dem Bett und dem Schrank auch eine Spiegelkommode. Unter das Gaubenfenster wurde ein zierlicher Schreibtisch gestellt. Zur Einweihung brachte Fräulein Jadow einen Plattenspieler. Den stellte Linda auf die mit Schnitzereien verzierte Truhe, die vorher bei den alten Schränken auf dem Speicher gestanden hatte. Linda freute sich sehr. Am liebsten hätte sie das stille, warme Zimmer nicht mehr verlassen.
Malte
Malte Olson wurde 1952 in Bremen geboren. Seine Mutter war Organistin und Klavierlehrerin, sein Vater begann, nachdem er schon einige Zeit als technischer Zeichner gearbeitet hatte, ein Ingenieur-Studium. Malte hatte drei Geschwister. Carsten, den um zwei Jahre älteren Bruder, Caren, die um ein Jahr jüngere Schwester, und Marie, die 1963 geboren wurde. Bis zu ihrem Umzug in den Schwarzwald, wo der Vater dann Leiter einer Kunststoffabrik wurde, lebte die Familie ziemlich beengt in einer Mietwohnung.
Malte war ein bewegliches, lebensfrohes Kind. Für ihn gab es nur vollkommene Wachheit oder tiefen Schlaf. Er sang viel und laut und hüpfte und klatschte dazu im Rhythmus. Mit den Hausbesitzern in der darunter liegenden Wohnung gab es deshalb oft Ärger. Wenn er müde war, legte er sich irgendwohin und schlief sofort fest ein. Schon als Dreijähriger ging er nicht mit der ganzen Hand patschend auf das Klavier los, sondern drückte vorsichtig einzelne Tasten. Er lauschte, wie sich ein Ton ausdehnt und wie er nach und nach leiser wird, bis er ganz verklingt. Die Mutter freute sich darüber und spielte und sang oft mit ihm am Klavier. Carsten machte nicht mit, er wollte viel lieber ins Schwimmbad gehen, und Caren zog ihre Puppen vor.
Als Malte fünf Jahre alt war, gab ihm die Mutter regelmäßig Klavierunterricht. Sonntags durfte er beim Gottesdienst, den sie begleitete, neben ihr an der Orgel sitzen. Nie dauerte ihm das lang genug. Außer der Musikalität fielen an dem Jungen besonders seine leuchtenden blauen Augen auf. Sie blickten wach und interessiert und in gewisser Weise zärtlich. Jeder behandelte Malte mit Respekt und eher wie einen Erwachsenen. Undenkbar, daß man ihn in einen Kindergarten geschickt hätte. Im Halbschlaf hörte er oft wunderbare Klänge. Er spielte. Er allein, aber sein Instrument war nicht nur ein Klavier, sondern außerdem ein ganzes Orchester, und er sehnte sich danach, was er gehört hatte, aufzuschreiben. Neben der Musik war ihm alles andere nebensächlich. Bald sagte er, daß er Pianist werden wolle. Er las schon gerne in Biographien berühmter Musiker, und er hatte seine Vorbilder. Manchmal war es schwierig zu unterscheiden, was von ihm selbst kam und was er imitierte.
Mit acht Jahren beteiligte er sich zum ersten Mal an einem Wettbewerb am Konservatorium. Gleich bekam er den ersten Preis. Man wurde auf ihn aufmerksam, und er sollte im Theater mitmachen, als für ein modernes Stück ein Kind gesucht wurde, das auf der Bühne sicher Klavier spielen und Kraft und Konzentration eines frühreifen Genies darstellen konnte. Obwohl seine Mutter immer wieder betonte, sie halte nichts von Wunderkindallüren, ließ sie ihn mitmachen. Der Vater schüttelte nur den Kopf. Ihm wäre es lieber gewesen, daß Malte trotz seiner Begabung und seiner Neigung zum Extrem wie Caren und Carsten aufwuchs. Wurde in dem Jungen nicht ein Narr gezüchtet? Aber letzten Endes verstand der Vater ja nichts von Musik, und so schwieg er.
Auf dem Programmheft des Theaters war dann dieses Photo: Ein Junge mit einer Mozartperücke sitzt in einen engen Frack gezwängt vor einem Konzertflügel. Seine Füße stehen auf einem Schemel, denn sie würden noch nicht bis auf den Boden reichen. Wie zu einem wilden Akkord hat der Junge beide Hände erhoben. Alles auf dem Bild wirkt übertrieben. Aber tatsächlich war das Stück an jedem Abend ausverkauft. Maltes Spiel rührte die Menschen.
Nachdem Malte zehn Jahre alt war, verbrachte er die Sommerferien oft in Lübeck bei einer jüngeren Freundin seiner Mutter. Lioba Vengerowa wohnte außerhalb der Stadt in einem abgelegenen Haus, denn sie war Konzertpianistin und brauchte, wenn sie nicht auf Reisen war, einen Ort, an dem sie tun und lassen konnte, was sie wollte. Aus ihrer Meisterklasse waren oft Schülerinnen und Schüler bei ihr. Sie sah wie eine Balletteuse aus und hatte eine große Liebe zu allem Indischen. Meistens trug sie weite, bunte Gewänder, sie mochte nichts, das einengte. Bei ihr mußte endlich auf niemand Rücksicht genommen werden, bei Lioba Vengerowa durfte Malte auch nachmittags zwischen eins und drei und sogar mitten in der Nacht Klavier spielen. Sie ließ ihm viel Freiheit, sie vertraute seiner Begabung und seiner Disziplin. Er mußte keine Anweisungen und keine Fingersätze in seine Notenbücher schreiben. Nichts von: Tu dies, tu jenes. Über ihren heimlichen Grundsatz, nur wer das Unmögliche verlangt, kann das Bestmögliche erreichen, sprach Lioba Vengerowa selten, vor allem mit ihren besten Schülern hatte sie Geduld. Sie konnte warten.
Und Malte war mit sich selbst streng genug. Sein Ziel war das klare, ebenmäßige Spiel. Er war erst zufrieden, wenn jeder Ton scharf abgegrenzt vom anderen erklang. Manchmal war er penibler als seine Lehrerin. Im Haus von Lioba Vengerowa war es Maltes Gewohnheit, vormittags zwei Stunden lang aus dem wohltemperierten Klavier zu spielen. Danach konnte der Tag erst recht beginnen. Zwang er sich, ein Stück zu erarbeiten, das er nicht mochte, wurde ihm davon körperlich übel. Auf langen Spaziergängen analysierten sie alle Arten von Musik. Malte folgte seiner Lehrerin, die sich auch schon als Komponistin einen Namen gemacht hatte, in vielem. Sie beglückten einander mit ihrer Lust am Experimentieren. Skizzen, Improvisationen, glückliche Reminiszensen an das ganz Einfache, das doch so schwer zu machen ist. Wenn Lioba Vengerowa Chopin spielte, saß Malte stundenlang in sich versunken dabei. Ihr Spiel versetzte ihn in eine Abwesenheit, aus der er oft nur mühsam wieder zurückfand. Für ihn selbst blieb Chopin lange Zeit unspielbar, es war die Musik, die allein seiner verehrten und geliebten Lehrerin gehörte.
So wuchs Malte Olson auf.
Hermina
Hermina wurde 1921 als Hermina Kavkowá in Wien geboren. Ihre Mutter kam aus einer großbürgerlichen Wiener Familie. Ihr Vater stammte aus Prag, wo seine Eltern ein Galanteriewarengeschäft betrieben. Nähseide, Bänder, Knöpfe, Unterwäsche, Kinderkleider. Sie hatten gespart, um dem Sohn sein Mathematikstudium zu ermöglichen. Kurz vor Herminas Geburt war er zum Professor an der Universität berufen worden. Als Hermina drei Jahre alt war, bekam sie eine Schwester und ein Jahr darauf noch eine. Beide waren blond wie die Mutter. Nur Hermina hatte den dunklen Teint und die schwarzen Haare ihres Vaters geerbt. In der Familie hieß sie deshalb »’s Mohrlerl«.
Von klein auf neigte sie zu Phantastereien. Wenn sie in einer ihrer Erzählungen nicht weiter wußte, legte sie die linke Hand an den Hinterkopf und stemmte die rechte in die Hüfte. No geh scho, Mohrlerl. So stand sie dann eine Weile mit fest zugepreßten Augen da, als könne sie auf diese Weise ihre fortströmende Phantasie in den Kopf zurückrufen. Bei dem kleinen Mädchen wirkte das drollig, wie es dastand und sich besann, aber Hermina verlor diese Gewohnheit auch als Erwachsene nicht ganz.
Die Familie zählte zu den assimilierten Juden in Wien. Man hielt zwar noch an verschiedenen Gebräuchen fest, sie gingen an den Hohen Feiertagen zur Synagoge und fasteten an Jom Kippur, aber mit der Sabatruhe nahmen sie es nicht so genau, und sie hatten eine Köchin, die nicht koscher kochen konnte. Dennoch gab es einen gewissen Stolz darauf, Juden zu sein. Hermina hatte eine unbeschwerte Kindheit. Ihre Eltern waren unbekümmert und tolerant. Mit Problemen gaben sie sich nicht gerne ab. Ihr Haus stand jedem offen. Aber dann kam die furchtbare Zeit des Nationalsozialismus, die aller Sorglosigkeit ein Ende bereitete.
Trotzdem verlobte sich Hermina mit ihrer heimlichen Liebe, einem nichtjüdischen Deutschen. 1941 fiel er in Rußland. Hermina litt unsäglich. Als das Leben für die Juden in Wien immer schwieriger wurde, kam der Vater von einer Reise nach Frankreich nicht mehr zurück. Die Mutter meinte, für eine Frau mit drei Töchtern sei es doch gar nicht gefährlich. Aber Wien entledigte sich elegant seiner unnütz gewordenen Juden.
Nach der Flucht des Vaters wurde das Haus beschlagnahmt, und die vier Frauen mußten in ein enges Hinterzimmer ziehen. Die Vermieterin, eine energische Witwe, hatte ihren Mann im ersten Weltkrieg verloren. Sie hielt mit ihrer Meinung über das Nazipack, das nur Elend über alle brachte, nicht zurück. Hermina gab ihr eine Mappe mit Papieren, Briefen und Photos und legte schweren Herzens den Ring aus rötlichem Gold, den sie seit ihrer Verlobung getragen hatte, dazwischen. Durch ihre Phantasie war sie manchmal weitblickend. Tag und Nacht lebten die vier Frauen in der Angst davor, daß sie abgeholt würden. Längst getrauten sie sich nicht mehr auf die Straße. Obwohl Sommer war, litt die Mutter unter einem Husten, der sie dauernd nach Luft ringen ließ, sie konnte das Bett kaum noch verlassen.