Wetter konnte man bis zum Long Island Sound sehen. Der Blick wurde nur durch den einen oder anderen Wolkenkratzer gestört, der das Majestic an Höhe übertraf.
"Wissen Sie, was der Große Alte immer sagte?", fragte Neverio. "Das ist meine Stadt. Hier bin ich der King! Zurzeit könnte ich das sagen. Und ich werde nicht zulassen, dass der Alte wieder das Ruder im Scarlatti-Clan übernimmt."
"Er hätte in Marokko seinen Lebensabend genießen sollen", fand Robbie.
Neverio nickte. Seine Miene wurde düster. Er ballte die Hände zu Fäusten. "Der alte Sack soll nicht glauben, dass er hier in New York die Zügel wieder in die Hand bekommt! Niemals!"
27
Die Pizzeria "Napoli", 456 Washington Lane in Paterson, New Jersey, gehörte George Bucci. Bucci war ein Großneffe des "großen Alten" aus Marokko. Deshalb vertraute Tony Scarlatti ihm. Sich in Little Italy zu zeigen, war Scarlatti zu riskant. Aber in Paterson erinnerte sich bestimmt niemand an sein Gesicht, dass er darüber hinaus mit Hilfe eines Maskenbildners stark verändert hatte. Das graue Haar war schwarz gefärbt. Scarlatti hatte sich einen Bart stehen lassen, der ebenfalls schwarz gefärbt war. Da der "Große Alte" ein relativ fülliges, faltenloses Gesicht hatte, wirkte er zwanzig Jahre jünger als er war.
Zusammen mit seinem Gefolge von insgesamt fünf Leibwächtern betrat er die Pizzeria. Zwei der Männer ließ er im Vorraum warten. "Sorgt dafür, dass wir nicht gestört werden!", befahl er. Scarlatti hatte Bucci darum gebeten, das "Napoli" um diese Zeit für andere Gäste zu schließen. "Geschlossene Gesellschaft", stand daher an der Eingangstür.
Mit den drei restlichen Gorillas betrat Tony Scarlatti den Schankraum.
Ray Neverio hatte bereits an einem vornehm gedeckten Tisch Platz genommen.
Zwei Bodyguards flankierten ihn links und rechts.
Scarlatti blieb kurz stehen, musterte seinen Neffen Ray.
"Ciao, Ray!"
"Ciao, Onkel."
"Du siehst gut aus. Deine italienischen Anzüge sitzen wie angegossen!"
Ray erhob sich, ging auf seinen Onkel zu und umarmte ihn.
"Du kannst gar nicht sagen, wie es mich freut, dich hier gesund und munter anzutreffen. Allerdings war es ein unnötiges Risiko. Wir hätten uns genauso gut in Marokko - oder sonst wo in der Welt treffen können!"
"Das sehe ich leider anders, Ray."
Tony Scarlatti setzte sich. Er ließ sich dabei von Ray Neverio Stuhl zurechtrücken. Anschließend rief Neverio nach George Bucci. "Wo bleibst du, George? Wir haben Hunger!"
Neverio setzte sich inzwischen ebenfalls.
Bucci kam mit einem Tablett herbei.
Scarlatti misstraute jeglichem Personal, das nicht zur Familie gehörte. Daher war der Besitzer des "Napoli" heute allein für alles zuständig. "Eine Pizza Scarlatti - Spezialzusammenstellung für dich, Onkel Tony! Genau so, wie du sie immer gegessen hast."
"Mit entkernten Oliven und nicht zuviel Oregano?", fragte Scarlatti.
"So, wie du es kennst."
"Mille grazie."
Nachdem George Bucci beiden Männern serviert und auch den Wein gebracht hatte, schnipste Scarlatti mit den Fingern. Er wandte sich damit an die Bodyguards auf beiden Seiten der Tafel. "Los, verzieht euch in die Küche. Ich habe mit Ray unter vier Augen zu reden."
Neverios Männer zögerten. Als ihr Boss mit einer Handbewegung die Anweisung des "Großen Alten" bestätigte, gehorchten sie.
"Ich hätte dich kaum wieder erkannt", gestand Ray Neverio, nachdem sie allein waren.
Tony Scarlatti verzog das Gesicht. Er bleckte die Zähne wie ein Raubtier.
"Ich dich ebenfalls nicht", versetzte er schneidend. Er nahm einen Schluck Wein, begann von der Pizza zu essen. Schließlich fuhr er fort: "Du hast Jacks Ermordung als günstige Gelegenheit gesehen, die Zügel hier in New York an dich zu reißen", murmelte er kauend.
Neverio wollte widersprechen. "Onkel Tony, ich.."
"Widersprich mir nicht. Ich habe meine Augen und Ohren überall. Und soll ich dir was sagen, Ray? Ich befürworte es sogar, wenn mein Statthalter im Big Apple die Zügel fest in der Hand hat. Aber zwei Dinge gefallen mir nicht. Erstens hast du mit deinem Krieg gegen die Ukrainer entschieden übertrieben. Man radiert die Konkurrenz nicht völlig aus. Man bringt einige ihrer Leute um und einigt sich dann. So läuft das Spiel!"
"So lief das Spiel früher, Onkel Tony!", erwiderte Ray Neverio eiskalt.
"Das zweite, was mir missfällt ist, dass du Gelder unterschlägst. Ich kann Betrüger nicht leiden, Ray. Und ich hätte niemals gedacht, dass sich dein Gesicht zur hässlichen Fratze eines Betrügers wandeln würde, sobald die Gelegenheit dazu vorhanden ist."
Neverio lächelte amüsiert. "Was hast du vor?"
"Ich werde eine große Versammlung aller Capos einberufen und die Organisation neu ordnen. Du, mein lieber Neffe, wirst dabei keine Rolle mehr spielen."
Ray Neverio lachte heiser. "Irrtum, Onkel. Umgekehrt wird ein Schuh daraus! Du wirst keine Rolle mehr im Big Apple spielen. Es wird dich niemand vermissen. Offiziell bist du ja auch gar nicht hier..." Er beugte sich vor, fixierte Tony Scarlatti mit seinem eisigen Blick. "Unser gemeinsamer Vertraute George Bucci, den du für ach so integer hältst, war mir noch einen Gefallen schuldig. In der Pizza und dem Wein, die gerade genossen hast, ist eine schwer nachweisbare Substanz, die dich innerhalb der nächsten 24 Stunden dahinraffen wird..."
Scarlatti hörte zu kauen auf. Er wurde blass.
"Das ist nicht ein Ernst, Ray!"
"Ciao, Onkel! Du hättest niemals wieder amerikanischen Boden betreten sollen!"
Der "Große Alte" erstarrte.
Einen Sekundenbruchteil später griff Scarlatti unter die Jacke. Er riss eine Automatik hervor, feuerte sofort.
Für Neverio blieb keine Zeit um zu reagieren.
Die Wucht des Projektils riss ihn zu Boden.