Andrea Ross

Operation Terra 2.0


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fielen lockere Dachziegel zu Boden.

      Furcht machte sich in der Bevölkerung breit. In den Nachrichtensendungen diskutierten sich renommierte Seismologen die Köpfe heiß, ob die jüngste Serie von Schwarmbeben und die sechs stärkeren Ereignisse mit einer Magnitude zwischen 3,1 und 4,7 auf der Richterskala seit vergangenem Freitag als Vorboten von etwas weitaus Schlimmerem zu bewerten seien. Manch ein Bewohner Neapels überlegte bereits, ob er seine Familie aus der bedrohten Stadt schaffen sollte.

      Unter solchen Umständen erinnerten sich die Leute schlagartig daran, dass man eigentlich in einer brandgefährlichen Gegend lebte. Direkt am westlichen Stadtrand begannen die Phlegräischen Felder, eine Gegend von rund hundertfünfzig Quadratkilometern Durchmesser mit extrem hoher vulkani scher Aktivität, die sich unterseeisch bis zu den Inseln Ischia, Procida und Nisida fortsetzte. An Land gab es Thermalquellen und Fumarolen, giftige Schwefeldämpfe stiegen an zahlreichen Stellen auf und färbten das Gestein gelb. Die bestens erhaltenen Ruinen von Pompeji legten ein beredtes Zeugnis davon ab, wozu der Vesuv fähig war.

      Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts war durch ein internationales Konsortium von namhaften Vulkanologen festgestellt worden, dass der aktive Vulkan und die besagten Phlegräischen Felder eine gemeinsame Magmakammer besaßen, deren gewaltiger Umfang das gesamte Gebiet zu einem sogenannten Supervulkan machte. Seit dem Jahr 2012 hatten die Forscher zudem verstärkte unterirdische Aktivitäten festgestellt, weshalb der italienische Zivilschutz die Warnstufe für das Gebiet dauerhaft erhöht hatte.

      Bis vor ein paar Wochen hatte diese Tatsache niemanden in besonderem Maße geängstigt. Die mehr als eine Million Neapolitaner lebten seit Generationen mit der abstrakten Gefahr, sie liebten ihre Stadt über alles. Doch nun, da die Erdbeben den Boden unter ihren Füßen schwanken ließen, erinnerten sie sich unangenehm an die Schauergeschichten ihrer Großeltern, die im Jahr 1944 einen leichteren Ausbruch des Vesuvs miterleben hatten müssen. Seither schlummerte der trügerische Feuerberg, zierte das Panorama der Postkarten Neapels. Kündigte sich nun eine neue Phase der Aktivität an?

      Man benötigte eine Vorwarnzeit von mindestens zwei Wochen, um sämtliche Einwohner des dicht besiedelten Gebietes im Rahmen des Il Programma Vesuvìa – la scelta possibile zu evakuieren. Touristen aus aller Herren Länder, die beim entspannten Stadtbummel die PiktogrammSchilder zur Markierung der Fluchtwege entdeckten, verspürten meist kribbelnde Schauder, die ihnen die Wirbelsäule entlang liefen – und vergaßen dieses beunruhigende Gefühl der latenten Gefährdung gleich wieder, sobald sie sich bei strahlendem Sonnenschein und einem lauen Sommerlüftchen in einem der vielen Straßencafés niederließen. Jedenfalls war das bis zu jener Woche im Juli 2028 so gewesen.

      Zum Zeitpunkt des neuerlichen Erdbebens befanden sich auch Solaras und Kalmes in Neapel. Sie warteten am Bahnhof Napoli Centrale auf den Nachtzug, der sie in rund einer halben Stunde über Rom zurück nach Deutschland befördern sollte.

      Seit sich die Simulation des zu erwartenden Asteroideneinschlags mit Rainald Hemmauers Hilfe über YouTube, Instagram und ähnliche Plattformen im Netz verbreitete, wurden die beiden ehemaligen Tiberianer gelegentlich von Sternwarten zu Gesprächen eingeladen. Meist allerdings leider nicht, weil die dort arbeitenden Astronomen der Warnung vor dem Asteroid Glauben schenken wollten, sondern weil sie die tolle Machart des wirklichkeitsgetreuen 3DFilms brennend interessierte. Wie schon damals in Potsdam, so konnte man sich auch andernorts eine Verwendung dieser Technik für Seminare und Kurse für Studenten vorstellen.

      Insgesamt fiel das Echo im Internet bislang frustrierend aus. Jede Menge abgedrehte Endzeitjünger, selbst ernannte Katastrophenpropheten und andere Spinner kontaktierten Solaras und Kalmes, nur die wenigsten Zuschriften waren ernst zu nehmen. Als die schriftliche Anfrage des Osservatorio Astronomico di Capodimonte Napoli aus Italien gekommen war, hatte Solaras achselzuckend zu seiner Gefährtin gesagt:

      »Komm, lass uns einfach hinfahren. Italien muss wunderschön sein zu dieser Jahreszeit. Ich gebe die Hoffnung immer noch nicht auf, dass ich in solch einer Einrichtung einen Job finden könnte. Es muss doch zwei, drei Leute geben, die mich als Wissenschaftler gebrauchen könnten, meinen Wert erkennen. Ich habe es längst satt, dauernd nur schlecht bezahlte Hilfsjobs anzunehmen. Warum sind den Terranern nur Papiere so immens wichtig? Ich wollte, mich würde mal jemand auf die Probe stellen, anstatt wichtigtuerisch Zeugnisse und Referenzen zu verlangen.«

      Diese Hoffnung hatte sich auch auf dem Capodimonte nicht erfüllt. Dennoch, bis zu den beängstigenden Erdstößen vor einigen Minuten hatten sie den Trip nach Kampanien in vollen Zügen genossen.

      »Hast du gesehen? An der Säule vor uns hat sich ein Riss gebildet. Es kam Staub von der Decke. Solaras, mir wäre lieber, wir würden im Freien auf dem Bahnhofsvorplatz warten. Es ist ja noch Zeit bis zur Abfahrt«, sagte Kalmes beunruhigt. Ihr Blick schweifte prüfend umher.

      »Falls der Zug überhaupt noch fährt. Wir wissen nicht, ob bei dem Beben Gleise beschädigt wurden. Es war ganz schön heftig«, sinnierte Solaras voller Sorge.

      In einem Pulk von weiteren, mehr oder weniger stark aufgeregten Fahrgästen strömten sie auf die Piazza Giuseppe Garibaldi hinaus. Man diskutierte gestikulierend, mutmaßte und fürchtete sich.

      Plötzlich sorgte ein ohrenbetäubender, dumpfer Schlag, der die gesamte Stadt erzittern ließ, für banges Innehalten.

      »Um Himmels willen, was war das denn?«, wisperte Kalmes erschrocken. Sie war im Gesicht kreidebleich geworden. Aller Augen richteten sich nach Südosten. Hochhäuser verstellten den Blick; die Einheimischen wussten jedoch sehr genau, dass dort der Vesuv über der Stadt thronte. Sirenengeheul ertönte, es kam augenblicklich Bewegung in die Massen.

      Den FluchtwegMarkierungen zum Trotz, liefen die Leute in ihrer Panik wild durcheinander. Die einen wollten zu Hause nach ihren Lieben sehen, andere wiederum zur nächstbesten Ausfallstraße gelangen, nur möglichst weit weg vom Feuerberg. Innerhalb weniger Minuten bildete sich auf den Straßen eine unüberschaubare Blechlawine, die kein Fahrzeug mehr vorankommen ließ. Überall krachte Metall aufeinander. Niemand wusste, was da genau vor sich ging, nur dass sich etwas Katastrophales ereignet haben musste. Die Menschen in den Orten Ottaviano, Torre del Greco, San Giuseppe Vesuviano und San Giorgio a Cremano hingegen wurden zu unfreiwilligen Zeugen, wie der in der Magmakammer des Vulkans über die Jahre stetig angewachsene Druck den Pfropfen aus Gestein und erkalteter Lava durch den Vulkanschlot heraus schleuderte. Die gesamte Spitze wurde weggesprengt.

      Danach stieg eine Eruptionssäule aus heißem Wasserdampf, Kohlenstoff und vulkanischem Auswurf über dem Kegel auf. Das 750 Grad heiße Magma spritzte mit Überschallgeschwindigkeit aufwärts, schwarze Lavabomben schlugen mit zweihundert Stundenkilometern in der Umgebung ein. Danach blies ein Gasstrahl das fein zerriebene Gestein der glühenden Schlotwände bis hinauf in die Stratosphäre. Der mäßig starke Wind trug leichtere vulkanische Produkte nach Südosten. Ein dichter Niederschlag aus Asche und Bimssteinen fiel auf die Häuser der umliegenden Ortschaften, tauchte die Landschaft in düsteres Grau.

      Solaras und Kalmes stiegen geistesgegenwärtig in ein Taxi.

      »Aus der Stadt, aber auf schnellstem Weg!«, kommandierte Solaras keuchend.

      Der ältere Mann starrte nur teilnahmslos aufs Armaturenbrett, schüttelte immer wieder den roten Kopf. Er schwitzte stark, hyperventilierte. Draußen hallten Schreie der Verzweiflung durch die Straßen. Er stand wohl unter Schock.

      »Haben Sie nicht gehört, was ich sagte? Sie sollen losfahren!«, schrie Solaras. Kalmes kauerte sich im Fond zusammen und wimmerte vor Angst.

      Endlich drehte der Fahrer mit irrem Blick den Zündschlüssel, lenkte das Fahrzeug mit hektischen Bewegungen in Richtung der Ausfahrt. Doch dort war kein Vorwärtskommen. Ein Auto reihte sich an das andere, nahezu jedes hupte. Alle wollten nach Westen, weg vom Vulkan. Sie konnten ja nicht ahnen, dass genau dort, in den Phlegräischen Feldern, aus mehreren Eruptionsherden ebenfalls grell leuchtende Feuerfontänen gen Himmel stiegen. Die Ortschaft Pozzuoli war bereits verloren.

      Solaras sprang kurz entschlossen aus dem Taxi, zog seine Begleiterin vom Rücksitz. Er packte ihre Hand, begann zu rennen. »Es hat keinen Sinn, wir müssen zu Fuß fliehen! Uns wird nur wenig Zeit bleiben, die Stadt zu verlassen,