noch Maschinen starten können. Vulkanasche kann die Triebwerke der Jets lahmlegen.«
Am Nachmittag, etwa fünf Stunden nach dem Beginn des Ausbruchs, war Neapel mit einer mehr als fünfzig Zentimeter dicken Schicht vulkanischen Materials bedeckt, und die Dächer der halbverlassenen Stadt begannen einzubrechen. Der leer geschossene Schlot des Vulkans stürzte mehrfach ein und wurde anschließend durch heftige Explosionen wieder freigeräumt. Die AscheEruptionen steigerten sich, in der Stadt fiel der Strom aus. Kalmes und Solaras hatten ihre dünnen Sommerjacken über die Köpfe gezogen, atmeten durch Papiertaschentücher.
Gegen Mitternacht, etwa zwölf Stunden nach dem Beginn, erreichte die erste Eruptionsphase ihren Höhepunkt. Sie war von heftigen vulkanischen Erdbeben begleitet, die viele Häuser vollends zum Einsturz brachten. Ein wolkenbruchartiger Eruptionsregen an der Westflanke des Feuer speienden Vulkans verwandelte die scharfkantigen Aschepartikel in zerstörerische Schlammströme, auch Lahare genannt. Sie ergossen sich zu Tal und vernichteten alles, was in ihrem Weg lag.
Ein erster pyroklastischer Strom überrollte mit achthundert Stundenkilometern den Südosten Neapels und tötete zahlreiche Menschen, die am Ufer der Bucht Schutz gesucht hatten. Alle verfügbaren Boote waren gleich zu Beginn der Katastrophe in See gestochen, um dem Feuerinferno zu entkommen. Die zurückgebliebenen Leute saßen in der Falle, vor sich den tobenden Vulkan und hinter sich die aufgewühlte See. Beim schweren Ausbruch im Jahr 79 nach Christus war Ähnliches im benachbarten Herculaneum geschehen – nur mit erheblich weniger Menschen.
Der Zusammenbruch der Eruptionssäule generierte mehrere Phasen. Er erzeugte fünf mit schwerem Material stark gesättigte, glühend heiße Ströme, deren schiere Wucht die aus den Fallablagerungen herausragenden Häuser zerstörte und den allerletzten Überlebenden im östlichen Teil Neapels und den Dörfern rings um den Krater den schnellen Tod brachte. Die Ausgrabungsstätte von Pompeji erlebte ein schreckliches Déjàvu.
Solaras und Kalmes waren über die Via Arenaccia und die Calata Capodichino in Richtung des Internationalen Flughafens geflüchtet. Um sie herum tobte ein Meer aus Fahrzeugen, zusammenbrechenden Gebäuden und aschgrauen Menschen, die kraftund ziellos umherirrten. Es gab auch zu Fuß nahezu kein Vorwärtskommen. Verlassene Autos standen mit offenen Türen mitten auf der Fahrbahn, die mittlerweile mehr an einen unstrukturierten Parkplatz erinnerte.
Die Zufahrt zum Flughafen kam im Morgengrauen in Sicht. Als die erschöpften Tiberianer dort voller Entsetzen feststellen mussten, dass der Flugbetrieb längst eingestellt war und das Passagierterminal, verlassen und seiner riesigen Fensterscheiben beraubt, nutzlos und völlig verwaist im gelblichen Zwielicht des Ascheregens lag, brach Kalmes weinend zusammen. Solaras kniete sich entkräftet neben sie, barg ihren Kopf in seinen Armen. Zärtlich strich er ihr mit einem Ärmel seines Hemdes den schmierigen grauen Belag vom Gesicht. Rehbraune, von Lachfältchen umgebene Kulleraugen sahen ihn forschend an.
»Bereust du, dass wir von Tiberia geflüchtet sind? Dort gäbe es keine Vulkane und auch keine Erdbeben«, fragte er.
»Nein. Wenn es so kommen soll, sterben wir hier eben zusammen. Ich liebe dich bis zu meinem Lebensende, das habe ich dir geschworen. Wenn es sein muss, auch jetzt gleich. Wir sind frei, Solaras, und wir kannten das Risiko. Am Ende muss man hier auf Terra immer bezahlen, das habe ich gelernt.«
Der sechste und zugleich letzte pyroklastische Strom bäumte sich in diesem Moment drohend hinter dem Flugfeld auf. Er überrollte nur Sekunden später als mächtige todbringende Glutwalze die beiden Liebenden.
Terra, 01. März 2051 nach Christus, Mittwoch
Thomas Maier saß nach seiner Augenoperation wieder den ersten Tag vor der riesigen, leicht gebogenen Plexiglasfläche, auf der sich, jetzt gestochen scharf, das Bild einer Marslandschaft erstreckte. Er hatte sich nach dem Willen seiner Ehefrau Sheila lasern lassen müssen, um seine altmodischen, dicken Brillengläser endlich loszuwerden. Das jahrzehntelange, angestrengte Starren auf herkömmliche Bildschirme hatte seinen Tribut gefordert.
Aktuell befanden sich acht Rover verschiedener Bauart auf der Marsoberfläche. Noch immer war das ideale Gefährt für Einsätze auf dem Roten Planeten nicht gefunden. Seit man dort regelmäßig Regenfälle verzeichnete, mussten die Dinger auch auf schlammigem Boden souverän zurechtkommen. Was besonders für bemannte Missionen galt.
Bei der fehlgeschlagenen NASA/ESAMarsmission Stepstone von 2038 waren zwei der Astronauten ums Leben gekommen, weil deren Fahrzeug an einem steilen Hang abrutschte, sich mehrfach überschlug und in einen Krater stürzte. Die beiden verunglückten Männer hatten auf dem Heimflug gefehlt, so dass der Rest der Crew mit der aufwändigen Routine an Bord überfordert gewesen war. Die übrigen zwei Männer und drei Frauen bezahlten das menschliche Versagen mit ihrem Leben.
Noch heute flog die Raumkapsel mit ihren fünf toten Insassen ohne Treibstoff durch die Weiten des Alls. Ein sehr unangenehmer Gedanke. Es verging kein einziger Tag, an dem Maier sich nicht bittere Vorwürfe machte, weil er sich selbst eine kleine Teilschuld anrechnete. Vielleicht wäre das Unglück zu vermeiden gewesen, wenn er rechtzeitig andere Kommandos gegeben hätte …
Ein junger Kollege riss ihn unsanft aus seinen schwermütigen Überlegungen. »Stimmt es, was ich heute früh auf dem Flur aufgeschnappt habe? Du willst heuer noch in Rente gehen?«
Maier drehte sich gemächlich auf seinem altersschwachen Bürostuhl um. Das gut dreißig Jahre alte Möbelstück knarzte und ächzte unter seinem Gewicht. Thomas Maier weigerte sich seit Jahren, einen der moderneren und wirbelsäulenfreundlichen Sitzbälle anzufordern. Er galt bei der ESA als verschrobenes Urgestein, das sich Innovationen meist verschloss und mit altbackenen Klamotten umher lief. Alles Moderne beäugte er skeptisch – es sei denn, es ging um Technik.
»Von Wollen kann gar keine Rede sein. Man hat es mir … sagen wir, nahe gelegt, und Sheila piesackt mich auch andauernd. Es wäre besser für meine Gesundheit, meint sie.«
»Da hat sie nicht ganz Unrecht. Dir fehlt Bewegung, wie man sieht. Bald können wir dich rollen«, grinste Will Urban.
Thomas Maier hatte noch nie zu den Schlanksten oder Sportlichsten gehört. Doch mittlerweile hatte sein Körper Ausmaße angenommen, die an ein fettes Nilpferd erinnerten. Dazu gingen ihm die Haare aus, nur ein dünner Kranz zog sich wie ein nach unten verrutschter Heiligenschein um seinen Hinterkopf. Dafür sprossen ihm dichte Haarbüschel aus Nase und Ohren, und sein ergrauter Vollbart reichte ihm bis auf die Brust.
»Komm du nur erst mal in mein Alter. Hundertfünfzig Kilo sind dann noch das Harmloseste, was du mit dir herumschleppen musst«, gab er milde lächelnd zurück. Er drehte sich um und richtete den Blick wieder auf die Plexiglasfläche. In der Mitte zeigte ein großes Bild die CydoniaRegion, während die sieben kleineren Ausschnitte rundum das übertragene Bildmaterial der anderen Rover wiedergaben.
Urban trat einen Schritt näher heran, kniff beide Augen zu Schlitzen zusammen. Kannst du mal auf Bild 4 umschalten? Ich habe da was Seltsames gesehen … bin nicht sicher, aber das sah wie eine Pyramide aus.«
»Ausgerechnet in der unwegsamen Xanthe Terra–Region? Eher unwahrscheinlich«, brummte Maier ungläubig, kam dem Wunsch aber nach.
»Potzblitz! Du könntest Recht haben. Der Laufrover Arachnon wird von Britt Ballwitz gesteuert. Du weißt schon, die rothaarige NASATante mit den Nippelringen, die man immer so schön durch das TShirt sehen kann. Könntest du schnell hinüber laufen und ihr sagen, dass sie das spinnenbeinige Ding weiter Richtung Nordost tappen lassen soll?«
»Wird erledigt!« Urban verschwand auf dem Flur.
Zehn Minuten später kam er zurück, seine grasgrünen Augen versprühten Funken. Thomas Maier bemerkte es gar nicht, er klebte mit der Nase an der Scheibe.
»Eindeutig von Menschen hergestellt, keine Frage. Endlich, wir haben so lange nach halbwegs erhaltenen Bauwerken der früheren Marskultur gesucht«, murmelte er erregt.
»Ich glaube nicht, dass diese