Andrea Ross

Operation Terra 2.0


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wir den Aufruf vermutlich nicht einmal mitbekommen. Morgen früh vereinbare ich bei der halbstaatlichen Sondierungsbehörde einen Termin zur Antragstellung für uns beide. Einverstanden?«, freute sich Swetlana.

      »Einverstanden«, nickte Philipp, während ein riesiger Schokoriegel durchs Wohnzimmer zu schweben schien. Er drehte sich um sich selbst. Mars, stand auf der metallicbraunen Umhüllung zu lesen.

      

       Tiberia, KINZeit: KINZeit: 13.5.15.16.6, Donnerstag

      

      Der Vorderste der Sektion Archiv, Geschichte und Schrift strich mit dem rechten Zeigefinger nachdenklich über das Relief einer Schreibfeder, die auf dem Deckel sei nes Kommunikators angebracht war. Er und sein heiß geliebter Schreiber Zamor taten sich regelmäßig schwer damit, die gesammelten Dokumentationen von Terra psychisch zu verarbeiten. So auch heute.

      Seit einigen Wochen waren sie dabei, die Ereignisse auf Terra seit dem Jahr des ersten bemannten Marsflugs 2023 zu sichten. Die umfangreiche Tätigkeit kostete jede Menge Zeit und Nerven. Sie war jedoch unabdingbar. Erstens konnte man aus der wechselhaften Geschichte einer parallel existierenden menschlichen Zivilisation wertvolle Lehren ziehen und zweitens erkannte man so die signifikanten Momente, in denen es ratsam erschien, auf Terra rückwirkend in das Geschehen einzugreifen.

      Regentin und Vorderste Alanna, der Arden in regelmäßigen Abständen Bericht erstatten musste, war trotz einiger Fehlschläge bei solchen Eingriffen immer noch felsenfest der Meinung, dass man ein wachsames Auge auf jene unbedarften Brüder und Schwestern haben müsse, die demnächst zu direkten Nachbarn des tiberianischen, bald wieder marsianischen Volkes werden würden. Am liebsten hätte sie im Nachhinein die ersten Schritte der Terraner auf dem Mars ungeschehen gemacht, die AuroraMission sabotiert, doch sie ahnte, dass diese Manipulation den Griff nach dem Mars höchstens aufgeschoben hätte.

      Es musste nach Lage der Dinge eines Tages zwangsläufig zur Konfrontation kommen, dann jedoch am besten kontrolliert und nach den Regeln ihres Volkes. Den degenerierten Terranern würde entweder die Vertreibung vom Mars oder ein Leben in larvierter Sklaverei blühen, das hatte sie sich insgeheim auf die Fahnen geschrieben.

      »Der Mensch neigt anscheinend dazu, alles aufzuteilen und seinen vermeintlich gerecht erworbenen Anteil eifersüchtig zu bewachen«, meinte Zamor betrübt. »Bei uns richtet sich die Aufteilung in verschiedene Sektionen wenigstens nach einem sinnvollen System. Aber bei denen? Ost und West, Arm und Reich, Christentum und Islam, Nationalisten und Freigeister … da blickt doch keiner mehr durch.«

      »Du sprichst ein wahres Wort. Da überschneiden sich Grenzen, das macht das Wirrwarr aus egoistischen Intentionen und Machtspielen unübersichtlich. Dazu kommen noch die Folgen des Klimawandels, die einerseits wegen der selbst ausgelösten Erderwärmung, andererseits wegen geheimer Wetterexperimente des Militärs auftraten. Die massiven Unwetter verwüsteten ganze Landstriche, die Küstengebiete wurden zunehmend überflutet und somit unbewohnbar. Wie kann man so blind sein? Schließlich lebte der Großteil der terrestrischen Menschen bis dato in Städten am Meer!«, echauffierte sich Arden.

      »Geheime Wetterexperimente?«, wunderte sich sein Gefährte.

      »Ja, so krank das auch klingen mag. Wer das Wetter kontrolliert, kann seinem Feind über die Auswirkungen großen Schaden zufügen. Dürren, Überflutungen, Tornados – all das wurde bedenkenlos ausgelöst, um eigene Exporte in das betroffene Land zu steigern oder den Gegner militärisch zu schwächen, je nach Interessenlage. Sie setzten hierzu unter anderem innovative Mikrowellentechnik und Silberionen ein. Heimlich natürlich, um die Bevölkerung nicht auf die Barrikaden zu treiben. Man schob einfach alle Wetterkapriolen auf die unvermeidliche Erderwärmung. Kaum zu glauben, nicht wahr?«

      »Unfassbar. Und die Leute merkten wirklich nicht, was man da mit ihnen veranstaltete?«

      »Es wurden auf dem Wetterradar unerklärliche Phänomene gesichtet, die eher wie Bildstörungen aussahen. Über manchen Gebieten schien die Anzeige durch weiße Kreise überlagert zu sein; kurz darauf kam es dort prompt zu massiven Regenfällen. Zuerst wurden die kreisförmigen Strukturen über Australien gesichtet, weil dieser Kontinent nicht so stark mit dem Rest der Welt in diplomatische Querelen verstrickt ist. Man erkor ihn quasi als Testgelände aus. Außer den Unkenrufen von ein paar Verschwörungstheoretikern hat die Öffentlichkeit keine Notiz von den Vorgängen über ihren Köpfen genommen.«

      »Ich wiederhole: Unfassbar!«, kommentierte Zamor.

      »Das wahrhaft Erstaunliche daran ist, dass die Terraner um die Zerbrechlichkeit ihres ökologischen Systems wussten. Im Jahr 2030 haben sie die sogenannte DoomsdayClock auf eine Minute vor zwölf vorgestellt. Das ist die symbolische Uhr eines wissenschaftlichen Berichtsblattes über den Zustand der Welt, die der Öffentlichkeit verdeutlichen soll, wie groß jeweils das derzeitige Risiko einer globalen Katastrophe ist. Im Jahr 2015 stand sie noch auf fünf vor zwölf.«

      »Und das öffnete denen nicht die Augen, sondern man spielte sogar noch leichtsinnig an den Wettersystemen herum?«

      »Sie wussten es, Zamor, rannten mit offenen Augen in ihr Verderben. Die Belastungsgrenzen Terras wurden immer stärker tangiert. Sie hatten sogar einen Erdüberlastungstag festgelegt, und der trat jedes Jahr früher ein. Während die natürlichen, sich innerhalb eines Jahres regenerierenden Ressourcen Terras im Jahr 2016 noch Anfang August aufgebraucht waren, reichten sie 2030 lediglich bis Ende Juni. Ab diesem Jahr hätte man eigentlich bereits zwei Planeten von gleicher Größe und Beschaffenheit gebraucht, um eine ausreichende Lebensmittelproduktion zu gewährleisten sowie die Mittel für Wohnen und Brennstoffe zu gewinnen.

      Die Berechnung geht auf das Konzept des Ökologischen Fußabdrucks zurück, der besagt, wie viel Fläche benötigt wird, um sämtlichen Ressourcenbedarf inklusive der Energieversorgung zu stemmen. Die terrestrische Menschheit lebte also immer in der zweiten Jahreshälfte unbekümmert von den stillen Reserven Terras – bis diese eines furchtbaren Tages komplett aufgebraucht sein würden.«

      »Jedenfalls wäre das so gekommen, wenn sich die Erdbevölkerung nicht in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts wesentlich reduziert hätte.«

      »Nichts vorweg nehmen, lieber Zamor. Einen Schritt nach dem anderen. Wir müssen Jahr für Jahr akribisch durchsehen um zu erkennen, weswegen es so und nicht anders kam. Auch unser eigenes Volk hat einst ähnliche Fehler auf dem Mars begangen, weshalb er bis vor kurzem unbewohnbar gewesen ist. Dem Menschen scheint der eigene Untergang bereits in die Wiege gelegt zu sein … das Omega ist im Alpha verborgen, verstehst du? Dem Aufstieg folgt stets der Niedergang, das unabwendbare Ende. Es fragt sich nur wann – und auf welche Weise es kommt. Danach beginnt ein neuer Zyklus.

      Es geht mir auch nicht nur um diesen Komplex. Wir haben in demselben Zeitraum ebenso zu studieren, wie die Europäische Union sich langsam auflöste, wie die Verhältnisse in Amerika sich Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts entwickelten und was in Syrien, der Türkei und in Korea vor sich ging. Wir dürfen keinesfalls terrestrischen Medienberichten oder gar der offiziellen Geschichtsschreibung trauen, sondern müssen uns mit dem gesunden Menschenverstand ein eigenes Bild von Ursache und Wirkung machen.

      Die Verantwortung lastet schwer auf meinen Schultern. Schon die allerkleinste Fehlinterpretation kann unsere impulsive Alanna zu weitreichenden Schritten treiben«, warnte Arden seinen in Violett gekleideten Schreiber und Geliebten. Manchmal verleitete Zamors Jugend ihn zu unangebrachter Oberflächlichkeit.

      *

      Über dem Regentenpalast gingen die zwei Monde Tiberias auf, das Zentralgestirn versank hinter dem Horizont. Für das jüngste Mitglied der Marsdynastie neigte sich damit der Tag dem Ende zu. Regent Kiloon geleitete seine sechsjährige Tochter in ihr Schlafgemach. Er konnte nur wenig Zeit mit ihr verbringen, doch das allabendliche Ritual ließ er sich nicht nehmen.

      Behutsam hob er die jüngere der beiden Alannas in ihre ovale Schlafkoje aus transparentem, zartgelbem Plantolaan. Kaum reagierte der im Boden verbaute Sensor auf ihr Gewicht, ertönte ein kaum vernehmbares