Andrea Ross

Operation Terra 2.0


Скачать книгу

könnten wir euch ein einfaches Zweimannzelt ausleihen. Unsere erwachsene Tochter hat es mittlerweile vorgezogen, mit ihrem neuen Freund in dessen Behausung zu nächtigen. Wie lange wollt ihr bleiben?«

      »Ein paar Tage, mehr nicht«, antwortete Kalmes. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie das Treiben im Dorf. Jeder Einwohner schien irgendeiner Arbeit nachzugehen, man scherzte und half sich gegenseitig. Manche winkten den seltsam gekleideten Neuankömmlingen freundlich zu.

      »Der Kibbuz hier wird gemeinsam bewirtschaftet. Er trägt sich ausschließlich aus seinen landwirtschaftlichen Gewinnen. Wir bauen vor allem Orangen, Avocados und Grapefruits an, betreiben außerdem Austausch mit einer weiteren landwirtschaftlichen Genossenschaft, die andere Früchte kultiviert. Die Erwachsenen der festen Einwohner leben in kleinen Häusern wie diesem da.« Er deutete auf ein winziges, einfach gehaltenes Gebäude.

      »Und die Kinder?«

      »Die sind Tag und Nacht im separaten Kinderhaus untergebracht. Sie leben dort und werden unterrichtet. Sofern sie nicht bei der Ernte helfen oder zum Spielen draußen sind, heißt das. Ihre Eltern sehen sie nur stundenweise, oder zumindest beim Essen im Speisesaal.«

      »Eine sinnvolle Einteilung«, lobte Kalmes und warf Solaras vielsagende Blicke zu. Sie hatte längst erkannt, dass hier gewisse Parallelen zum tiberianischen System erkennbar waren, insbesondere zur Sektion Landwirtschaft und Versorgung. Vielleicht war Terras Bevölkerung ja mittlerweile doch zur Vernunft gekommen. Sie fragte sich allerdings, wozu in diesem Fall das sogenannte Taschengeld dienen sollte.

      »Habt ihr Pässe dabei?«, fragte der hünenhafte Bär, als sie die Registrierstelle erreicht hatten.

      Kalmes erschrak. »Äh … nein, leider … die müssen wir vergessen haben.«

      David schien für einen Augenblick zu stutzen. Dann hellte sich seine Miene wieder auf, und er lachte: »Ah, ihr nehmt es mit dem Aussteigen aber ziemlich ernst, hä? Nun gut … dann muss es eben ausnahmsweise ohne Papiere gehen.«

      Eine junge Frau fragte sie nach ihren Namen und wunderte sich, dass die Neuen offenbar nur die Vornamen nennen wollten. Und die waren reichlich merkwürdig, auch wenn die Tiberianer vorsichtshalber die Ortsund Zeitkennung ihrer Geburt wegließen. Es verbot sich natürlich, die alte terrestrische Identität zu verwenden. Beide ahnten, dass es eine Reihe von Fragen aufwerfen würde, falls man sich als Jesus von Nazareth und Maria Magdalena ausgäbe.

      »Ihr seht mir nicht aus, als wärt ihr zu Verbrechen fähig«, sagte die junge Dorfbewohnerin abschließend. »Ich respektiere, dass ihr inkognito hier leben wollt. Aber seid gewiss – sollte sich doch herausstellen, dass ihr vor irgendwem auf der Flucht seid, müsst ihr sofort gehen. Wir würden euch auch den Behörden ausliefern, damit in unserer Gemeinschaft der Frieden und die Sicherheit gewahrt bleiben.«

      »Nein, wir haben hier auf Terra … äh, der Erde … keinerlei Feinde oder Behörden, die uns verfolgen würden«, bemerkte Solaras diplomatisch. Er hasste Lügen, aber in dieser Version entsprach der Satz der reinen Wahrheit.

      Das Mädchen namens Esther nickte, scheinbar gab sie sich mit dieser Auskunft zufrieden.

      »Jetzt zeige ich euch noch die Ställe und das Museum. Ihr nehmt das Mittagessen mit uns ein – und dann frisch ab an die Arbeit«, lachte David und zeigte dabei zwei Reihen blendend weißer, kerngesunder Zähne. Kalmes registrierte es mit Erstaunen, denn vor zweitausend Jahren hatte nahezu niemand in diesem Alter ein vollständiges Gebiss besessen. Natürlich, auf Tiberia mit seiner vorbildlichen Gesundheitsversorgung, da war das normal …

      »Dieser Kibbuz wurde 1943 gegründet und nach dem Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto benannt. Der hieß Mordechai Anielewiecz. Mit diesem Museum hier bleibt die Erinnerung an die grausamen Verbrechen des Nationalsozialismus im Gedächtnis unseres Volkes erhalten, ebenso der außerordentliche Mut von Mordechai«, erklärte David. Er deutete auf ein hässliches graues Gebäude, das von einer blühenden Parkanlage umgeben war.

      Solaras verkniff sich die Frage, was bitteschön ein Museum sei. Er fragte sich, wieso ausgerechnet dieses Gebäude so groß war und dermaßen scheußlich aussah. Kalmes wiederum bemerkte desinteressiert: »Da möchte ich lieber nicht hineingehen. Es wirkt abweisend und düster.«

      »Das möchte ich meinen«, grinste David. »Und das mit voller Absicht. Was damals geschah, dürfen wir niemals vergessen. Es ist nicht zu fassen, dass es immer noch Menschen gibt, die den Holocaust an den Juden leugnen.«

      Als ihr Begleiter einen kurzen Plausch mit einem vorüber kommenden Dorfbewohner hielt, raunte Kalmes Solaras zu:

      »Da hast du es wieder! Wegen unserem fatalen Fehler mit diesem Adolf Hitler baut man noch Jahrzehnte danach finstere Häuser, in die man ebenso finstere Erinnerungen sperrt. Das Eingreifen unseres Volkes in die Geschichte Terras hat nachhaltige Spuren hinterlassen, nicht nur in Bezug auf Religion.«

      Er nickte nur achselzuckend.

      *

      Nach ein paar Tagen wagte es Solaras, David nach der Sperranlage zu fragen, die sich ganz in der Nähe befand.

      »Der Grenzzaun? Das fragst du doch nicht im Ernst, oder? Woher kommst du nur, dass du nicht einmal vom Gazastreifen wissen willst?«, wunderte sich der Einheimische.

      »Ich komme aus der Gegend um Nazareth. Und natürlich weiß ich vom Gazastreifen. Mir war nur nicht bewusst, dass die Grenze hier so nah ist«, seufzte Solaras schwitzend. »Etwas theoretisch zu wissen ist das Eine – aber etwas ganz anderes, wenn man dann persönlich davorsteht und die Grenze mit eigenen Augen sieht.«

      »Ah, na dann«, lachte David. »Manch einer von uns würde gerne verdrängen, dass es seit vielen Jahrzehnten diesen bewaffneten Konflikt um Siedlungsgebiete und ein eigenständiges Palästina gibt. Und doch ist es Fakt, mein Lieber. Jenseits des Zauns leben immerhin fast zwei Millionen Menschen. Wir blenden die unangenehme Tatsache weitgehend aus, dass dort eine islamistische Terrororganisation an der Macht ist. Sieh doch, was für ein schönes, friedliches Fleckchen Erde wir hier bewirtschaften!«

      »Das stimmt. Du, sag mal … Kalmes und ich kommen uns in dieser Kleidung nun doch etwas merkwürdig vor. Das ist mehr so die Art von Mode, die Jesus einst getragen hat – nehme ich jedenfalls an. Wir haben leider nichts anderes mitgenommen. Könntest du uns mit alten, getragenen Sachen aushelfen?«

      »Aber klar, ich treibe schon etwas Passendes in eurer Größe auf! Die Klamotten gibst du mir einfach zurück, wenn ihr geht. Bis dahin könnt ihr euch eigene Kleidung für die Heimreise leisten, sofern ihr euer Taschengeld aufspart.«

      Auf dem Rückweg von der Orangenplantage trafen sie auf Kalmes, die am Busparkplatz vor dem MordechaiMuseum vor einer Landkarte stand. David verabschiedete sich mit dem Hinweis, dass er noch die Ziegen füttern müsse.

      »Hast du die kunterbunten Fahrzeuge gesehen? Ich glaube, die fertigen sie aus Metall. Sie stinken, hinten kommt Rauch aus einem Rohr. Ich hätte bislang geglaubt, dass die Terraner die Magnettechnik bereits beherrschen. Wie es aussieht, habe ich mich wohl geirrt. Und schau mal hier … auf dieser Tafel kann man sehen, wo man sich befindet. Also … wir stehen da, und dort vorne läuft eine große Straße vorbei. Die führt zu zwei größeren Ortschaften, die direkt am Meer liegen. Sie heißen Aschkelon und Aschdod. Dorthin könnten wir weiterziehen, sobald wir hier genügend Kenntnisse über das heutige Terra erworben haben.«

      »Aber die Fahrzeuge sind alle versperrt, man kann nicht einfach einsteigen und losfahren. Ich habe es gestern ausprobiert. Scheinbar besitzt hier jeder Mensch sein eigenes, und sie stehen der Allgemeinheit nicht zur Verfügung«, gab Solaras zu bedenken.

      »Ich weiß. Doch ab und zu kommt ein größeres Fahrzeug hierher, eines mit vielen Sitzplätzen. Jeden Tag mehrmals, immer zu denselben Zeiten. Vielleicht könnten wir dort mitfahren. Wir sollten David danach fragen«, schlug Kalmes vor.

      *

      Ende November 2016 wussten Solaras und Kalmes über so manches Detail Bescheid. Sie hatten beschlossen, sich in einen sogenannten Omnibus zu setzen und sich von diesem über die Küstenstraße Nummer 4