er überlegt, was sein Halbbruder wohl genau gemacht hat, um den sonst so freundlichen Jost aus der Fassung zu bringen.
„Ja, aber er hat sich später bei ihm entschuldigt“, sage ich eilig.
„Leider hat Ramón ihn zu sehr provoziert. Ramóns Unfähigkeit zu erkennen, dass er etwas Falsches getan hatte und die Angst um ihn, ließen José die Kontrolle verlieren.“
„Mama, ich habe Angst, dass er es wieder tun könnte“, sagt Juanita leise.
Alarmiert blicke ich auf. Blufft sie, bringt es ihr Spaß, mich zu testen?
Aber sie sieht mich ängstlich und ernst an.
„Juna“, sage ich eindringlich, „du musst uns unbedingt Bescheid geben, wenn du vermutest, dass Ramón sich wieder mit den falschen Leuten eingelassen hat.
Damals behielt er nur die Narben am Rücken und am Arm von der ‚Polizeibefragung‘ zurück, aber würde er heute nochmals die gleichen Fehler begehen wie damals, würde er nicht nur ins Gefängnis kommen, sondern sich auch seine gesamte Zukunft zerstören.“
JOST
Mit schnellen Schritten laufe ich Valeska hinterher und hole sie an der Haustür ein, wo sie kurz stehenbleibt. Sie überlegt wohl, ob sie in ihr Zimmer oder gleich nach draußen gehen soll.
„Schatz“, sage ich hilflos. „ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut!“
„Aha, es tut dir leid?! Was denn? Das du 19 Jahre geschwiegen hast und dich ans Ende der Welt zurückgezogen hast?
Dass du nicht den Mumm hattest, es mir zu erzählen, als ich größer war?!
Wann wart ihr in Deutschland?“, will sie wütend wissen.
„Vor drei Jahren“, sage ich beschämt.
„Aha, ihr hieltet mich also mit 16 für unfähig, die Wahrheit zu verstehen und zu ertragen?!
Was seid ihr nur für feige Menschen und du vorneweg!“
„Valeska, bitte, ich verstehe deine Wut, aber bitte beruhige dich und lass uns in Ruhe miteinander reden!“
„Es tut mir weh, dass alle Bescheid wussten, außer ich!“
Nun strömen die Tränen über ihre Wangen. Ich versuche, sie in den Arm zu nehmen, aber sie entwindet sich meiner Umarmung und sagt im Gehen: „Sorry, Jost, ich kann nicht. Du hast nicht das Recht, mich zu trösten. Ich gehe jetzt eine Weile spazieren. Ich hole nur schnell meine Jacke und dann bin ich weg. Mein Handy würde ich gerne mitnehmen, aber es funktioniert in dieser elenden Pampa ja nicht.“
Ich bin getroffen von ihren Worten, die mir die Kehle zuschnüren.
Alles, was ich herausbringe ist: „Warte einen Augenblick. Die deutschen Handys funktionieren hier nicht. Ich hole dir eines von unseren Handys. Ich habe gerade eine neue Karte dafür gekauft. Da sind auch schon meine Nummer und die von der Estancia drauf. Du kannst es während deines Aufenthaltes hier benutzen.
Wenn etwas ist, ruf bitte an. Ich komme dich dann mit dem Auto abholen.“
„Nein danke, ich komme schon zurecht. Aber das mit dem Handy ist cool. Danke!“
Sie stapft nach oben und ich hole das Telefon.
„Hast du Wasser dabei?“ – „Claro.“
Dann schaue ich ihr nach, wie sie in ihrer dunkelblauen Cordjacke und dem roten Rucksack über unser Gelände läuft und den Weg zum Flusslauf einschlägt.
VALESKA
Nach einem dreistündigen Spaziergang mit einer kleinen Rast durch die wunderschöne grüne und blütenreiche Landschaft rund um die Estancia kehre ich wieder zurück. Als das Wohnhaus in Sicht kommt, zögere ich. Ich möchte Jost und Isa nicht schon jetzt begegnen.
Tatsächlich hat mich der lange Spaziergang in der Ruhe der Natur wieder etwas beruhigt. Auch wenn ich zuerst tränenblind und schluchzend loslief. Da mir aber niemand begegnete und ich auch niemanden hier kenne, ist es mir echt egal.
Als mein Blick auf den Pferdestall fällt, beschließe ich spontan, dort reinzugehen und mich in den weichen Heuhaufen zu setzen. Ich habe ein Buch mit und möchte endlich die SMS an meine Freundinnen und Freunde schreiben.
Bei Jola und Hugo habe ich mich heute Morgen gemeldet.
Zufrieden lasse ich mich in den Heuhaufen plumpsen, dessen komfortable Eigenschaften ich schon am Vorabend unfreiwillig testen durfte.
Die SMS sind schnell verfasst, obwohl ich es immer noch etwas mühselig finde, so eine Textnachricht zu tippen.
Sie ähneln sich im Großen und Ganzen und haben diesen Text: „Ich bin gut am Ende der Welt angekommen. Hier ist ein warmer Winter – ca. 20°C.
Gestern habe ich meinen biologischen Papa kennengelernt. Dabei auch erfahren, dass ich neben den zwei Halbgeschwistern auch einen Stiefbruder habe, mit dem ich zum Glück nicht verwandt bin!
Heute emotionaler Tag – die Sache nimmt mich schon noch mit. Bis bald in DE! Val“
Anschließend lese ich meinen neuen Krimi von John Grisham.
Hufgetrappel und lachende Männerstimmen schrecken mich eine Stunde später aus meiner Lektüre auf.
Ehe ich noch mein Buch zur Seite legen kann, kommen Ramón und drei der „Gauchos“ in den Stall.
„¡Dios mío, Valeska! Was machst du hier?“, fragt Ramón überrascht.
Ich stehe schnell auf und zupfe mir etwas Heu aus meinen Klamotten.
„Ich wollte das gemütliche Heuhotel ausprobieren“, versuche ich zu scherzen.
Ramón übergeht diesen hilflosen Versuch meinerseits, meine Peinlichkeit zu überspielen und stellt in einer Mischung aus Spanisch und Englisch seine Begleiter vor.
„Das sind Luis, Sebastiano und Matteo, hervorragende Männer, die viel von ihrer Arbeit verstehen.
- Compañeros, esta es la hija alemana de José, Valeska.“
Alle drei geben mir höflich die Hand. Luis ist wohl um die 40, hager, mit freundlichen runden braunen Augen. Sebastiano schätze ich auf Mitte 30, er trägt einen Dreitagebart und eine verschmitzte Miene zur Schau. Matteo ist mit seinen ca. 25 Jahren der Jüngste. Sein jungenhaftes Gesicht wird von neugierig schauenden grünen Augen und einer markanten Nase dominiert.
Alle drei tragen die typischen Lederhosen der Viehhirten, mit denen man einen Tag auf dem Pferd ohne große Blessuren überstehen kann. Dazu haben sie T-Shirts und leichte Jacken an.
Ramón hat sich dieser Arbeitskleidung angepasst, wirkt aber mit seiner olivfarbenen Haut fast blass gegen die wettergegerbten Gesichter der Männer.
Die „compañeros“ mustern mich neugierig und Sebastiano sagt etwas zu Ramón, das großes Gelächter auslöst. Ramón hat die Neckerei, die sich eindeutig auf ihn und mich bezog, gutmütig aufgenommen und verabschiedet sie mit einem freundlichen
„¡Adiós, hasta mañana!“.
Dann wendet er sich mir zu, während sein Blick mich genauer erfasst: „¿Por qué has llorado?“, erschrocken beugt er sich zu mir herunter und streicht mir über die Wangen.
Dann nimmt er mich in den Arm und sagt auf Deutsch: „Du sollst nicht weinen, Liebes.“
Ich lasse mich von ihm trösten, es tut gut, denn trotz allem ist er die neutralste Person in dieser Geschichte.
Ich drücke noch ein paar Tränchen heraus, als ich Ramón den Grund meines Kummers erzähle.
„Du musst dir mehr Zeit geben, das ist alles zu viel für dich“, meint er freundlich.
„Ich verstehe nur nicht, warum Jost mich nie kontaktiert hat, als ich etwas älter war. Warum hat keiner den Mut aufgebracht,