kam es, dass Solaras und Kalmes ihre Liebe im Verborgenen leben mussten. Aber sie gingen wenigstens gemeinsam durchs Leben, was auf ihrem Heimatplaneten völlig undenkbar gewesen wäre. Und das war es, was zählte.
Terra, 18. Dezember 2021 nach Christus, Samstag
eutschland gab den mittlerweile bestens integrierten Flüchtlingen von Tiberia immer noch einige Rätsel auf. Sie lebten nun schon seit drei Jahren in einer eigenen,
kleinen Sozialwohnung in KölnDeutz. Solaras arbeitete an der Kasse einer Großtankstelle Schicht. Kalmes war Küchenhilfe, schnippelte in Teilzeit Gemüse für ein angesagtes Restaurant nahe der Domplatte. Ab und zu half sie im Service aus.
Beide hatten die deutsche Gründlichkeit und Zuverlässigkeit schätzen gelernt, haderten jedoch mit ihrer beruflichen Unterforderung. Potentielle Arbeitgeber pochten auf Zeugnisse und Referenzen, sobald es um besser bezahlte Jobs ging, anstatt auf Lebenserfahrung oder probeweises Arbeiten zu setzen. Der Konkurrenzkampf unter den Bewerbern erschien gnadenlos. Alles in Deutschland war streng reguliert, fast wie auf ihrem Heimatplaneten, und die Tiberianer mussten sich wohl oder übel den Gegebenheiten beugen.
Besonders schwer fiel es Kalmes und Solaras naturgemäß, ihre Biografie glaubhaft darzustellen. Sie mussten eine berufliche Laufbahn in Syrien erfinden – ohne dafür Nachweise vorlegen zu können – und vor allem die lange Zeitspanne verschweigen, die sie auf dem fernen Tiberia zugebracht hatten.
Da blieb nichts übrig, was man als Berufserfahrung hätte ins Feld führen können. Der Sachbearbeiter im Jobcenter hatte für die hochmotivierten Flüchtlinge daher nur Billiglohnjobs auftreiben können, obwohl sie in Rekordzeit Deutsch gelernt hatten.
»Was ist, wollen wir jenen seltsamen Brauch mit den Weihnachtsbäumen heuer mitmachen? Ich finde den heimeligen Anblick so hübsch«, fragte Kalmes beim Frühstück an einem Samstagmorgen.
»Du willst einen Weihnachtsbaum … obwohl du weißt, dass der Kult um dieses Fest völliger Schwachsinn ist? Angeblich wird an Weihnachten meine Wiedergeburt auf Terra gefeiert und deswegen eine Geschenkeschlacht veranstaltet. Aber was bitte sollten Tannenbäume damit zu tun haben? Die gab und gibt es in Galiläa überhaupt nicht! Eine einzige Heuchelei ist das. Drei Tage lang Friede, Freude, Eierkuchen – obwohl es hinter den Festtagsfassaden gehörig brodelt. Und wieso feiert man das Fest im Dezember, wenn ich doch im März geboren bin?«
Kalmes musste lachen. Der Gedanke, dass man hier auf Terra in Wirklichkeit ihren außerirdischen Lebensgefährten feierte ohne zu ahnen, dass er gerade unter ihnen weilte, amüsierte sie. Jesus von Nazareth alias Solaras alias Raschid alHaruni oder Joshua Goldberg konnte wahrlich als multiple Persönlichkeit gelten.
»Ach, sieh das doch nicht so eng. Die Menschen biegen sich immer und überall alles so zusammen, wie sie es gebrauchen können. Da vermag man schon mal alte Bräuche mit neueren Religionen zu mixen. Es geht mir persönlich um die Optik, ich mag eben Bäume.«
»Na schön, wenn du Wert darauf legst. Wir müssen beim Kauf nur genau darauf achten, dass sich keine dunkelhaarigen Männer mit Rucksäcken in der Nähe aufhalten. Ich habe gehört, dass es einige Selbstmordattentate an Orten gegeben hat, die mit Weihnachten zu tun hatten. Zum Beispiel letztes Jahr, auf dem Frankfurter Weihnachtsmarkt. Da hat die Detonation sogar jede Menge unschuldiger Kinder erwischt.«
»Stimmt, wir sind besser vorsichtig. Doch schwarzhaarige Menschen zu umgehen, wird zunehmend schwieriger. Dieses Land quillt vor Migranten aus dem Nahen Osten über. Blonde, hellhäutige Typen haben bereits Seltenheitswert, auch weil sich die Rassen vermischen und das Dunkle genetisch meist dominiert. Ich finde das übrigens ein bisschen schade. Dabei geht Vielfalt verloren, die die Evolution über Jahrtausende hinweg aufgebaut hat.«
»Haarfarben und Hautpigmente sind aber noch das geringste Problem, das ich damit habe. Für mich ist es hart mitanzusehen, was aus meiner und Mohammeds Lehre geworden ist. Mein Lebenswerk wird da mit Füßen getreten. Auch scheinen die beiden Religionen keineswegs kompatibel zu sein, obwohl sich Koran und Bibel in wichtigen Punkten kaum unterscheiden. Von Bombenattentaten, Weihnachtsgänsen, Lichterbäumen und Kopftüchern oder gar Burkas steht jedenfalls nichts in den Heiligen Büchern«, sagte Solaras betrübt.
»Das ist richtig. Aber wir müssen nach vorne sehen, dürfen nicht ständig auf Vergangenes zurückblicken und uns grämen. Hast du dich schon entschieden, welcher Sternwarte wir die Aufzeichnung auf unserem Holographen vorführen werden? Das sollten wir gleich zu Beginn des neuen Jahres in Angriff nehmen. Inzwischen sprechen wir schließlich beide gut genug
Deutsch, um Zusammenhänge erklären zu können.
Auch wenn wegen Alannas fatalem Hang zu Intrigen nicht vollständig sicher ist, ob wirklich bald ein Asteroid auf Terra einschlagen wird oder das Ganze nur meisterlich inszeniert war – wir müssen die Bevölkerung zumindest warnen. Es ist in jedem Fall angezeigt, Vorkehrungen für einen solchen Fall zu treffen. Das Weltall ist voll von vagabundierenden Brocken. Alles nur eine Frage der Zeit, wann sich einer von ihnen hierher verirren wird. Diese Gefahr unterschätzt man auf Terra bis dato noch.«
»Ein wahres Wort. Mit ein bisschen Glück werden die Astronomen erkennen, was an Fachkenntnissen in mir steckt. Und dann ade, Tankstelle. Ich habe im Internet recherchiert und würde am liebsten zum LeibnizInstitut für Astrophysik in Potsdam fahren. Die unterhalten mehrere Observatorien und sind Partner von Einrichtungen in Arizona, Teneriffa und der Antarktis. Das Institut forscht auf den Gebieten Astronomie und Astrophysik. Ich bin Wissenschaftler mit Leib und Seele, und als solcher würde ich mich endlich gerne wieder betätigen.«
*
Kalmes drehte sich vor dem Spiegel, betrachtete kritisch ihr Abbild. Wie fremdartig ihr das leuchtend sonnengelbe Gewand inzwischen doch vorkam! Solaras, der
sich ebenfalls in die traditionelle tiberianische Tracht geworfen hatte, erging es ähnlich.
»Wie gut, dass man jetzt im Januar auf Terra Mantel tragen muss. Wir würden sonst wohl auf der Straße ziemlich auffallen«, lachte der in Blau gekleidete Wissenschaftler.
»Stimmt. Aber glaubst du wirklich, dass unsere Gewänder die Story, die wir den Astronomen in Potsdam auftischen werden, glaubhafter erscheinen lassen?«, zweifelte Kalmes.
»Einen Versuch ist es wert. Eigens zu diesem Zweck haben wir sie ja mit auf unsere abenteuerliche Schlauchbootfahrt genommen, nicht wahr? Außerdem fühle ich mich so selbstsicherer, wieder mehr wie ein anerkannter Wissenschaftler.
Aaron und Levi hat einst die Ausstrahlung des Holographen tief beeindruckt, sie haben uns geglaubt. Wissenschaftler müssten eigentlich erst recht sehr daran interessiert sein, ihre rudimentären Kenntnisse über das Weltall zu erweitern und dankbar brisante Informationen von waschechten Außerirdischen anzunehmen. Unser andersartiger Blickwinkel auf dieses Sonnensystem müsste sie über die Maßen faszinieren. Ach, es wird schon gut gehen.«
»Das hoffe ich sehr.«
Es sollte bedauerlicherweise ganz anders kommen. Schon bei der Ankunft in der Sternwarte gab es die ersten Schwierigkeiten. Man wollte sie nicht ohne weiteres zum Leiter der Einrichtung vorlassen, sie borniert mit der Bemerkung abspeisen, sie sollten sich per EMail mit der für Presseund Öffentlichkeitsarbeit zuständigen Dame in Verbindung setzen. Es war nur Solaras‘ Hartnäckigkeit zu verdanken, dass sie am Ende doch noch bei der Sekretärin des Wissenschaftlichen Vorstandes ihre Bitte um einen Gesprächstermin vortragen durften.
»Wir sind extra aus Köln angereist. Er wird doch eine halbe Stunde für uns erübrigen können? Es geht um eine Entdeckung globaler Tragweite«, bemerkte Solaras trocken.
Die Dame blickte säuerlich drein, wirkte desinteressiert. »Wir haben hier öfters mit Hobbysternguckern zu tun, die meinen, einen neuen Himmelskörper entdeckt zu haben. Da wären Sie beileibe nicht der erste!«
Solaras zog den Holographen aus dem Stoffbeutel. »Um so etwas geht es doch gar nicht. Auf diesem Gerät befindet sich die Simulation eines Asteroideneinschlags