halbblinden Spiegel die Sachen an. Und mit diesen Spielen verbunden war der würzige Duft nach den geräucherten Schinken, den Schwartenmägen und Würsten, die die Großmutter nach den Schlachttagen dort immer an einer Stange aufhängte. Von einem Teil des Speichers war das Zimmer abgetrennt, in dem der Geselle wohnte. Linda war es bei Androhung von Schlägen verboten, den Gesellen zu besuchen. Wenn sie jedoch da spielte und der Geselle kam oder ging, versuchte sie, wenigstens in das Zimmer hineinzublicken. Es war hell darin, denn es hatte ein großes Gaubenfenster. Linda sah das zerwühlte Bett, einen Ofen und einen schiefen Schrank, auf dem Schachteln gestapelt waren. So gerne wollte sie alles in Ruhe betrachten. Nie schloß der Geselle ab, wenn er in die Backstube hinunter ging, aber Linda wagte es nicht, die Tür zu öffnen.
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Linda trägt das Dirndl mit der Herzchenschürze. Ihre Haare sind zu dicken Ohrschnecken gesteckt. Die Rheinländer, zu denen sie Tante und Onkel sagt, obwohl sie weiß, daß sie überhaupt keine richtigen Verwandten sind, wollen Photos machen. Sie haben ihr einen Haarreif mitgebracht, auf dem kleben Blüten ganz fest. Linda hat daran geknabbert, denn sie sehen genau aus wie die bunten Marzipanblüten, mit denen der Vater manche Torten verziert. Dieses Lehrerehepaar aus Bonn kommt jeden August. Sie haben selbst keine Kinder und kennen Linda, seit sie ein paar Wochen alt war. Eigentlich würden sie gerne einmal nach Bayern in Urlaub fahren, aber wegen Linda entscheiden sie sich immer wieder für Huwihl. Die Frau, die eine starke Brille trägt, sagt oft zu ihrem Mann, wenn wir sie nur mitnehmen könnten, bei uns hätte sie es so gut, wir könnten ihr wenigstens etwas bieten.
Linda wird nicht gerne photographiert. Sie wäscht die Hände unter dem Brunnenwasser und spritzt herum. Ihre Hände sind nie anders als rauh und zerkratzt. Sie macht sich wichtig. Sie will der Tante und dem Onkel Lübchen jetzt die Häschen zeigen. Das Tor zur Scheune, in der auch die Ställe sind, steht offen. Es ist ein heißer Tag. Yolande, die Kuh, hat sich gelegt und käut träge, was ihr Magen heraufschickt. Weil Linda die Sonntagsschuhe anhat, geht sie auf Zehenspitzen zu ihr hin, um sie am Ohr zu streicheln. Zum Dank schleckt ihr Yolande über die Hände und die Arme. Da seht ihr, ruft Linda begeistert und als hätte sie das eben erst entdeckt, was die für eine lange Zunge hat. Sie reibt sich mit einem Bündel Heu sauber, so wie die Großmutter das macht. Nebenan meckern die Geißen empört. Ihre Jungen, die mit allen Vieren zugleich in die Luft springen konnten, hat der Vater geschlachtet. Die Schweine schlafen. Die stinken immer, sagt Linda fachmännisch und hüpft zum Hasenstall weiter. Den darf sie aber nicht öffnen. Sie steckt eine Möhre durch den Draht, damit die Häsin von den Jungen geht. Alle grau, wie die Russin selbst. Ihr Mann, das ist der Russe, der ist auch grau. Reinrassig, sagt Linda, mit Stammbaum. Der Lehrer und seine Frau flüstern. Zum Photographieren ist es hier zu