Stall und mit zur Schule laufen. Bei jedem Wetter wartete sie vor dem Tor des Pausenhofs, bis Linda herauskam. Im Winter war sie oft völlig zugeschneit.
Natürlich war Linda die Lieblingsschülerin von Fräulein Jadow. Wenn es mit dem Stricken nicht so klappte, wurde sie zu ihr in die Wohnung im alten Schulhaus bestellt. Fräulein Jadow hatte eine Menge Bücher und einen Plattenspieler, auch Betty ging gerne hin, denn sie bekam dort ein saftiges Stück Wurst.
Wenn sich Linda auf den Weg zu Fräulein Jadow machte, hieß es immer, ach, gehst du schon wieder zu der. Einmischungen von außen konnten sie keine vertragen, da waren sich die Mutter und die Großmutter einmal einig. Manchmal verlegten sie beim Aufräumen Fräulein Jadows Bücher, so daß Linda sie weder zu Ende lesen noch zurückbringen konnte. Linda litt unter der Eifersucht der Mutter, nie durfte sie eine Freundin haben. Aber die Besuche bei Fräulein Jadow erkämpfte sie sich unter Tränen. Der Sog von draußen wurde immer stärker. Oft träumte Linda davon, zusammen mit Betty oben in der Jägerhütte zu wohnen oder ganz fortzuwandern und nie wiederzukehren, sie hätte kein Heimweh bekommen.
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Linda geht an einem hellen, kalten Februartag auf das alte Schulhaus zu. Es liegt noch viel Schnee, aber die Straßen und Wege sind geräumt. Von einem leichten Wind werden Flocken dahingetrieben, sie fallen und steigen, sie trudeln in der Sonne dahin wie Pappelsamen. In einem Stall stößt ein Bulle entsetzliche, hohe Schreie aus. Es riecht nach frischem Mist. Neben Linda trabt Betty, stolz, sie trägt in der Schnauze das Handarbeitskörbchen zu Fräulein Jadow, die sie gewiß belohnen wird. Es ist keine Schule, weil Fastnachtsdienstag ist, aber mit Fastnacht hat Lindas Familie nichts zu tun, außer daß der Vater dann Krapfen backt und mit Marmelade füllt. Er hat für Fräulein Jadow eine pralle Tüte davon mitgegeben. Linda muß aus rosa und hellblauer Baumwolle einen Waschlappen stricken, aber ihr Strickzeug ist klebrig, bretthart und voller verdrehter Maschen.
Das alte Schulhaus liegt über dem Bach auf der Winterseite, von weitem sieht es wie eine vernachlässigte Villa aus. Es wird in Lindas Leben einen wichtigen Platz einnehmen. Seit Jahren findet der Schulunterricht nicht mehr dort, sondern in einem neuen, größeren Gebäude am Ortsende statt. Die ehemaligen vier Klassenräume werden jetzt von Vereinen zu Versammlungen benutzt, auch der Kirchenchor probt gelegentlich darin, und im Saal gleich links unten ist provisorisch die von Fräulein Jadow betreute Bibliothek untergebracht.
Unter dem Dach befinden sich zwei Wohnungen für Lehrer, in der einen wohnt Fräulein Jadow, die andere steht leer, weil die Gemeinde ungewisse Pläne mit dem Haus hat, das gründlich renoviert werden müßte. Zu dem Gebäude gehört ein mit einer hohen, gelben Mauer umgebener Garten, der verwildert ist, dieselbe Mauer begrenzt auch den Schulhof, in dem noch das Nebengebäude mit den Plumpsklos für die Schüler steht.
Fräulein Jadow hat für Linda Kakao gekocht. Trotz des sonnigen Tages ist es in dem Wohnzimmer dämmrig. Fräulein Jadow sitzt mit dem Strickzeug dicht beim Fenster. Beim besten Willen ist da nichts mehr zu machen, sie zieht es vollständig auf und schlägt neue Maschen an.
Wie schön still es hier ist. Keine Ladenglocke, kein Telephon. Bei Fräulein Jadow kann Linda gemütlich und vornehm im Sessel sitzen, und niemand verlangt etwas von ihr. Nachdem sie den Kakao ausgetrunken hat, darf sie eine Schallplatte auflegen. Sie sucht die Musik nach der Hülle aus, die ihr am besten gefällt. Lange zögert sie zwischen einem bunten Operettenchor und einem weißhaarigen Mann, der an einen Flügel lehnt. Arthur Rubinstein. Schließlich ertönt das erste Klavierkonzert von Beethoven. Das ist Musik. Fräulein Jadow schließt die Augen. Leuchtend wie der Tag heute, sagt sie und freut sich, weil das Kind die Schuhe auszieht und anfängt, sich zu bewegen. Ein Kätzchen, das nicht weiß, was es tut.
Fräulein Jadow selbst spielt Geige, wären die Zeiten damals besser gewesen, hätte sie wahrscheinlich Musik studiert, anstatt auf das Lehrerseminar zu gehen. Schon lange wollte sie mit Lindas Vater reden, der vernünftig schien, sie würde ihm anbieten, Linda kostenlos Unterricht zu geben.
Musik wird Linda immer veranlassen, ihr Leben stärker zu lieben, heftiger zu wünschen, freudiger zu geben und sich zu verschwenden. Wenn ich groß bin, werde ich Tänzerin, sagt Linda mit Gewißheit zu Fräulein Jadow, die für den Waschlappen zuerst die hellblaue Wolle verarbeitet. Und immer wird Linda jemanden finden, der für sie zuständig ist und ihr hilft, und sie läßt sich helfen.
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Der lieb Gott het zuem Früehlig gsait:
»Gang, deck im Würmli au sy Tisch!«
Druf het der Chriesbaum Blätter trait,
viil tausig Blätter, grüen un frisch.
Fräulein Jadow hatte keine Probleme, als sie die Kinder in ihrer vierten Klasse »Das Liedlein vom Kirschbaum« von Johann Peter Hebel lesen ließ. Sie benötigten die Fußnoten im Lesebuch nicht. Schier unmöglich war es jedoch für Fräulein Jadow, ihnen das beizubringen, was sie selbst für hochdeutsch hielt.
Der lieb Gott het zuem Winter gsait:
»Deck waidli zue, was übrig isch!«
Druf het der Winter Flocke gstreut,
viil tausig Flocke, wyß un frisch.
Bei Linda zu Hause wurde auch mit den oftmals ratlosen Feriengästen unbefangen Dialekt gesprochen. Erst durch das Radio und dann erst recht durch das Fernsehen fing die Familie an, sich vor Fremden ein wenig tölpelhaft zu fühlen mit ihren Wörtern. Manchmal, wenn sie sicher war, daß es niemand hörte, sprach Linda mit Betty wie die Fernsehansagerin, für die sie schwärmte. Und heute Abend zeigen wir Ihnen die klügste Hündin der Welt im Zirkus Krone bei ihren einmaligen Kunststücken. Wir wünschen Ihnen eine gute Unterhaltung. Auch durch den Einfluß des Lehrerehepaares aus dem Rheinland und durch Fräulein Jadow, die ihre Kindheit jedoch in Dresden verbracht hatte, wurde Linda schon früh so etwas wie zweisprachig. Sie verfügte zumindest über eine zweite, eine abgemilderte Version ihres Dialektes. Aber sie mußte Eisenschuhe tragen und hätte doch gerne getanzt. Wer anders sprach als sie, beeindruckte sie unwillkürlich und erschien ihr klüger, besser, gewandter, so daß sie manchmal mitten in einem Satz hilflos verstummte.
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Keiner kann aus sich selbst heraus. Vielleicht ist es wirklich so: Wie einem ein bestimmter Körper mit all seinen Eigenschaften gehört, besitzt man auch einen bestimmten Charakter. Er ist der Panzer, der nach außen schützt und der zugleich unbeweglich macht. Man ist eingeklemmt zwischen Körper und Charakter. Linda konnte bezaubern, ein Machtgefühl beglückte sie, wenn sie spürte, daß sie andere für sich einnahm. Früh zeigte sich bei ihr eine Neigung, nicht eigentlich zur Theatralik, aber doch zu einer theatralischen Gestimmtheit. Sie hatte Distanz und war neugierig darauf, wie es weitergehen würde für sie.
Mit der Frage nach dem Sinn aller Dinge wurde Linda selbst ihre Erwartungshaltung zunehmend bewußter. Wer eine Sechs würfelt, darf alle anderen überholen. Sie dachte, ihr würde ein Lebensauftrag zugeteilt oder wenigstens ein Zeichen gegeben, dem sie dann zu folgen hätte. Oft konnte sie nicht einschlafen, und sie sinnierte darüber, mit welchem Menschen sie bald ihr Leben teilen würde. Nur durch eine Heirat könnte sie das Elternhaus verlassen. Früh sah sie ihre Kindheit als etwas an, das abgeschlossen war, sie wollte nicht mehr Kind sein, immer sehnte sie sich fort. Wo lebt er jetzt, wie sieht er aus. Was tut er eben in diesem Augenblick, wo ich das denke? Sie glaubte an ein Paradies auf Erden und wollte sich auf die Suche danach machen.
Nach den Osterferien, bevor Linda elf Jahre alt wurde, wechselte sie von der Volksschule zum Mädchengymnasium nach Bad Hohenbirch. Fräulein Jadow hatte sich dafür eingesetzt, und der Vater wurde nicht müde, nun von seiner »höheren Tochter« zu sprechen. Tagelang siezte er sie vor Begeisterung und fuhr sie morgens mit dem Auto zur Schule, denn wenn sie den Bus nahm, mußte sie schon um sechs Uhr aufstehen. Sie fing mit Latein an, und es war nicht so, daß ihr die Umstellung leicht fiel. Sie blieb während der ganzen Schulzeit eine mittelmäßige Schülerin, nur in Deutsch war sie immer die beste.
Im gleichen Sommer kündigte der Geselle unerwartet, und für Linda, die ihr Bett noch immer im Schlafzimmer bei den Eltern stehen hatte, wurde das Mansardenzimmer renoviert. Bald waren die Wände mit Holz verschalt und weiß gestrichen, eine elektrische Heizung