Andrea Ross

Operation Terra 2.0


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Mittlerweile ist es lebensgefährlich, sich in die Bahnhöfe der TransrapidMagnetbahn zu wagen. Erst neulich ist mein Arbeitskollege Erik an der Station Alexanderplatz halb tot geprügelt worden.«

      Swetlana gingen vorläufig die Argumente aus. Sie seufzte resigniert, entfernte sich schmollend.

       Terra, 24. Dezember 2116 nach Christus, Donnerstag

      

      Am späten Vormittag wurden vier Rollen, allesamt in Raumhöhe, bei der Wohnung der Emmersons angeliefert. Swetlana hatte das Sonderangebot des Elektro großmarkts genutzt und, ohne das Einverständnis ihres Ehemanns einzuholen, auf Pump eine halbwegs erschwingliche Mediatapete geordert. Zwei kräftige MegatechMänner schleppten die silbrig glänzenden Rollen fluchend das Treppenhaus hinauf bis zum siebten Stockwerk. In den Aufzug passten die sperrigen Dinger nicht hinein.

      Philipp wollte drei Stunden später vor Wut schier platzen. Noch stand er mit gezückter Chipkarte vor der Wohnungstür, aber schon von hier draußen vernahm er überdeutlich die charakteristische Geräuschkulisse einer Nachrichtensendung, die immer wieder von Werbeeinblendungen unterbrochen wurde.

      Neuerdings waren die Fernsehanstalten dazu übergegangen, selbst die Informationen über das Weltgeschehen mit, scheinbar bestens zum jeweiligen Thema passenden, Werbespots zu durchbrechen. Lief beispielsweise ein Beitrag zu den Gefahren der Privatisierung der öffentlichen Wasserversorgung, wurde gleich danach ein besonders reines Mineralwasser angepriesen.

      Der Berichterstattung über den erneut ausgebrochenen Krieg zwischen Nord- und Südkorea folgte ein holografisches 3D-Game, mit dem man haargenau diesen Konflikt spielerisch im heimischen Wohnzimmer nachvollziehen konnte; so realistisch, als befände man sich tatsächlich im Kriegsgebiet.

      Philipp zog die Karte durch den Schlitz und wartete zwei Sekunden, bis die Kontrollleuchte grünes Licht zeigte. Er atmete tief durch und betrat mit gerunzelter Stirn seine Miniwohnung. Swetlana sah ihn gar nicht kommen, denn sie übte sich vor der riesigen Bildfläche in Gestensteuerung.

      Er tippte ihr auf die Schulter. »Hör mal, musst du mir diesen Tag vollends vermiesen? Es reicht mir schon dicke, dass ich heute ab 18 Uhr Bereitschaft für das Klärbecken aufgedrückt bekommen habe. Wer weiß, was die Leute am Weihnachtsabend wieder alles ins Klo schmeißen!

      Zusätzlich kann ich mir hier im Haus den Hintern aufreißen. Manche Dinge ändern sich eben nie, jedes Jahr dasselbe Theater. Abfackelnde Weihnachtsbäume, Selbstmordkandidaten, tätlich ausgetragene Familienkonflikte … ich könnte kotzen, wenn ich an das letzte Weihnachtsfest zurückdenke. Und zur Krönung des Ganzen bugsierst du uns mit dem verdammten Ding da ins finanzielle Abseits. Eigentlich könnte ich ja gleich aus dem Fenster springen!«

      Swetlana strahlte immer noch, schloss Philipp anstelle einer Erwiderung in die Arme. Er vermochte die merkwürdige Reaktion nicht einzuordnen, blieb hölzern stehen.

      »Nun rege dich bitte wieder ab, mein Schatz. Wir haben heute auf jeden Fall Grund zum Feiern. Zum ersten Januar werde ich eigenes Geld verdienen. Die Hausverwaltung hat mir eine Putzstelle verpasst. Ich säubere in Zukunft unser Treppenhaus. Also können wir uns diese Mediawand durchaus leisten. Na, was sagst du?«

      Philipp war immer noch nicht zum Lachen zumute, doch er liebte seine Frau. Also schluckte er die Bemerkung, dass man üblicherweise zuerst Geld verdiente und es dann erst ausgab, im letzten Moment hinunter.

      »Na schön … wenn das Ding nun mal da ist, sehe ich mir jetzt den Rest der Nachrichten an«, meinte er augenzwinkernd. Gemeinsam setzten sie sich auf die verschlissene Couch.

      » … scheint dank der Mikrorobotik nun endlich der finale Coup gegen die Terrormiliz IS gelungen zu sein. Ferngelenkte Nanodrohnen in Wespenform spritzen den Führungspersonen hochwirksames Nervengift unter die Haut, worauf sie in fürchterlichen Zuckungen einen grausamen Tod sterben. Mittlerweile finden sich für höhere Positionen kaum noch Kandidaten. Dem Dschihad geht allmählich der Nachschub aus«, vermeldete der geschniegelte Nachrichtensprecher.

      »Na endlich. Lange genug hat es gedauert«, knurrte Philipp schadenfroh. Die zugehörigen Bilder flimmerten in brillanter Qualität über die Tapete. Ein bärtiger Araber mit Turban und Maschinengewehr hauchte soeben schlotternd und sabbernd sein Leben aus. Fast meinte man, der Islamist würde inmitten des Wohnzimmers verenden, so täuschend echt wirkten die dreidimensionalen Aufnahmen.

      Unvermittelt erschien eine überdimensional große Tablettenpackung auf der Bildfläche. Eine schmale, top manikürte Frauenhand reichte sie quasi aus der Tapete.

      »Die lang ersehnte Rettung für Epileptiker – garantiert ohne lästige Nebenwirkungen. Gleiter fliegen, zum Mars reisen, an Maschinen arbeiten, pure Lebensqualität genießen … mit diesem innovativen Medikament wird das künftig kein Problem mehr sein«, versprach eine säuselnde weibliche Stimme.

      *

      Sechs Monate später flimmerte eine Werbung der besonderen Art über die oft und gern genutzte Wundertapete. Sie wurde von der Bundesregierung in Kooperation mit der Europäischen Union und der ESA ausgestrahlt, entsprechend plakativ in Szene gesetzt.

      Man sah eine attraktive Frau mittleren Alters, die lächelnd in einem kleinen Gemüsegarten stand. Im Hintergrund leuchtete ein Wohnmodul aus weiß glänzendem Kunststoff, das sich kontrastreich gegen den blauvioletten Himmel abhob. In einiger Entfernung erkannte man schroffe rötliche Bergkämme.

      »Wollen Sie der Enge der Großstadt entkommen, Stress und Hektik entsagen, Ihrem Leben eine vollkommen andere Ausrichtung geben? Wir bieten Ihnen ein einfaches, aber zufriedenes Leben in dieser faszinierend neuen Welt. Kontaktieren Sie uns! Sollten sich mehr als tausend geeignete Bewerber aus Europa und den USA für das Siedlungsprojekt bei uns melden, entscheidet das Los«, verkündete der adrette junge Sprecher, während die Kamera langsam durch das Modell der im Schachbrettmuster angelegten Siedlung schwenkte. In Wirklichkeit waren die weißen Plastikmodule wohl noch im Bau. Mailadresse und Telefonnummer der für Europa zuständigen Sondierungsbehörde wurden eingeblendet.

      Philipp Emmerson notierte beides. Was für eine angenehme

      Vorstellung … keine Kläranlage, keine unangenehmen Mieter mehr, die er zufriedenstellen müsste. Swetlana und er könnten endlich in einem eigenen Haus wohnen, bräuchten sich nur noch um das Gärtchen und ein paar Wartungsarbeiten kümmern. Ade Überbevölkerung, ade eiskalter Kapitalismus. Auf dem Mars wurden einem die benötigten Waren kostenfrei zur Verfügung gestellt, Nahrung konnte man zum Teil selbst anbauen. Der Rest wurde halbjährlich mit Raumfrachtern angeliefert. Ein reguliertes Leben wie im Sozialismus, der in diesem Fall jedoch wohl kaum von macht- und geldgierigen Funktionären korrumpiert wäre. Natürlich … es handelte sich um ein Pilotprojekt zur Marsbesiedlung, das nicht völlig frei von unwägbaren Gefahren sein würde – aber lebte man denn in diesen Tagen auf der Erde sicher und komfortabel? Nein, beileibe nicht.

      Swetlana, die neben ihm saß, erahnte seine Gedanken. »Du denkst ernsthaft darüber nach, nicht wahr? Man muss natürlich im Hinterkopf behalten, dass es ein One WayTicket wäre. Bist du einmal oben, kommst du nie mehr zurück zur Erde. So lauten die Bedingungen. Auch müssten wir uns zuvor umfangreichen Psychotests und körperlichen Untersuchungen unterziehen. Sie nehmen für dieses Siedlungsprojekt nur absolut gesunde Menschen, was ja auch Sinn macht. Sie begründen schließlich eine neue Zivilisation.«

      »Schon klar. Aber stelle dir doch vor, welch ein Abenteuer das wäre! Man kann auf dem Mars inzwischen ganz normal atmen, die kosmische Strahlung ist akzeptabel. Man benötigt nur handelsübliche Cremes mit Lichtschutzfaktor. Der Planet ist inzwischen sehr wasserreich, es gibt bizarre, unerforschte Landschaften zu entdecken. Also mich reizt der Gedanke sehr, dass wir beide demnächst als Pioniere dorthin ziehen könnten. Und dort wäre es wahrscheinlich sogar möglich, ein Kind in die Welt zu setzen, einen kleinen Marsmenschen«, lockte Philipp, nicht ohne Hintergedanken.

      Seine Frau war sofort Feuer und Flamme. Wie oft hatte sie ihren Kinderwunsch aufgeschoben, weil die finanzielle Situation zu prekär gewesen war. Ihre biologische Uhr tickte.